Buch lesen: «Jack London – Gesammelte Werke», Seite 78

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19

Als ich an Deck kam, sah ich, dass die ›Ghost‹ Back­bord hals­te und dicht am Win­de in Luv ei­nes wohl­be­kann­ten Sprietse­gels vor uns ging. Alle Mann wa­ren an Deck, denn sie wuss­ten, dass et­was ge­sche­hen wür­de, wenn Le­ach und John­son an Bord ge­holt wur­den. Es war vier Gla­sen. Louis kam zur Ab­lö­sung nach ach­tern ans Rad. Es lag Feuch­tig­keit in der Luft, und ich be­merk­te, dass er sein Öl­zeug an­ge­zo­gen hat­te. »Was gibt es jetzt?« frag­te ich ihn.

»Eine ge­sun­de Re­gen­bö, ge­ra­de ge­nü­gend, um uns den Kra­gen nass zu ma­chen, wei­ter nichts«, ant­wor­te­te er. »Zu dumm, dass wir sie sich­ten muss­ten!« sag­te ich, wäh­rend der Bug der ›Ghost‹ von ei­ner schwe­ren See ein paar Strich aus dem Kurs ge­wor­fen wur­de und das Boot einen Au­gen­blick hin­ter dem Klü­ver zum Vor­schein kam.

Louis dreh­te das Rad und ant­wor­te­te aus­wei­chend: »Sie hät­ten das Land doch nicht er­reicht, das weiß ich.«

»Glaubst du nicht?«

»Nein, Herr van Wey­den. In der nächs­ten Stun­de kann sich kei­ne sol­che Eier­scha­le auf See hal­ten, und es ist ein Glück für sie, dass wir hier sind, um sie auf­zu­fi­schen.«

Wolf Lar­sen, der mitt­schiffs mit dem Ge­ret­te­ten ge­spro­chen hat­te, kam jetzt mit lan­gen Schrit­ten nach ach­tern. Das kat­zen­ar­tig Sprung­haf­te in sei­nem Gang war jetzt noch aus­ge­präg­ter als ge­wöhn­lich, und sei­ne Au­gen leuch­te­ten hell.

»Drei Hei­zer und ein vier­ter Ma­schi­nist«, be­grüß­te er mich. »Aber wir wer­den schon Ma­tro­sen oder doch we­nigs­tens Bootspul­ler aus ih­nen ma­chen. Und wie steht’s mit der Dame?«

Ich weiß nicht warum, aber ich fühl­te einen Schmerz wie einen Mes­ser­stich, als er sie er­wähn­te. Ich hielt es für einen ge­wis­sen tö­rich­ten Stolz von mei­ner Sei­te, aber der Schmerz hielt an, und ich ant­wor­te­te nur mit ei­nem Ach­sel­zu­cken.

Wolf Lar­sen spitz­te die Lip­pen zu ei­nem lan­gen höh­ni­schen Pfei­fen.

»Wie heißt sie denn?« frag­te er.

»Ich weiß nicht«, er­wi­der­te ich. »Sie schläft. Sie war sehr müde. Ei­gent­lich hät­te ich ge­dacht, von Ih­nen et­was zu hö­ren. Was für ein Schiff war es denn?«

»Post­damp­fer«, ant­wor­te­te er kurz. »›Ci­ty of To­kio‹ von Fris­co nach Yo­ko­ha­ma. Im Tai­fun au­ßer Dienst ge­setzt. Al­ter Kas­ten. Wur­de leck wie ein Sieb. Sie sind vier Tage um­her­ge­trie­ben. – Und Sie wis­sen nicht, wer oder was sie ist, wie? – Mäd­chen, Frau oder Wit­we? – Na schön.«

Er schüt­tel­te ne­ckend den Kopf und sah mich mit la­chen­den Au­gen an.

