Buch lesen: «NOVA Science-Fiction 30», Seite 3

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Nachbemerkung des Autors

Eine Erläuterung zur Story »Das lange Jahr der kurzen Tage« zu verfassen, ist einfach. Die antiklerikale Tendenz ist offenkundig. Wer mich kennt, weiß genau, dass ich ein entschiedener Gegner aller Religionen und ihrer Organisationen bin. Wenn ich sie thematisiere, kann ich ein Zitat des bedeutenden Kirchenkritikers Karlheinz Deschner für mich reklamieren: »Ich schreibe aus Feindschaft.«

Mit den wenigen Zeilen, die Nova mir zugesteht, kann keine umfangreiche Begründung abgegeben werden. Deshalb verweise ich, was das Christentum angeht, auf Werke wie Jean Mesliers Testament, Otto von Corvins Pfaffenspiegel, Deschners zehnbändige Kriminalgeschichte des Christentums und Heinz-Werner Kubitzas Der Jesuswahn.

Doch in Wahrheit wissen wir um das Abstoßende alles Religiösen auch aus eigenem Erleben. Wer kennt sie nicht, diese Weiber, die quäken: »Aber man muss doch an etwas glauben!« An einen Aberglauben? Warum denn? Will man an etwas glauben, dann doch am sinnvollsten an sich selbst. »Die Kritik der Religion«, schrieb Karl Marx 1844, »endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« Ähnliches vertrat Ludwig Feuerbach: »Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen, so muss auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein.«

Und wer kennt nicht die salbungsvollen Schwätzer, die behaupten, die Kirchen täten »doch so viel Gutes«? Aber ihre karitativen Institutionen finanziert der säkulare Staat, der Steuerzahler, und dabei beharren die Kirchen auf eigenem Arbeitsrecht – bilden einen Staat im Staate –, kassieren zusätzlich Kirchensteuer und sammeln Spenden. Sie indoktrinieren Kinder und Schüler mit erlogenem Unfug. Sollen wir dafür dankbar sein? Warum denn?

Religionen haben nie etwas Gutes getan und tun es bis heute nicht. Schauen wir uns um. Der polnische Präsident Duda beschreit die katholische Familientradition und pöbelt, unterstützt durch faschistische Horden, gegen sexuelle und andere Nonkonformisten. In Brasilien terrorisiert die klerikalfaschistische Bolsonaro-Despotie das Land mit der neokonservativen Familie-Patriotismus-Nationalismus-Ideologie evangelikaler Kirchen – denen Bolsonaro 4,9 Millionen Euro für Medienpropaganda zugeschanzt hat –, kombiniert mit einem volksfeindlichen ökonomischen Neoliberalismus-Projekt, das auf die Atomisierung aller Sozialstaatlichkeit abzielt. Was die USA betrifft, kann Trumpelstilzchen ohne evangelikalen Hintergrund gar nicht verstanden werden. Bolivien: »Übergangspräsidentin« Jeanine Áñez – natürlich eine evangelikale Putschistin – hat, die Bibel schwingend, rechtlich gleichgestellte Ureinwohner »satanischer Riten« bezichtigt (ist aber am 18. Oktober 2020 erfreulicherweise abgewählt worden). Jahrzehntelang kannte man Indiens Hindus als friedliche Räucherkegel-Einäscherer, heute darf die Welt zusehen, wie sie Frauen vergewaltigen und anschließend verbrennen. Vermutlich war es immer so, bloß hat George Harrison es nicht mitgekriegt. Die Krawalltruppen der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP sind so dumm, dass sie im Juni 2020 ankündigten, ein Bild des »chinesischen Präsidenten Kim Jong Un« abzufackeln, obwohl Kim Jong Un in Wirklichkeit in Korea Vorsitzender der Partei der Arbeit ist. Auch was der Islam anrichtet, ist allgemein erkennbar. Siehe Türkei, siehe Daesh, siehe Saudi-Arabien: Diktatur, Massaker, Kopf-ab-Justiz. Und selbst die Buddhisten sind dafür bekannt, dass einige Sekten mit zahllosen »Höllen« drohen, gegen die Dantes Inferno als Ponyhof gelten darf. Dankeschön. Die Beispiele ließen sich vermehren.

