Als ich an Deck kam, sah ich, dass die ›Ghost‹ Backbord halste und dicht am Winde in Luv eines wohlbekannten Sprietsegels vor uns ging. Alle Mann waren an Deck, denn sie wussten, dass etwas geschehen würde, wenn Leach und Johnson an Bord geholt wurden. Es war vier Glasen. Louis kam zur Ablösung nach achtern ans Rad. Es lag Feuchtigkeit in der Luft, und ich bemerkte, dass er sein Ölzeug angezogen hatte. »Was gibt es jetzt?« fragte ich ihn.
»Eine gesunde Regenbö, gerade genügend, um uns den Kragen nass zu machen, weiter nichts«, antwortete er. »Zu dumm, dass wir sie sichten mussten!« sagte ich, während der Bug der ›Ghost‹ von einer schweren See ein paar Strich aus dem Kurs geworfen wurde und das Boot einen Augenblick hinter dem Klüver zum Vorschein kam.
Louis drehte das Rad und antwortete ausweichend: »Sie hätten das Land doch nicht erreicht, das weiß ich.«
»Glaubst du nicht?«
»Nein, Herr van Weyden. In der nächsten Stunde kann sich keine solche Eierschale auf See halten, und es ist ein Glück für sie, dass wir hier sind, um sie aufzufischen.«
Wolf Larsen, der mittschiffs mit dem Geretteten gesprochen hatte, kam jetzt mit langen Schritten nach achtern. Das katzenartig Sprunghafte in seinem Gang war jetzt noch ausgeprägter als gewöhnlich, und seine Augen leuchteten hell.
»Drei Heizer und ein vierter Maschinist«, begrüßte er mich. »Aber wir werden schon Matrosen oder doch wenigstens Bootspuller aus ihnen machen. Und wie steht’s mit der Dame?«
Ich weiß nicht warum, aber ich fühlte einen Schmerz wie einen Messerstich, als er sie erwähnte. Ich hielt es für einen gewissen törichten Stolz von meiner Seite, aber der Schmerz hielt an, und ich antwortete nur mit einem Achselzucken.
Wolf Larsen spitzte die Lippen zu einem langen höhnischen Pfeifen.
»Wie heißt sie denn?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Sie schläft. Sie war sehr müde. Eigentlich hätte ich gedacht, von Ihnen etwas zu hören. Was für ein Schiff war es denn?«
»Postdampfer«, antwortete er kurz. »›City of Tokio‹ von Frisco nach Yokohama. Im Taifun außer Dienst gesetzt. Alter Kasten. Wurde leck wie ein Sieb. Sie sind vier Tage umhergetrieben. – Und Sie wissen nicht, wer oder was sie ist, wie? – Mädchen, Frau oder Witwe? – Na schön.«
Er schüttelte neckend den Kopf und sah mich mit lachenden Augen an.
»Wollen Sie – –«, begann ich. Es lag mir auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er die Schiffbrüchigen nach Yokohama zu bringen gedächte.
»Ob ich was will?« fragte er.
»Was wollen Sie mit Leach und Johnson machen?«
Er schüttelte den Kopf. »Wirklich, Hump, ich weiß es nicht. Sie sehen doch, dass wir mit den Leuten, die wir vorhin an Bord genommen haben, genügend Mannschaft besitzen.«
»Die beiden haben sicher genug vom Desertieren«, meinte ich. »Nehmen Sie sie an Bord und seien Sie anständig gegen sie. Was sie auch getan haben: sie sind dazu getrieben worden.«
»Durch mich?«
»Durch Sie«, entgegnete ich fest. »Und ich warne Sie, Wolf Larsen, ich könnte meine Liebe zum Leben vergessen über dem Wunsche, Sie zu töten, wenn Sie in Ihrer Rache an diesen Unglücklichen zu weit gehen.« »Bravo!« rief er. »Sie machen mir wirklich Ehre, Hump! Sie machen sich, und darum habe ich Sie gern.« Er änderte Stimme und Ausdruck. Sein Gesicht wurde ernst. »Glauben Sie an Versprechungen?« fragte er »Sind Sie Ihnen heilig?«
»Natürlich«, erwiderte ich.