»Wol­len Sie – –«, be­gann ich. Es lag mir auf der Zun­ge, ihn zu fra­gen, ob er die Schiff­brü­chi­gen nach Yo­ko­ha­ma zu brin­gen ge­däch­te.

»Ob ich was will?« frag­te er.

»Was wol­len Sie mit Le­ach und John­son ma­chen?«

Er schüt­tel­te den Kopf. »Wirk­lich, Hump, ich weiß es nicht. Sie se­hen doch, dass wir mit den Leu­ten, die wir vor­hin an Bord ge­nom­men ha­ben, ge­nü­gend Mann­schaft be­sit­zen.«

»Die bei­den ha­ben si­cher ge­nug vom De­ser­tie­ren«, mein­te ich. »Neh­men Sie sie an Bord und sei­en Sie an­stän­dig ge­gen sie. Was sie auch ge­tan ha­ben: sie sind dazu ge­trie­ben wor­den.«

»Durch mich?«

»Durch Sie«, ent­geg­ne­te ich fest. »Und ich war­ne Sie, Wolf Lar­sen, ich könn­te mei­ne Lie­be zum Le­ben ver­ges­sen über dem Wun­sche, Sie zu tö­ten, wenn Sie in Ih­rer Ra­che an die­sen Un­glück­li­chen zu weit ge­hen.« »Bra­vo!« rief er. »Sie ma­chen mir wirk­lich Ehre, Hump! Sie ma­chen sich, und dar­um habe ich Sie gern.« Er än­der­te Stim­me und Aus­druck. Sein Ge­sicht wur­de ernst. »Glau­ben Sie an Ver­spre­chun­gen?« frag­te er »Sind Sie Ih­nen hei­lig?«

»Na­tür­lich«, er­wi­der­te ich.

»Dann schlie­ßen wir einen Pakt«, fuhr er fort, die­ser vollen­de­te Schau­spie­ler. »Wenn ich ver­spre­che, kei­ne Hand an Le­ach und John­son zu le­gen, ver­spre­chen Sie mir dann, nicht zu ver­su­chen, mich zu tö­ten? – Oh, ich fürch­te mich nicht vor Ih­nen, das nicht«, be­eil­te er sich hin­zu­zu­fü­gen.

Ich woll­te kaum mei­nen Ohren trau­en. Was ging in dem Man­ne vor?

»Ab­ge­macht«, frag­te er un­ge­dul­dig.

»Ab­ge­macht«, ant­wor­te­te ich.

Er streck­te mir die Hand ent­ge­gen, aber als ich sie herz­lich schüt­tel­te, hät­te ich schwö­ren mö­gen, sei­ne Au­gen höh­nisch auf­blit­zen zu se­hen.

Wir schlen­der­ten über die Ruff nach Lee. Das Boot war jetzt fast zum Grei­fen nahe und be­fand sich in ei­nem elen­den Zu­stan­de. John­son steu­er­te, wäh­rend Le­ach schöpf­te. Wolf Lar­sen be­deu­te­te Louis, et­was seit­wärts zu hal­ten, und wir schos­sen, kei­ne zwan­zig Fuß in Luv, an dem Boot vor­bei. Die ›Ghost‹ narr­te sie. Das Sprietse­gel flat­ter­te schlaff, und das Boot rich­te­te sich auf, was die bei­den Män­ner schleu­nigst ver­an­lass­te, die Plät­ze zu wech­seln. Das Boot stampf­te, und wäh­rend wir uns jetzt auf ei­ner ho­hen Woge ho­ben, stürz­te es tief hin­ab.

In die­sem Au­gen­blick sa­hen Le­ach und John­son in die Ge­sich­ter ih­rer Ka­me­ra­den, die mitt­schiffs über die Re­ling lehn­ten. Kei­ner grüß­te. In den Au­gen der an­de­ren wa­ren sie Tote, und zwi­schen ih­nen lag der Ab­grund, der Le­ben­di­ge und Tote schei­det.