Und sie alle nehmen für sich »Religionsfreiheit«, also Narrenfreiheit, in Anspruch. Warum denn? Weil ihre Schweinereien nie ein Ende haben sollen. Zumindest für die BRD kann man feststellen: Im Grundgesetz kommt der Begriff »Religionsfreiheit« nicht vor, es kennt nur eine Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG). Das heißt, jeder darf sich zu einem Glauben bekennen, aber ich darf mich auch dazu bekennen, ihn nicht zu mögen.

Religion verdient nämlich keine Toleranz. Warum denn sollte sie? Man muss jeder Religion auf die schmutzigen Klauen hauen, wo sie sich am Leben zu vergreifen versucht.

Um das wieder einmal zu betonen, wurde die Story »Das lange Jahr der kurzen Tage« geschrieben. Aus Feindschaft.

Die Story hat, was eine Story braucht: Rückständige, aggressive Schurken und (auch geistig) fortgeschrittene Freiheitsfreunde (die nicht die andere Wange hinhalten). Als die klerikalen Kosmofaschos verglühen, bricht der Tag an.

Da wird sich mancher fragen: Ist der alte Pukallus noch immer radikal? Die Leser sollen erfahren, was radikal ist. Jean Meslier, der bis zu seinem Ableben 1729 Pfarrer war, schrieb grimmig, er wünsche, »dass alle Großen der Welt und alle Adligen mit den Gedärmen der Priester erhängt und erwürgt werden sollten.« Das ist radikal.

Dem Mann gebührt in jeder Stadt ein Denkmal.

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Das gesteigerte Bewusstsein für Natur und Umwelt, das die Ökobewegung in die zeitgenössischen Debatten eingebracht hat, ist nicht ohne gewisse Naivitäten und Verniedlichungstendenzen, ein allzu idyllisches Bild der natürlichen Welt abgegangen. Wie anders ist es zu erklären, dass Berliner Zoobesucher aufrichtig entsetzt waren, als der selige Eisbär Knut, seinen natürlichen Instinkten folgend, einige in sein Gehegebecken ausgesetzte Karpfen vertilgte? Welch ein Schock müsste es für solche Leute sein, sollte ihnen jemand erklären, dass die knuffigen Eisbärenmädchen Flocke und Anori inzwischen stark und aggressiv genug sind, um einen erwachsenen Menschen mit einem einzigen Prankenhieb aller Befürchtungen um die Altersversorgung zu entledigen. Norbert Stöbe, einer unserer Stammautoren, muss solche Naivitäten im Hinterkopf gehabt haben, als er ausgerechnet dem Wappentier der Öko-Bewegung – dem Großen Panda, im realen Leben keineswegs ein Teddybär, sondern ein kraftvolles Raubtier, mit dem nicht zu spaßen ist – eine verhängnisvolle Rolle in einem versuchten Anschlag von Öko-Aktivisten auf ein chinesisches Fusionskraftwerk einräumte. US-Komikerlegende George Carlin hat sich immer wieder köstlich darüber amüsiert, mit welchem Eifer die Medien die Paarungsaktivitäten Großer Pandas in Zoos verfolgten. Ihm hätte sicher gefallen, wie sich in der folgenden Geschichte zwei brünftige Pandas auf ihre Weise gegen wohlmeinende Einmischungen von Menschen verwahren.

Norbert Stöbe: RITA flies at 5 p.m.


1

Pedro Bolivar drückte seine Nase an der Glasscheibe platt und atmete mit offenem Mund. Im großen Sitzungssaal des Kongressgebäudes wimmelte es von Aliens. Es gab große und kleine, bunte und graue, schwabblige und feste. Sie tröteten und zirpten, grunzten, kieksten und blökten. Trotz der dämpfenden Wirkung der Scheibe war ihr Geschnatter ohrenbetäubend laut. Staunend schaute er dem Spektakel zu. In der dritten Reihe diskutierte ein blauer Alien mit Trichtermund mit seinem vierschrötigen halslosen Nachbarn. Seine ovalen Augen waren so groß wie Papayas. Eingerahmt waren sie von dicken Wimpernhärchen, die in strudelnder Bewegung begriffen waren. Auf den ersten Blick klatschten die beiden einander permanent ab. Es sah lustig aus, doch es war ihre Art zu streiten. Angefeuert wurden sie von einer hinter ihnen sitzenden Fröschin mit grünem Fell und winzigen Brüsten, die von feucht glänzenden Schalen bedeckt waren. Auf dem Rücken trug sie einen flachen Tornister, von dem ein Schlauch nach vorn führte. Hin und wieder nahm sie einen Zug aus dem Mundstück und pustete sattgelben Dampf auf die beiden Kontrahenten.