»Dann schließen wir einen Pakt«, fuhr er fort, dieser vollendete Schauspieler. »Wenn ich verspreche, keine Hand an Leach und Johnson zu legen, versprechen Sie mir dann, nicht zu versuchen, mich zu töten? – Oh, ich fürchte mich nicht vor Ihnen, das nicht«, beeilte er sich hinzuzufügen.
Ich wollte kaum meinen Ohren trauen. Was ging in dem Manne vor?
»Abgemacht«, fragte er ungeduldig.
»Abgemacht«, antwortete ich.
Er streckte mir die Hand entgegen, aber als ich sie herzlich schüttelte, hätte ich schwören mögen, seine Augen höhnisch aufblitzen zu sehen.
Wir schlenderten über die Ruff nach Lee. Das Boot war jetzt fast zum Greifen nahe und befand sich in einem elenden Zustande. Johnson steuerte, während Leach schöpfte. Wolf Larsen bedeutete Louis, etwas seitwärts zu halten, und wir schossen, keine zwanzig Fuß in Luv, an dem Boot vorbei. Die ›Ghost‹ narrte sie. Das Sprietsegel flatterte schlaff, und das Boot richtete sich auf, was die beiden Männer schleunigst veranlasste, die Plätze zu wechseln. Das Boot stampfte, und während wir uns jetzt auf einer hohen Woge hoben, stürzte es tief hinab.
In diesem Augenblick sahen Leach und Johnson in die Gesichter ihrer Kameraden, die mittschiffs über die Reling lehnten. Keiner grüßte. In den Augen der anderen waren sie Tote, und zwischen ihnen lag der Abgrund, der Lebendige und Tote scheidet.
Gleich darauf befanden sie sich der Ruff gegenüber, auf der Wolf Larsen und ich standen. Wir sanken in das Wellental, während sie sich auf den Kamm erhoben. Johnson blickte mich mit einem unsagbar zerquälten Ausdruck an. Ich winkte ihm zu, und er erwiderte meinen Gruß, aber mit einem Winken, das hoffnungslos und verzweifelt war. Es war, als nehme er Abschied. Leachs Augen konnte ich nicht fangen, denn er schaute mit dem alten unversöhnlichen Hass Wolf Larsen an.
Dann waren sie achteraus gekommen. Plötzlich füllte sich das Sprietsegel mit Wind, und das offene Fahrzeug krengte so, dass es aussah, als sollte es kentern. Eine Sturzsee schäumte darüber hinweg und begrub es unter schneeweißem Gischt. Dann hob sich das Boot wieder. Es war halb voll Wasser, und Leach schöpfte wie wahnsinnig, während Johnson sich, weiß vor Angst, an die Ruderpinne klammerte.
Wolf Larsen lachte kurz und spöttisch und schritt nach der Achterhütte. Ich erwartete, dass er befehlen würde, beizudrehen, aber die ›Ghost‹ hielt ihren Kurs, und er gab kein Zeichen, Louis stand unbeweglich am Steuerrad, aber ich bemerkte, dass die vorn in Gruppen stehenden Matrosen uns bestürzt anblickten. Immer weiter schoss die ›Ghost‹, bis das Boot nur noch ein kleiner Punkt war. Da ertönte Wolf Larsens Stimme, die befahl, steuerbord zu halsen.
Wir gingen zurück, zwei Meilen oder mehr in Luv der mit den Wellen ringenden Nussschale, dann wurde der Außenklüver niedergeholt, und wir drehten bei. Robbenboote sind nicht dafür eingerichtet, gegen den Wind zu gehen. Sie sind darauf angewiesen, sich in Luv zu halten, um, wenn der Schoner anfährt, vor dem Winde laufen zu können. In dieser ganzen wilden Einöde gab es jedoch keine Zuflucht für Leach und Johnson außer der ›Ghost‹, und so begannen sie entschlossen gegen den Wind anzukämpfen. Es ging nur langsam in der schweren See. Jeden Augenblick konnten sie unter den schäumenden Sturzseen begraben werden. Immer wieder, unzählige Male, sahen wir das Boot luven und wie ein Kork wieder zurückgeschleudert werden.