Gleich dar­auf be­fan­den sie sich der Ruff ge­gen­über, auf der Wolf Lar­sen und ich stan­den. Wir san­ken in das Wel­len­tal, wäh­rend sie sich auf den Kamm er­ho­ben. John­son blick­te mich mit ei­nem un­sag­bar zer­quäl­ten Aus­druck an. Ich wink­te ihm zu, und er er­wi­der­te mei­nen Gruß, aber mit ei­nem Win­ken, das hoff­nungs­los und ver­zwei­felt war. Es war, als neh­me er Ab­schied. Le­achs Au­gen konn­te ich nicht fan­gen, denn er schau­te mit dem al­ten un­ver­söhn­li­chen Hass Wolf Lar­sen an.

Dann wa­ren sie ach­ter­aus ge­kom­men. Plötz­lich füll­te sich das Sprietse­gel mit Wind, und das of­fe­ne Fahr­zeug kreng­te so, dass es aus­sah, als soll­te es ken­tern. Eine Sturz­see schäum­te dar­über hin­weg und be­grub es un­ter schnee­weißem Gischt. Dann hob sich das Boot wie­der. Es war halb voll Was­ser, und Le­ach schöpf­te wie wahn­sin­nig, wäh­rend John­son sich, weiß vor Angst, an die Ru­der­pin­ne klam­mer­te.

Wolf Lar­sen lach­te kurz und spöt­tisch und schritt nach der Acht­er­hüt­te. Ich er­war­te­te, dass er be­feh­len wür­de, bei­zu­dre­hen, aber die ›Ghost‹ hielt ih­ren Kurs, und er gab kein Zei­chen, Louis stand un­be­weg­lich am Steu­er­rad, aber ich be­merk­te, dass die vorn in Grup­pen ste­hen­den Ma­tro­sen uns be­stürzt an­blick­ten. Im­mer wei­ter schoss die ›Ghost‹, bis das Boot nur noch ein klei­ner Punkt war. Da er­tön­te Wolf Lar­sens Stim­me, die be­fahl, steu­er­bord zu hal­sen.

Wir gin­gen zu­rück, zwei Mei­len oder mehr in Luv der mit den Wel­len rin­gen­den Nuss­scha­le, dann wur­de der Au­ßenklü­ver nie­der­ge­holt, und wir dreh­ten bei. Rob­ben­boo­te sind nicht da­für ein­ge­rich­tet, ge­gen den Wind zu ge­hen. Sie sind dar­auf an­ge­wie­sen, sich in Luv zu hal­ten, um, wenn der Scho­ner an­fährt, vor dem Win­de lau­fen zu kön­nen. In die­ser gan­zen wil­den Ein­öde gab es je­doch kei­ne Zuf­lucht für Le­ach und John­son au­ßer der ›Ghost‹, und so be­gan­nen sie ent­schlos­sen ge­gen den Wind an­zu­kämp­fen. Es ging nur lang­sam in der schwe­ren See. Je­den Au­gen­blick konn­ten sie un­ter den schäu­men­den Sturz­seen be­gra­ben wer­den. Im­mer wie­der, un­zäh­li­ge Male, sa­hen wir das Boot lu­ven und wie ein Kork wie­der zu­rück­ge­schleu­dert wer­den.

John­son war ein aus­ge­zeich­ne­ter See­mann. Nach an­dert­halb Stun­den be­fand er sich fast Sei­te an Sei­te mit uns und dach­te, uns beim nächs­ten Hal­sen zu er­rei­chen.