»Gib’s ihm, Alter!«, murmelte Pedro. »Zeig dem Penner, wo der Hammer hängt!« Aus irgendeinem Grund hatte er Partei für den Blauen mit dem Trichtermund ergriffen. Dann wurde er abgelenkt: Eine Art Wurm mit vier Beinen und zwei Armen kroch aufs Podium. Am Rednerpult richtete er sich auf und fuhr einen halben Meter weit den Kopf aus. »Aawrkud«, wurde hinter ihm angezeigt, »Vertreter von Pbsmiftz.« Er stützte die Arme aufs Pult, schaute auf seinen Text nieder und …

»Verflucht noch mal, zieh die verdammte Brille aus!«, sagte jemand hinter Pedro. Er riss sich die AR-Brille vom Kopf und fuhr herum. Vor ihm stand Luiz Sardo, der Vorarbeiter des Reinigungstrupps. Sein Gesicht war so braun wie Tabaksaft, sein Grinsen schadenfroh. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass die Dinger bei der Arbeit verboten sind?«, blaffte Luiz. »Und nach der Arbeit will ich deine Pisse haben. Heute ist für dich Drogentest angesagt, und wenn der Detektor anschlägt, weißt du, wo du dir deine Papiere abholen kannst.«

»Si, Señor«, sagte Pedro mit niedergeschlagenem Blick. »Kommt nicht wieder vor, Señor.« Er klappte die Brille zusammen und schob sie in die Tasche. Luiz mochte es, wenn ihm die Leute in den Arsch krochen. »Und der Test? Ich meine, muss der sein, Señor? Bitte?«

»Wir werden seh’n«, sagte Luiz und entfernte sich mit selbstgefälligem Lächeln.

Pedro blickte ihm hinterher. Er war auf den Job angewiesen, denn er wohnte außerhalb der Kuppel, und seine Klimaanlage war defekt. Eine neue konnte er sich nicht leisten, außerdem war der Strom kaum noch bezahlbar. Und die Cooler-Pillen, mit denen die meisten sich gegen die Schwüle wappneten, mochte er nicht. Sie stellten irgendetwas mit einem an. Er bevorzugte die Estrellas Azules, die es an jeder Straßenecke zu kaufen gab. Die Estrellas und die Brille halfen ihm, die demütigende Arbeit und das Arschloch Luiz zu überstehen.

Zähneknirschend setzte er einen selbsthaftenden Reinigungsbot auf die Fensterscheibe und schob dann seinen Versorgungswagen weiter durch die Flure. Hin und wieder näherte sich ein Bot, und je nachdem leerte er den Schmutzbehälter, füllte Reinigungsflüssigkeiten und Wasser nach oder tauschte den leeren Akku gegen einen vollen aus. Er war ein Botgehilfe, und das schmeckte ihm gar nicht. Nach einer Weile, als er sicher war, dass Luiz sich nicht in der Nähe befand, setzte er wieder die Brille auf.

2

Zweitausendsechshundert Delegierte hatten sich in Brasilia versammelt, der von Oscar Niemeyer erbauten, einst so futuristischen Stadt, die jetzt gegen den Verfall ankämpfte und nur noch auf eine Zukunft verwies, die niemals eingetroffen war. Im Schutz der größten Kuppel der Welt, die gestützt wurde von hundertdreiundfünfzig gigantischen Säulen mit integrierten Kühlaggregaten und Luftumwälzern, berieten die Vertreter von hundertsechzehn Ländern über das Vorgehen gegen die Aufheizung der Atmosphäre. Im Gegensatz zu Niemeyers Vision von einer sozialistischen Gesellschaft war diese seit Langem bittere Realität. Der globale Temperaturanstieg seit Beginn der Industrialisierung betrug zwei Komma neun Grad Celsius. Alle Abkommen und Versprechen, den Anstieg zu begrenzen, waren gebrochen worden. Immer mehr Hitzezonen wurden für unbewohnbar erklärt, und entsprechend hitzig entwickelte sich die Debatte.