Johnson war ein ausgezeichneter Seemann. Nach anderthalb Stunden befand er sich fast Seite an Seite mit uns und dachte, uns beim nächsten Halsen zu erreichen.
»So, ihr habt’s euch überlegt?« hörte ich Wolf Larsen murmeln, als ob sie ihn hätten hören können. »Ihr wollt an Bord, was? Na schön, dann versucht’s doch. Hart Steuerbord!« befahl er Oofty-Oofty, dem Kanaken, der unterdessen Louis am Rad abgelöst hatte. Ein Befehl folgte dem anderen. Der Schoner ging in den Wind, und Fockschoot und Großschoot wurden gelockert. Und vor dem Winde liefen wir und hüpften über die Wogen, während Johnson unter Lebensgefahr seine Schoot nachließ und, hundert Fuß hinter uns, unser Kielwasser kreuzte. Wieder lachte Wolf Larsen, und diesmal machte er ihnen Zeichen, uns zu folgen. Er hatte offenbar die Absicht, mit ihnen zu spielen, ihnen statt der Prügel, wie ich annahm, eine Lehre zu erteilen, allerdings eine gefährliche Lehre, das leichte Fahrzeug konnte jeden Augenblick kentern. Johnson braßte sofort vierkant und folgte uns. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Wohin sie sich auch wandten, sahen sie sich dem Tode preisgegeben, und es war nur eine Frage der Zeit, dass eine der ungeheuren Sturzseen das Boot treffen, darüber hinweg und weiterrollen würde.
»Der Tod sitzt ihnen im Nacken«, murmelte Louis mir ins Ohr, als ich nach vorn ging, um dafür zu sorgen, dass Außenklüver und Stagsegel eingeholt wurden.
»Ach, er wird wohl bald beidrehen und sie aufnehmen«, ermunterte ich ihn, »er will ihnen nur eine Lehre erteilen, das ist alles.«
Louis sah mich von der Seite an. »Glauben Sie das wirklich?« fragte er.
»Natürlich«, erwiderte ich. »Du nicht?«
»Ich denke nur an meine eigene Haut«, lautete seine Antwort. »Und ich bin gespannt, wie alles ausläuft. Eine schöne Bescherung hat der Whisky angerichtet, den ich in Frisko trank, und das Mädchen achtern wird noch eine schöne Bescherung für Sie anrichten. Aber eins weiß ich: Sie sind ein rechter Narr!«
»Wie meinst du das?« fragte ich Louis, der sich, nachdem er seinen Pfeil abgeschossen hatte, abwandte. »Wie ich das meine?« rief er. »Das fragen Sie noch? Auf meine Meinung kommt es nicht an, nur auf die vom Wolf. Vom Wolf sage ich, vom Wolf!«
»Würdest du mir beistehen, wenn es not täte?« fragte ich unwillkürlich, denn er hatte nur meiner eigenen Besorgnis Ausdruck verliehen.
»Ihnen beistehen? Ich stehe nur dem alten dicken Louis bei, und damit hab’ ich schon genug zu tun. Wir sind erst am Anfang, sage ich Ihnen, ganz am Anfang.« »Ich hätte dich nicht für einen solchen Feigling gehalten«, höhnte ich.
Er warf mir einen geringschätzigen Blick zu. »Ich hab’ nie einen Finger für den armen Narren gerührt«, er wies auf das winzige Segel achtern, – »und da meinen Sie, ich sei verrückt, mir den Hals für eine Frau zu brechen, die ich bis zum heutigen Tage noch nie gesehen habe?«
Verächtlich wandte ich mich ab und ging nach achtern. »Es ist am besten, wenn Sie das Toppsegel einholen lassen, Herr van Weyden«, sagte Wolf Larsen, als ich zur Ruff kam.
Ich spürte eine Erleichterung, wenigstens bezüglich der beiden Männer. Es war klar, dass er ihnen nicht zu weit weglaufen wollte. Bei diesem Gedanken schöpfte ich wieder Hoffnung und führte den Befehl rasch aus. Ich hatte kaum den Mund geöffnet, als die Leute auch schon eifrig an die Falle und in die Takelung sprangen. Wolf Larsen sah ihren Eifer und lächelte grimmig.