»So, ihr hab­t’s euch über­legt?« hör­te ich Wolf Lar­sen mur­meln, als ob sie ihn hät­ten hö­ren kön­nen. »Ihr wollt an Bord, was? Na schön, dann ver­sucht’s doch. Hart Steu­er­bord!« be­fahl er Oof­ty-Oof­ty, dem Kana­ken, der un­ter­des­sen Louis am Rad ab­ge­löst hat­te. Ein Be­fehl folg­te dem an­de­ren. Der Scho­ner ging in den Wind, und Fock­schoot und Groß­schoot wur­den ge­lo­ckert. Und vor dem Win­de lie­fen wir und hüpf­ten über die Wo­gen, wäh­rend John­son un­ter Le­bens­ge­fahr sei­ne Schoot nachließ und, hun­dert Fuß hin­ter uns, un­ser Kiel­was­ser kreuz­te. Wie­der lach­te Wolf Lar­sen, und dies­mal mach­te er ih­nen Zei­chen, uns zu fol­gen. Er hat­te of­fen­bar die Ab­sicht, mit ih­nen zu spie­len, ih­nen statt der Prü­gel, wie ich an­nahm, eine Leh­re zu er­tei­len, al­ler­dings eine ge­fähr­li­che Leh­re, das leich­te Fahr­zeug konn­te je­den Au­gen­blick ken­tern. John­son braß­te so­fort vier­kant und folg­te uns. Es blieb ihm nichts an­de­res üb­rig. Wo­hin sie sich auch wand­ten, sa­hen sie sich dem Tode preis­ge­ge­ben, und es war nur eine Fra­ge der Zeit, dass eine der un­ge­heu­ren Sturz­seen das Boot tref­fen, dar­über hin­weg und wei­ter­rol­len wür­de.

»Der Tod sitzt ih­nen im Na­cken«, mur­mel­te Louis mir ins Ohr, als ich nach vorn ging, um da­für zu sor­gen, dass Au­ßenklü­ver und Stag­se­gel ein­ge­holt wur­den.

»Ach, er wird wohl bald bei­dre­hen und sie auf­neh­men«, er­mun­ter­te ich ihn, »er will ih­nen nur eine Leh­re er­tei­len, das ist al­les.«

Louis sah mich von der Sei­te an. »Glau­ben Sie das wirk­lich?« frag­te er.

»Na­tür­lich«, er­wi­der­te ich. »Du nicht?«

»Ich den­ke nur an mei­ne ei­ge­ne Haut«, lau­te­te sei­ne Ant­wort. »Und ich bin ge­spannt, wie al­les aus­läuft. Eine schö­ne Be­sche­rung hat der Whis­ky an­ge­rich­tet, den ich in Fri­s­ko trank, und das Mäd­chen ach­tern wird noch eine schö­ne Be­sche­rung für Sie an­rich­ten. Aber eins weiß ich: Sie sind ein rech­ter Narr!«

»Wie meinst du das?« frag­te ich Louis, der sich, nach­dem er sei­nen Pfeil ab­ge­schos­sen hat­te, ab­wand­te. »Wie ich das mei­ne?« rief er. »Das fra­gen Sie noch? Auf mei­ne Mei­nung kommt es nicht an, nur auf die vom Wolf. Vom Wolf sage ich, vom Wolf!«

»Wür­dest du mir bei­ste­hen, wenn es not täte?« frag­te ich un­will­kür­lich, denn er hat­te nur mei­ner ei­ge­nen Be­sorg­nis Aus­druck ver­lie­hen.

»Ih­nen bei­ste­hen? Ich ste­he nur dem al­ten di­cken Louis bei, und da­mit hab’ ich schon ge­nug zu tun. Wir sind erst am An­fang, sage ich Ih­nen, ganz am An­fang.« »Ich hät­te dich nicht für einen sol­chen Feig­ling ge­hal­ten«, höhn­te ich.