Auf eine Vertreterin der USA folgte Jorge Ramos, ein Sprecher der Solarier. Er präsentierte Sonnenfotos einer chilenischen, von Brasilien finanzierten Sternwarte. Zu sehen waren gigantische Flecken, gewaltige Protuberanzen und violett leuchtende Teilchenströme. Unter den Buhrufen eines großen Teils des Publikums wiederholte er stoisch die Standardbehauptung der Solarier, die Erderwärmung sei ausschließlich auf Anomalien der Sonne zurückzuführen und somit menschlicher Einflussnahme grundsätzlich entzogen.

»Fake Facts!«, wurde gerufen. Einige Wissenschaftler schwenkten Diagramme, die angeblich belegten, dass die Sonnenaktivität im Rahmen des Üblichen verlaufe. Eine Sprecherin des Grünen Blocks stürmte aufs Podium. Mit ihren dunkelblonden Zöpfen wirkte sie wie eine Wiedergängerin der aus der Öffentlichkeit verschwundenen Greta Thunberg, die insbesondere bei den europäischen Grünen Heiligenstatus genoss. Emilia Lacone, ihre derzeitige Reinkarnation, versetzte Ruiz Ramon geschickt einen Rempler und nahm seinen Platz am Mikrofon ein. »Schamlose Lügen!«, rief sie mit sich überschlagender Stimme. »Jedes Kind kann erkennen, dass die Fotos Fälschungen sind! Aber der Klimawandel ist menschengemacht und eine unmittelbare Folge der steigenden CO2-Konzentration – auch das weiß jedes Kind! Hätten nicht notorische Faktenverdreher wie Jorge Ramos und korrupte Politiker in aller Welt aus eigennützigen Motiven heraus die notwendigen Maßnahmen zur Herstellung eines klimaneutralen Wirtschaftens torpediert, wäre es jetzt vielleicht noch fünf vor zwölf. Aber es ist schon zwanzig nach zwölf, ach was, der Uhrzeiger steht kurz vor eins …«

Das war natürlich Wasser auf die Mühlen der Antinatalisten, die sich mit Wirtschaftssteuerung und technologischer Erneuerung nicht lange aufhielten. Für sie war nicht die Wirtschaftsweise, sondern der wirtschaftende Mensch die Wurzel allen Klimaübels, dem sie durch die konsequente Verweigerung der Fortpflanzung beizukommen gedachten. Seit dreißig Jahren hofften ihre Gegner, ihr Aussterben, eigentlich die logische Folge ihrer menschheitsverachtenden Ideologie, werde die politische Auseinandersetzung mit ihnen irgendwann überflüssig machen, doch seltsamerweise war der Nachschub an Anhängern scheinbar unerschöpflich. Speziell die jungen Leute fanden an der kruden Fortpflanzungsverweigerung der Antinatalisten Gefallen. Straff organisiert in diversen NGOs, stellten sie einen nicht unerheblichen Anteil der Delegierten. Enthusiasmiert durch die vernichtende Zeitansage der Grünen-Vertreterin, sprangen sie auf, kletterten auf ihre Sitze und skandierten: »Yes Love – no Children! Yes Love – no Children!« Die meisten sahen nicht nur aus wie Kinder – sie waren welche. Ihre älteren Sitznachbarn bemühten sich, sie, wenn nicht auf den Boden der Tatsachen, so doch auf den Boden der Kongresshalle hinunterzuziehen, doch die Kinder wehrten sich verbissen. Die Saalwache marschierte auf. Aus dem Off tönte die Stimme der Kongress-AI: »Die Sitzung ist unterbrochen!«, säuselte sie. »Bitte räumen Sie den Saal!«

3

Roboter waren praktisch und vielseitig, doch es gab Dinge, die sie überforderten. Manchmal waren es gerade die einfachen Herausforderungen, an denen sie scheiterten, und dazu gehörten auch die geschwungenen, ansteigenden Sitzreihen des Kongresssaals. Und deshalb sammelte jetzt Pedro den Dreck auf, den die Delegierten zurückgelassen hatten. Leere Wasserflaschen, In-Ears, ein einzelner Schuh, sogar ein Gebiss: Alles kam in den blauen Sack, dessen Inhalt irgendjemand sortieren würde, bevor er in die Müllverbrennungsanlage kam, oder auch nicht.