Das Boot kam immer näher und wurde wie ein lebendes Wesen durch die wallende grüne Masse gewirbelt. Es hob und senkte sich, erschien auf den ungeheuren Rücken der Wogen und verschwand hinter ihnen, um kurz darauf wieder zum Vorschein zu kommen und himmelan zu schießen. Es schien unmöglich, durchkommen zu können, aber immer wieder vollbrachte es das Unmögliche mit schwindelerregender Fahrt. Ein Regenschauer trieb vorbei, und aus dem Dunkel tauchte das Boot dicht neben uns auf.
»Hart Steuerbord!« rief Wolf Larsen und sprang selbst ans Rad, um es herumzuwerfen.
Wieder jagte die ›Ghost‹ mit dem Wind um die Wette dahin, und zwei Stunden lang folgten Johnson und Leach uns. Wir drehten bei und liefen fort, drehten bei und liefen fort, und immer noch stieg das kämpfende Segel himmelwärts und stürzte in die vorbeischießenden Täler. Eine Viertelmeile von uns entzog eine dichte Regenbö das Boot unsern Blicken. Es kam nie wieder zum Vorschein. Der Wind verwehte den Regen, aber kein Segel zeigte sich auf der bewegten Fläche. Einen Augenblick glaubte ich, den schwarzen Boden des Bootes sich von dem Gischt einer brechenden Welle abheben zu sehen. Das war alles. Für Johnson und Leach war der Kampf ums Dasein beendet.
Die Mannschaft blieb in einer Gruppe mittschiffs stehen. Keiner ging nach unten, und keiner sprach ein Wort. Nicht einmal Blicke wurden getauscht. Alle schienen wie betäubt – sie standen in Betrachtungen versunken da und versuchten, sich das Geschehene klarzumachen. Wolf Larsen ließ ihnen indessen nicht viel Zeit zum Nachdenken. Er setzte die ›Ghost‹ in den Kurs auf die Robbenherden und nicht nach Yokohama. Aber die Leute hatten ihren Eifer beim Hahlen und Fieren verloren, und ich hörte manchen Fluch, der ihren Lippen entschlüpfte, schwer und dumpf wie sie selbst. Nicht so die Jäger. Smoke, der Unbezähmbare, erzählte eine Geschichte, und unter schallendem Gelächter begaben sie sich ins Zwischendeck.
Als ich auf der Leeseite nach achtern ging, näherte sich mir der Maschinist, den wir gerettet hatten. Sein Gesicht war weiß, und seine Lippen zitterten.
»Großer Gott, was ist das für ein Fahrzeug?« rief er. »Sie haben ja selbst Augen im Kopf«, antwortete ich fast brutal, so sehr schnürten Schmerz und Furcht mir das Herz zusammen.
»Ihr Versprechen?« fragte ich Wolf Larsen.
»Ich dachte gar nicht daran, sie an Bord zu nehmen, als ich es gab«, erwiderte er. »Und was auch geschehen ist, so werden Sie mir jedenfalls zugeben, dass ich nicht Hand an sie gelegt habe … Im Gegenteil, im Gegenteil«, lachte er einen Augenblick später.
Ich antwortete nicht. Ich war unfähig, zu sprechen, mein Geist war verwirrt. Ich wusste, dass ich Zeit brauchte, um über das Geschehene nachzudenken. Die Frau, die jetzt unten in der Kajüte schlief, bürdete mir eine Verantwortung auf, die mir schwer aufs Herz fiel, und der einzige vernünftige Gedanke, der mir durchs Hirn flackerte, war, dass ich nichts übereilen durfte, wenn ich ihr überhaupt eine Hilfe sein wollte.