Er warf mir einen ge­ring­schät­zi­gen Blick zu. »Ich hab’ nie einen Fin­ger für den ar­men Nar­ren ge­rührt«, er wies auf das win­zi­ge Se­gel ach­tern, – »und da mei­nen Sie, ich sei ver­rückt, mir den Hals für eine Frau zu bre­chen, die ich bis zum heu­ti­gen Tage noch nie ge­se­hen habe?«

Verächt­lich wand­te ich mich ab und ging nach ach­tern. »Es ist am bes­ten, wenn Sie das Topp­se­gel ein­ho­len las­sen, Herr van Wey­den«, sag­te Wolf Lar­sen, als ich zur Ruff kam.

Ich spür­te eine Er­leich­te­rung, we­nigs­tens be­züg­lich der bei­den Män­ner. Es war klar, dass er ih­nen nicht zu weit weg­lau­fen woll­te. Bei die­sem Ge­dan­ken schöpf­te ich wie­der Hoff­nung und führ­te den Be­fehl rasch aus. Ich hat­te kaum den Mund ge­öff­net, als die Leu­te auch schon eif­rig an die Fal­le und in die Ta­ke­lung spran­gen. Wolf Lar­sen sah ih­ren Ei­fer und lä­chel­te grim­mig.

Das Boot kam im­mer nä­her und wur­de wie ein le­ben­des We­sen durch die wal­len­de grü­ne Mas­se ge­wir­belt. Es hob und senk­te sich, er­schi­en auf den un­ge­heu­ren Rücken der Wo­gen und ver­schwand hin­ter ih­nen, um kurz dar­auf wie­der zum Vor­schein zu kom­men und him­mel­an zu schie­ßen. Es schi­en un­mög­lich, durch­kom­men zu kön­nen, aber im­mer wie­der voll­brach­te es das Un­mög­li­che mit schwin­del­er­re­gen­der Fahrt. Ein Re­gen­schau­er trieb vor­bei, und aus dem Dun­kel tauch­te das Boot dicht ne­ben uns auf.

»Hart Steu­er­bord!« rief Wolf Lar­sen und sprang selbst ans Rad, um es her­um­zu­wer­fen.

Wie­der jag­te die ›Ghost‹ mit dem Wind um die Wet­te da­hin, und zwei Stun­den lang folg­ten John­son und Le­ach uns. Wir dreh­ten bei und lie­fen fort, dreh­ten bei und lie­fen fort, und im­mer noch stieg das kämp­fen­de Se­gel him­mel­wärts und stürz­te in die vor­bei­schie­ßen­den Tä­ler. Eine Vier­tel­mei­le von uns ent­zog eine dich­te Re­gen­bö das Boot un­sern Bli­cken. Es kam nie wie­der zum Vor­schein. Der Wind ver­weh­te den Re­gen, aber kein Se­gel zeig­te sich auf der be­weg­ten Flä­che. Ei­nen Au­gen­blick glaub­te ich, den schwar­zen Bo­den des Boo­tes sich von dem Gischt ei­ner bre­chen­den Wel­le ab­he­ben zu se­hen. Das war al­les. Für John­son und Le­ach war der Kampf ums Da­sein be­en­det.

Die Mann­schaft blieb in ei­ner Grup­pe mitt­schiffs ste­hen. Kei­ner ging nach un­ten, und kei­ner sprach ein Wort. Nicht ein­mal Bli­cke wur­den ge­tauscht. Alle schie­nen wie be­täubt – sie stan­den in Be­trach­tun­gen ver­sun­ken da und ver­such­ten, sich das Ge­sche­he­ne klarzu­ma­chen. Wolf Lar­sen ließ ih­nen in­des­sen nicht viel Zeit zum Nach­den­ken. Er setz­te die ›Ghost‹ in den Kurs auf die Rob­ben­her­den und nicht nach Yo­ko­ha­ma. Aber die Leu­te hat­ten ih­ren Ei­fer beim Hah­len und Fie­ren ver­lo­ren, und ich hör­te man­chen Fluch, der ih­ren Lip­pen ent­schlüpf­te, schwer und dumpf wie sie selbst. Nicht so die Jä­ger. Smo­ke, der Un­be­zähm­ba­re, er­zähl­te eine Ge­schich­te, und un­ter schal­len­dem Ge­läch­ter be­ga­ben sie sich ins Zwi­schen­deck.