Es war fünf nach halb elf, außer ihm hielt sich niemand mehr im Saal auf. Doch als Nachhall der Stimmen verweilte noch ein irritierendes, insektenhaftes Gesumm, und auch die Gerüche, süßlich, schweflig, modrig, alienhaft, waren noch wahrnehmbar. Er trug wieder die Brille, was zur Folge hatte, dass ein Teil der Hinterlassenschaften ein widerliches Eigenleben entwickelte. Da gab es dicke blaue Würmer, die sich auf dem Teppichbelag ringelten, und graue Fladen, die sich mehr fließend als kriechend fortbewegten. Der Zettel aber, den er vom Boden aufhob, war aus Papier, und die Handschrift war deutlich zu lesen: RITA flies at 5 p.m. Er konnte ein bisschen Englisch, die Übersetzung war kein Problem: Rita fliegt um siebzehn Uhr. Dennoch schob er die Brille hoch und besah sich den Zettel genauer. Irgendetwas stimmte nicht damit. Er hatte zwei, drei Muntermacher geschluckt, denn er arbeitete eine Doppelschicht ab. Die Buchstaben waberten vor seinen Augen, die Umrisse sah er doppelt, dreifach … vierfach? Schwer zu sagen. Doch das war es nicht. Plötzlich machte es bei ihm Klick. Rita war großgeschrieben: RITA. Das war nicht der Name irgendeiner Delegierten, die morgen Nachmittag vorzeitig abreisen wollte. Das war eine Abkürzung.

Augenblicklich begannen Glücksräder in seinem Kopf, zu kreisen. Es waren die gleichen wie in den Automatenbuden, wo viele Arbeiter, benommen von der unmenschlichen Schwüle der unklimatisierten Außensiedlung, ihr Geld verspielten. Anstelle der bunten Früchte und megabusigen Weiber standen Worte drauf. Als sie zum Stillstand kamen, war klar, was die Abkürzung bedeutete: Rocket Integrated Target Annihilation – RITA.

Rocket bedeutete Rakete, und Annihilation Vernichtung. Also ein Attentat. Jemand plante einen Vernichtungsschlag, der logischerweise am letzten Sitzungstag stattfinden würde, also in vier Tagen, und Pedro war möglicherweise der einzige Außenstehende, der davon wusste – vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der die drohende Katastrophe verhindern konnte.

In dieser Nacht fand er keinen Schlaf, was nicht nur an der Hitze lag. Vor Aufregung verwechselte er die Pillen und schluckte statt des Schlafmittels zwei weitere Estrellas. So kam es, dass er mit großen, brennenden Augen in die Dunkelheit seiner überhitzten Behausung starrte, während sich die Möglichkeiten durch seinen Kopf wälzten wie grüne, rote und blaue Dschungelschlangen. Schließlich stand er auf und bestieg den Schwebetransporter, ohne gefrühstückt zu haben. Als er pünktlich fünf vor acht seine erste Schicht antrat, herrschte schon vor dem Kongressaal helle Aufregung. Überall wurde aufgeregt diskutiert. Sein Körper hatte sich in eine sensible Antenne verwandelt. Er fing die Erregung auf und verstärkte sie. Das Blut summte ihm in den Ohren, Blitze durchzuckten sein Gesichtsfeld. Auf dem Weg zum Serviceeingang schnappte er auf, dass die Chinesen für den letzten Sitzungstag, an dem die Abschlusserklärung verabschiedet werden sollte, eine bedeutende Erklärung angekündigt hatten.