Der Rest des Tages verging, ohne dass sich etwas ereignet hätte. Der frische Wind mit seinen Regenschauern legte sich. Der vierte Maschinist und die drei Heizer wurden nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Wolf Larsen neu eingekleidet, erhielten ihre Plätze unter den Jägern in verschiedenen Booten und in den Schiffswachen angewiesen und wurden dann in die Back geschickt. Sie wagten nicht zu protestieren. Was sie von Wolf Larsen gesehen, hatte sie eingeschüchtert, und was sie in der Back über ihn hörten, benahm ihnen die letzte Lust zur Auflehnung. Miss Brewster – ich hatte ihren Namen von dem Maschinisten erfahren – schlief immer noch. Beim Abendbrot bat ich die Jäger, leiser zu sprechen, um sie nicht zu stören, und erst am nächsten Morgen kam sie zum Vorschein. Ich hatte ihr das Essen gesondert bringen lassen wollen. Aber Wolf Larsen durchkreuzte meine Absicht. Wer sie wäre, dass sie zu gut für den Kajütstisch und die Kajütsgesellschaft sei, hatte er gefragt.
Aber ihr Erscheinen bei Tisch hatte eine seltsame Wirkung. Die Jäger wurden stumm wie die Fische. Nur Jock Horner und Smoke ließen sich nicht einschüchtern, warfen verstohlene Blicke auf sie und beteiligten sich selbst an der Unterhaltung. Die vier anderen hoben nicht die Augen von ihren Tellern, sie kauten unaufhörlich mit nachdenklicher Gründlichkeit, und ihre Ohren bewegten sich im Takt mit ihren Kinnladen wie bei fressenden Tieren.
Auch Wolf Larsen sagte anfangs nicht viel; er antwortete nur, wenn man sich an ihn wandte. Nicht etwa, dass er verlegen gewesen wäre. Weit entfernt! Diese Frau war für ihn nur ein neuer Typ, völlig verschieden von dem Schlage, den er bisher kennengelernt hatte, und er war neugierig. Er studierte sie, seine Augen ließen kaum von ihrem Gesicht, es geschah denn, um die Bewegungen ihrer Hände und Schultern zu beobachten. Ich selbst studierte sie ebenfalls, und obwohl ich die Kosten der Unterhaltung trug, war ich doch ein wenig schüchtern. Er hingegen war die Ruhe, das unerschütterliche Selbstvertrauen selber; er fürchtete eine Frau nicht mehr als Sturm und Kampf.
»Und wann sind wir in Yokohama?« wandte sie sich an ihn und blickte ihm gerade in die Augen.
Das war die klare Frage. Die Kinnladen hörten zu arbeiten auf, die Ohren bewegten sich nicht mehr, und wenn auch die Augen weiter auf den Tellern haften blieben, lauschte doch jeder begierig auf die Antwort. »In vier Monaten, vielleicht auch in dreien, wenn die Jagdzeit früh vorüber ist«, sagte Wolf Larsen.
Sie schnappte nach Luft und stammelte: »Ich – ich dachte – man ließ mich in dem Glauben, dass Yokohama nur eine Tagereise entfernt sei. Das …« Sie machte eine Pause und blickte von einem auf das andere dieser unsympathischen Gesichter im Kreise, die fest auf ihre Teller starrten. »Das kann nicht richtig sein«, schloss sie.
»Das ist eine Frage, die Sie mit Herrn van Weyden abmachen müssen«, erwiderte er, indem er mir augenzwinkernd zunickte. »Herr van Weyden ist so etwas wie eine Autorität in Fragen des Rechtes. Ich bin nur ein einfacher Seemann und sehe die Situation daher etwas anders an. Für Sie mag es vielleicht ein Unglück sein, dass Sie hierbleiben müssen, aber für uns ist es sicher ein Glück.«
Er sah sie lächelnd an. Ihre Augen senkten sich vor seinem Blick, aber sie hob sie wieder trotzig zu den meinen. »Was meinen Sie?« fragte sie.
»Dass es schlimm wäre, namentlich wenn Sie Verpflichtungen für die nächsten Monate übernommen hätten. Da Sie aber, wie Sie sagen, lediglich aus Gesundheitsrücksichten nach Japan reisen wollten, kann ich Ihnen versichern, dass Sie sich nirgends besser erholen können als an Bord der ›Ghost‹.«
Ich sah ihre Augen unwillig aufblitzen, und diesmal senkte ich den Blick und fühlte, dass ich unter dem ihren errötete. Ich war feige, aber was hätte ich tun sollen.
»Herr van Weyden ist Autorität auf diesem Gebiete«, lachte Wolf Larsen.
Ich nickte, und sie blickte mich, jetzt wieder beherrscht, erwartungsvoll an.