Als ich auf der Lee­sei­te nach ach­tern ging, nä­her­te sich mir der Ma­schi­nist, den wir ge­ret­tet hat­ten. Sein Ge­sicht war weiß, und sei­ne Lip­pen zit­ter­ten.

»Gro­ßer Gott, was ist das für ein Fahr­zeug?« rief er. »Sie ha­ben ja selbst Au­gen im Kopf«, ant­wor­te­te ich fast bru­tal, so sehr schnür­ten Schmerz und Furcht mir das Herz zu­sam­men.

»Ihr Ver­spre­chen?« frag­te ich Wolf Lar­sen.

»Ich dach­te gar nicht dar­an, sie an Bord zu neh­men, als ich es gab«, er­wi­der­te er. »Und was auch ge­sche­hen ist, so wer­den Sie mir je­den­falls zu­ge­ben, dass ich nicht Hand an sie ge­legt habe … Im Ge­gen­teil, im Ge­gen­teil«, lach­te er einen Au­gen­blick spä­ter.

Ich ant­wor­te­te nicht. Ich war un­fä­hig, zu spre­chen, mein Geist war ver­wirrt. Ich wuss­te, dass ich Zeit brauch­te, um über das Ge­sche­he­ne nach­zu­den­ken. Die Frau, die jetzt un­ten in der Ka­jü­te schlief, bür­de­te mir eine Verant­wor­tung auf, die mir schwer aufs Herz fiel, und der ein­zi­ge ver­nünf­ti­ge Ge­dan­ke, der mir durchs Hirn fla­cker­te, war, dass ich nichts über­ei­len durf­te, wenn ich ihr über­haupt eine Hil­fe sein woll­te.

Zweiter Teil

20

Der Rest des Ta­ges ver­ging, ohne dass sich et­was er­eig­net hät­te. Der fri­sche Wind mit sei­nen Re­gen­schau­ern leg­te sich. Der vier­te Ma­schi­nist und die drei Hei­zer wur­den nach ei­ner hef­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zung mit Wolf Lar­sen neu ein­ge­klei­det, er­hiel­ten ihre Plät­ze un­ter den Jä­gern in ver­schie­de­nen Boo­ten und in den Schiffs­wa­chen an­ge­wie­sen und wur­den dann in die Back ge­schickt. Sie wag­ten nicht zu pro­tes­tie­ren. Was sie von Wolf Lar­sen ge­se­hen, hat­te sie ein­ge­schüch­tert, und was sie in der Back über ihn hör­ten, be­nahm ih­nen die letz­te Lust zur Auf­leh­nung. Miss Brewster – ich hat­te ih­ren Na­men von dem Ma­schi­nis­ten er­fah­ren – schlief im­mer noch. Beim Abend­brot bat ich die Jä­ger, lei­ser zu spre­chen, um sie nicht zu stö­ren, und erst am nächs­ten Mor­gen kam sie zum Vor­schein. Ich hat­te ihr das Es­sen ge­son­dert brin­gen las­sen wol­len. Aber Wolf Lar­sen durch­kreuz­te mei­ne Ab­sicht. Wer sie wäre, dass sie zu gut für den Ka­jüt­s­tisch und die Ka­jüts­ge­sell­schaft sei, hat­te er ge­fragt.

Aber ihr Er­schei­nen bei Tisch hat­te eine selt­sa­me Wir­kung. Die Jä­ger wur­den stumm wie die Fi­sche. Nur Jock Hor­ner und Smo­ke lie­ßen sich nicht ein­schüch­tern, war­fen ver­stoh­le­ne Bli­cke auf sie und be­tei­lig­ten sich selbst an der Un­ter­hal­tung. Die vier an­de­ren ho­ben nicht die Au­gen von ih­ren Tel­lern, sie kau­ten un­auf­hör­lich mit nach­denk­li­cher Gründ­lich­keit, und ihre Ohren be­weg­ten sich im Takt mit ih­ren Kinn­la­den wie bei fres­sen­den Tie­ren.