Natürlich, die Chinesen. Er wusste nicht, in welcher Beziehung das Raketenattentat mit der Ankündigung stand, aber der Zusammenhang lag auf der Hand. Es konnte kein Zufall sein. Die Schicksalslinien hatten sich verknotet, und er steckte mittendrin. Doch wem sollte er sein Geheimnis anvertrauen? Der Polizei? Es gab kaum Polizei auf dem Gelände. Stattdessen patrouillierten sogenannte Friedenswächter, aus China importierte AnBots. Ob sie ihn überhaupt verstehen würden? Zunächst aber musste er sich umziehen.

»He, Pedro, du Arschloch!«, rief Luiz, als er die Ankleide betrat. Die Arme vor der Tonnenbrust verschränkt, grinste der Vorarbeiter ihm entgegen. »Schon gepinkelt heute?«

»Si, Señor!«, sagte Pedro und nickte eifrig.

»Dann eben nach der Arbeit, haben wir uns verstanden?«

»Aber, Señor, ich dachte …«

»Falsch gedacht, Pedro. Heute schlägt die Stunde der Wahrheit. Der Detektor findet auch Estrellas, hast du das gewusst?«

Von plötzlicher Wut übermannt, warf Pedro sich auf seinen Peiniger. Es flammte rot vor seinen Augen, das Fieber, das seinen Körper zum Glühen brachte, verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Er schleuderte Luiz in einen offenen Spind, doch der Mann passte nicht hinein. Immer wieder schlug er zu, bis Luiz’ Gegenwehr erlahmte. Dann drückte er mit aller Kraft, doch der Mann wollte sich den Dimensionen des Spinds einfach nicht anpassen. Er trat ihn in den Unterleib, hämmerte ihm die Fäuste gegen den Kopf. Schließlich ließ er von dem Bewusstlosen ab und wischte sich die blutigen Hände an der Hose ab. Keuchend zog er den Zettel aus der Tasche, spuckte auf die Rückseite und drückte sich das Papier auf die Stirn, mit der Botschaft nach vorn. Er hatte eine Mission, und dafür brauchte er beide Hände.

Er ließ den Rucksack zu Boden gleiten, holte die Mitarbeiterkarte hervor und heftete sie sich an die Brust. In Straßenkleidung mischte er sich unter die Kongressdelegierten. Jetzt war er einer von ihnen. Er ging gemessenen Schritts, nickte nach rechts und nach links, als grüßte er alte und neue Bekannte. Der AnBot am Saaleingang ließ ihn passieren. Unwillkürlich steuerte er die Bühne an. Das Podium war unbesetzt. Wie er es im Fernsehen gesehen hatte, klopfte er aufs Mikro. Mittelschwerer Donner tönte aus unsichtbaren Lautsprechern. Auf einmal fühlte er sich stark und wichtig.

»Meine Damen und Herren«, sagte er mit einer Stimme, die ihm fremd in den Ohren klang. »Gäste aus nah und fern, Besucher von den Sternen …« Auf einmal sah er sie wieder. Die Aliens saßen Seite an Seite mit den Menschen, und alle schauten ihn mit ernster Erwartung an.

»Ich habe nichts Gutes zu verkünden«, fuhr Pedro fort. »Aber es kann etwas Gutes entstehen, wenn das Böse verhindert wird. In drei Tagen, nein in vier … jedenfalls am letzten Sitzungstrag wird ein Anschlag stattfinden. Ich weiß nicht wo, aber ich kenne die Uhrzeit. RITA flies at five p.m.«

Zwei handgroße Kameradrohnen näherten sich mit leisem Sirren und richteten ihre starren Augen auf ihn. Auf dem riesigen Wandbildschirm wurde sein braunes, schweißüberströmtes Gesicht angezeigt. Perdo tastete nach dem Zettel, zog ihn von der Stirn ab und hielt ihn den Drohnen entgegen.

»Diese Nachricht wurde mir zugespielt. Der Inhalt ist unmissverständlich. Ich fordere alle Verantwortlichen auf, zu verhindern, dass die Rakete …«

Sie kamen von links, keine AnBots, sondern Menschen. Einer warf ihn zu Boden, ein anderer legte ihm den Arm um den Hals und drückte ihn die Luft ab, ein dritter löste einen kurzen Stab vom Gürtel und hielt ihn Pedro an die Schläfe.

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