»Nicht, dass er gerade schon damit prahlen könnte«, fuhr Wolf Larsen fort, »aber er hat sich prachtvoll erholt. Sie hätten ihn sehen sollen, als er an Bord kam. Ein jämmerlicheres Exemplar der Gattung Mensch hätte man schwerlich finden können. Stimmt das, Kerfoot?«
Kerfoot war bei dieser direkten Anrede so bestürzt, dass er das Messer zu Boden fallen ließ, aber es gelang ihm, zustimmend zu grunzen.
»Hat sich herausgemacht, durch Kartoffelschälen und Tellerwaschen, was, Kerfoot?«
Wieder grunzte der Würdige.
»Und schauen Sie ihn sich jetzt an! Er ist zwar nicht das, was man muskulös nennt, aber er hat doch Muskeln, und das konnte man nicht von ihm sagen, als er an Bord kam. Und dazu hat er gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Wenn Sie ihn jetzt sehen, glauben Sie es vielleicht nicht, aber im Anfang war er ganz außerstande dazu.«
Die Jäger kicherten, sie aber sah mich mit einem Mitgefühl an, das Wolf Larsens Unverschämtheit reichlich aufwog. Wahrlich: so lange hatte ich kein Mitgefühl gefunden, dass mir ganz weich ums Herz wurde. In diesem Augenblick wurde ich – und zwar freudig – ihr willfähriger Sklave. Aber ich war zornig auf Wolf Larsen. Mit seinen geringschätzigen Bemerkungen forderte er meine Männlichkeit, forderte er die Selbstständigkeit heraus, die er mir verschafft hatte.
»Ich habe vielleicht gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen«, entgegnete ich, »aber noch nicht, auf die anderer zu treten.«
Er warf mir einen höhnischen Blick zu. »Dann ist Ihre Erziehung erst halb vollendet«, sagte er trocken und wandte sich wieder an sie.
»Wir sind sehr gastfreundlich auf der ›Ghost‹. Herr van Weyden kann das bestätigen. Wir tun alles, um es unseren Gästen angenehm zu machen, nicht wahr, Herr van Weyden?«
»Ja, bis zu Kartoffelschälen und Tellerwaschen«, antwortete ich, »gar nicht davon zu reden, dass einem aus lauter Freundschaft der Hals umgedreht wird.«
»Ich bitte Sie, sich durch Herrn van Weyden keine falschen Vorstellungen machen zu lassen«, legte er sich mit angenommener Ängstlichkeit dazwischen, »Sie werden bemerkt haben, Miss Brewster, dass er ein Messer im Gürtel trägt, etwas – hm – etwas ganz Ungewöhnliches für einen Schiffsoffizier. Herr van Weyden ist zwar sehr ehrenwert, aber, wie soll ich sagen, ein wenig streitsüchtig und gebraucht scharfe Mittel. In ruhigen Augenblicken ist er ganz vernünftig und umgänglich, und da er jetzt ruhig ist, wird er nicht leugnen, dass er mir gestern an den Kragen wollte.«
Ich wollte vor Wut ersticken, und meine Augen schossen Blitze. Er fuhr fort:
»Schauen Sie ihn jetzt an. Er kann sich kaum in Ihrer Gegenwart beherrschen. Er dürfte nicht gewohnt sein, sich in Gesellschaft von Damen zu bewegen. Ich werde mich bewaffnen müssen, ehe ich wagen kann, mit ihm an Deck zu gehen.«
Er schüttelte traurig den Kopf und murmelte: »Schlimm, schlimm!«, während die Jäger in schallendes Gelächter ausbrachen.