Auch Wolf Lar­sen sag­te an­fangs nicht viel; er ant­wor­te­te nur, wenn man sich an ihn wand­te. Nicht etwa, dass er ver­le­gen ge­we­sen wäre. Weit ent­fernt! Die­se Frau war für ihn nur ein neu­er Typ, völ­lig ver­schie­den von dem Schla­ge, den er bis­her ken­nen­ge­lernt hat­te, und er war neu­gie­rig. Er stu­dier­te sie, sei­ne Au­gen lie­ßen kaum von ih­rem Ge­sicht, es ge­sch­ah denn, um die Be­we­gun­gen ih­rer Hän­de und Schul­tern zu be­ob­ach­ten. Ich selbst stu­dier­te sie eben­falls, und ob­wohl ich die Kos­ten der Un­ter­hal­tung trug, war ich doch ein we­nig schüch­tern. Er hin­ge­gen war die Ruhe, das un­er­schüt­ter­li­che Selbst­ver­trau­en sel­ber; er fürch­te­te eine Frau nicht mehr als Sturm und Kampf.

»Und wann sind wir in Yo­ko­ha­ma?« wand­te sie sich an ihn und blick­te ihm ge­ra­de in die Au­gen.

Das war die kla­re Fra­ge. Die Kinn­la­den hör­ten zu ar­bei­ten auf, die Ohren be­weg­ten sich nicht mehr, und wenn auch die Au­gen wei­ter auf den Tel­lern haf­ten blie­ben, lausch­te doch je­der be­gie­rig auf die Ant­wort. »In vier Mo­na­ten, viel­leicht auch in drei­en, wenn die Jagd­zeit früh vor­über ist«, sag­te Wolf Lar­sen.

Sie schnapp­te nach Luft und stam­mel­te: »Ich – ich dach­te – man ließ mich in dem Glau­ben, dass Yo­ko­ha­ma nur eine Ta­ge­rei­se ent­fernt sei. Das …« Sie mach­te eine Pau­se und blick­te von ei­nem auf das an­de­re die­ser un­sym­pa­thi­schen Ge­sich­ter im Krei­se, die fest auf ihre Tel­ler starr­ten. »Das kann nicht rich­tig sein«, schloss sie.

»Das ist eine Fra­ge, die Sie mit Herrn van Wey­den ab­ma­chen müs­sen«, er­wi­der­te er, in­dem er mir au­gen­zwin­kernd zu­nick­te. »Herr van Wey­den ist so et­was wie eine Au­to­ri­tät in Fra­gen des Rech­tes. Ich bin nur ein ein­fa­cher See­mann und sehe die Si­tua­ti­on da­her et­was an­ders an. Für Sie mag es viel­leicht ein Un­glück sein, dass Sie hier­blei­ben müs­sen, aber für uns ist es si­cher ein Glück.«

Er sah sie lä­chelnd an. Ihre Au­gen senk­ten sich vor sei­nem Blick, aber sie hob sie wie­der trot­zig zu den mei­nen. »Was mei­nen Sie?« frag­te sie.

»Dass es schlimm wäre, na­ment­lich wenn Sie Ver­pflich­tun­gen für die nächs­ten Mo­na­te über­nom­men hät­ten. Da Sie aber, wie Sie sa­gen, le­dig­lich aus Ge­sund­heits­rück­sich­ten nach Ja­pan rei­sen woll­ten, kann ich Ih­nen ver­si­chern, dass Sie sich nir­gends bes­ser er­ho­len kön­nen als an Bord der ›Ghost‹.«

Ich sah ihre Au­gen un­wil­lig auf­blit­zen, und dies­mal senk­te ich den Blick und fühl­te, dass ich un­ter dem ih­ren er­rö­te­te. Ich war fei­ge, aber was hät­te ich tun sol­len.