Die rauen Stimmen dieser Seebären hallten polternd und brüllend in dem engen Raum wider und taten eine merkwürdige Wirkung. Die ganze Umgebung war wild und unheimlich, und als ich nun diese fremde Frau betrachtete und mir vorstellte, wie wenig sie hier hereinpasste, wurde mir zum ersten Mal klar, wie sehr ich selbst es tat. Ich kannte diese Männer und ihr Seelenleben, und ich war selbst einer der Ihren, lebte das Leben, aß die Kost und dachte die Gedanken der Robbenfänger. Für mich war nichts Merkwürdiges mehr an ihren rauen Kleidern, ihren gemeinen Gesichtern, dem wilden Gelächter, an den schwankenden Kajütenwänden oder den schwingenden Schiffslampen. Als ich mir ein Stück Butterbrot schmierte, fiel mein Blick zufällig auf meine Hände. Die Knöchel waren hautlos und entzündet, die Finger geschwollen, die Nägel schwarzrandig. Ich fühlte die dichten Bartstoppeln auf meinem Halse und wusste, dass ein Ärmel meiner Jacke zerrissen war und ein Knopf an meinem blauen Hemde fehlte. Das Messer, das Wolf Larsen erwähnt hatte, hing in einer Scheide an meiner Hüfte. Es war sehr natürlich, dass es dort hing – wie natürlich, war mir nicht eingefallen, bis ich es jetzt mit ihren Augen ansah und mir bewusst wurde, wie seltsam ihr dies und alles andere vorkommen musste.
Aber sie erriet den Spott in Wolf Larsens Worten und sandte mir wieder einen mitleidigen Blick. Gleichzeitig las ich jedoch Bestürzung in ihren Augen. Seine Neckereien machten die Situation nur noch verwirrender für sie.
»Ein vorbeifahrendes Schiff kann mich vielleicht aufnehmen«, schlug sie vor.
»Es gibt keine vorbeifahrenden Schiffe außer anderen Robbenschonern«, gab Wolf Larsen zur Antwort.
»Ich habe keine Kleider, nichts«, wandte sie ein. »Sie denken sicher nicht daran, dass ich kein Mann und das unstete Leben, das Sie und Ihre Leute führen, nicht gewohnt bin.«
»Je eher Sie sich daran gewöhnen, desto besser«, sagte er.
»Ich werde Sie mit Stoff, Nadel und Faden versehen«, fügte er hinzu. »Ich hoffe, es wird Ihnen nicht allzu viel Mühe machen, sich ein oder zwei Kleider zu nähen.« Sie verzog den Mund, um ihre Unerfahrenheit im Schneidern kundzutun. Dass sie ängstlich und verwirrt war und tapfer versuchte, es zu verbergen, war mir ganz klar.
»Ich nehme an, dass Sie ebenso wie Herr van Weyden dort gewohnt sind, alles durch andere für sich tun zu lassen. Nun, ich denke, Ihnen wird kein Stein aus der Krone fallen, wenn Sie einmal selbst etwas für sich tun müssen. Womit erwerben Sie sich übrigens Ihren Unterhalt?«
Sie sah ihn mit unverhohlenem Erstaunen an.
»Ich will Sie nicht beleidigen, glauben Sie mir. Man isst, daher muss man arbeiten. Diese Männer hier schießen Robben, um zu leben; aus demselben Grunde führe ich diesen Schoner, und Herr van Weyden verdient sich, wenigstens jetzt, sein Brot, indem er mir hilft. Nun, und was tun Sie?«
Sie zuckte die Achseln.
»Ernähren Sie sich selbst, oder werden Sie durch andere ernährt?«
»Ich fürchte, den größten Teil meines Lebens hat mich ein anderer ernährt«, lachte sie, indem sie einen tapferen Versuch machte, auf den neckischen Ton Wolf Larsens einzugehen, obgleich ich wachsendes Entsetzen in ihren Augen aufsteigen sah.
»Ich nehme an, dass ein anderer auch das Bett für Sie macht?«
»Ich habe mir mein Bett gemacht«, erwiderte sie.
»Oft?«
Sie schüttelte den Kopf mit verstellter Reue.
»Wissen Sie, was man in den Staaten mit Armen tut, die wie Sie nicht für ihren Unterhalt arbeiten?«
»Ich bin sehr unwissend«, erwiderte sie, »was tut man mit meinesgleichen?«
»Man sperrt sie ein. Das Verbrechen, seinen Lebensunterhalt nicht zu verdienen, wird Landstreicherei genannt. Wäre ich Herr van Weyden, der sich andauernd mit der Frage beschäftigt, was Recht und Unrecht ist, so würde ich fragen, mit welchem Recht Sie leben, wenn Sie nichts tun, um Ihren Unterhalt zu verdienen?«
»Da Sie aber nicht Herr van Weyden sind, brauche ich Ihnen nicht zu antworten, nicht wahr?«
Sie sandte ihm aus ihren angstvollen Augen einen strahlenden Blick, der so rührend war, dass es mir ins Herz schnitt. Ich musste irgendwie versuchen, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
»Haben Sie je einen Dollar durch eigene Arbeit verdient?« fragte er triumphierend, im voraus seiner Sache sicher.
»Ja, das habe ich«, antwortete sie langsam, und ich hätte fast über sein verlegenes Gesicht lachen können. »Ich erinnere mich, dass mein Vater mir einmal, als ich ein kleines Mädchen war, einen Dollar gab, weil ich fünf Minuten lang still war.«
Er lächelte nachsichtig.
»Aber das ist lange her«, fuhr sie fort. »Und Sie werden wohl kaum verlangen, dass ein neunjähriges Mädchen sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient.«
»Gegenwärtig aber«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, »verdiene ich ungefähr achtzehnhundert Dollar jährlich.«
Alle Augen hoben sich auf einmal von den Tellern und hefteten sich auf sie. Eine Frau, die achtzehnhundert Dollar jährlich verdiente, war wert, angeschaut zu werden. Wolf Larsen verhehlte seine Bewunderung nicht.
»Gehalt oder Akkordarbeit?«
»Akkordarbeit«, antwortete sie rasch.
»Achtzehnhundert«, rechnete er. »Das macht hundertundfünfzig monatlich. Nun, Fräulein Brewster, wir sind nicht kleinlich auf der ›Ghost‹. Betrachten Sie sich für die Dauer Ihres Aufenthalts als mit demselben Gehalt angestellt.«
Sie sagte nichts. Sie war seine Einfälle noch nicht so gewohnt, dass sie sie mit Gleichmut hingenommen hätte.
»Ich vergaß zu fragen«, fuhr er liebenswürdig fort, »welcher Art Ihre Beschäftigung ist. Was für Werkzeuge und Material brauchen Sie?«
»Papier und Tinte«, lachte sie. »Ach, und auch eine Schreibmaschine.«
»Sie sind Fräulein Maud Brewster«, sagte ich langsam und sicher, als beschuldigte ich sie eines großen Verbrechens.
Ihre Augen hoben sich neugierig zu den meinen. »Woher wissen Sie das?«
»Stimmt es nicht?« fragte ich.
Sie nickte zustimmend. Jetzt war die Reihe, verblüfft zu sein, an Wolf Larsen. Ihm bedeutete der Name nichts. Ich war stolz darauf, dass er mir etwas bedeutete, und zum ersten Mal seit langer Zeit wurde ich mir meiner Überlegenheit über ihn bewusst.
»Ich erinnere mich, eine Besprechung über ein Bändchen von Ihnen geschrieben zu haben – –«, begann ich, aber sie unterbrach mich.
»Sie!« rief sie. »Sie sind – –«
Jetzt nickte ich meinerseits zustimmend.
»Humphrey van Weyden!« schloss sie – dann fügte sie mit einem Seufzer der Erleichterung hinzu, ohne daran zu denken, dass Wolf Larsen ihn bemerken musste: »Wie mich das freut!«
»Ich entsinne mich recht wohl der Besprechung«, fuhr sie fort, als sie sich bewusst wurde, wie seltsam ihre Bemerkung wirken musste. »Sie war wirklich zu schmeichelhaft.«
»Keineswegs«, verneinte ich schnell. »Sie setzen meine nüchterne Urteilskraft herab und entwerten meine Kritik. Im übrigen stimmen alle Kritiker mit mir überein. Hat Lang nicht Ihr Gedicht ›Der geduldete Kuss‹ zu den vier größten Sonetten gezählt, die von Frauen in englischer Sprache geschrieben worden sind?«
»Sie sind sehr gütig«, murmelte sie, und gerade das Konventionelle ihrer Worte und der ganze Schwarm von Vorstellungen des früheren Lebens auf der anderen Seite der Welt durchzuckten mich – reich an Erinnerungen, aber auch stechend vor Heimweh.