»Herr van Wey­den ist Au­to­ri­tät auf die­sem Ge­bie­te«, lach­te Wolf Lar­sen.

Ich nick­te, und sie blick­te mich, jetzt wie­der be­herrscht, er­war­tungs­voll an.

»Nicht, dass er ge­ra­de schon da­mit prah­len könn­te«, fuhr Wolf Lar­sen fort, »aber er hat sich pracht­voll er­holt. Sie hät­ten ihn se­hen sol­len, als er an Bord kam. Ein jäm­mer­li­che­res Exem­plar der Gat­tung Mensch hät­te man schwer­lich fin­den kön­nen. Stimmt das, Ker­foot?«

Ker­foot war bei die­ser di­rek­ten An­re­de so be­stürzt, dass er das Mes­ser zu Bo­den fal­len ließ, aber es ge­lang ihm, zu­stim­mend zu grun­zen.

»Hat sich her­aus­ge­macht, durch Kar­tof­fel­schä­len und Tel­ler­wa­schen, was, Ker­foot?«

Wie­der grunz­te der Wür­di­ge.

»Und schau­en Sie ihn sich jetzt an! Er ist zwar nicht das, was man mus­ku­lös nennt, aber er hat doch Mus­keln, und das konn­te man nicht von ihm sa­gen, als er an Bord kam. Und dazu hat er ge­lernt, auf ei­ge­nen Fü­ßen zu ste­hen. Wenn Sie ihn jetzt se­hen, glau­ben Sie es viel­leicht nicht, aber im An­fang war er ganz au­ßer­stan­de dazu.«

Die Jä­ger ki­cher­ten, sie aber sah mich mit ei­nem Mit­ge­fühl an, das Wolf Lar­sens Un­ver­schämt­heit reich­lich auf­wog. Wahr­lich: so lan­ge hat­te ich kein Mit­ge­fühl ge­fun­den, dass mir ganz weich ums Herz wur­de. In die­sem Au­gen­blick wur­de ich – und zwar freu­dig – ihr will­fäh­ri­ger Skla­ve. Aber ich war zor­nig auf Wolf Lar­sen. Mit sei­nen ge­ring­schät­zi­gen Be­mer­kun­gen for­der­te er mei­ne Männ­lich­keit, for­der­te er die Selbst­stän­dig­keit her­aus, die er mir ver­schafft hat­te.

»Ich habe viel­leicht ge­lernt, auf ei­ge­nen Fü­ßen zu ste­hen«, ent­geg­ne­te ich, »aber noch nicht, auf die an­de­rer zu tre­ten.«

Er warf mir einen höh­ni­schen Blick zu. »Dann ist Ihre Er­zie­hung erst halb vollen­det«, sag­te er tro­cken und wand­te sich wie­der an sie.

»Wir sind sehr gast­freund­lich auf der ›Ghost‹. Herr van Wey­den kann das be­stä­ti­gen. Wir tun al­les, um es un­se­ren Gäs­ten an­ge­nehm zu ma­chen, nicht wahr, Herr van Wey­den?«

»Ja, bis zu Kar­tof­fel­schä­len und Tel­ler­wa­schen«, ant­wor­te­te ich, »gar nicht da­von zu re­den, dass ei­nem aus lau­ter Freund­schaft der Hals um­ge­dreht wird.«

»Ich bit­te Sie, sich durch Herrn van Wey­den kei­ne falschen Vor­stel­lun­gen ma­chen zu las­sen«, leg­te er sich mit an­ge­nom­me­ner Ängst­lich­keit da­zwi­schen, »Sie wer­den be­merkt ha­ben, Miss Brewster, dass er ein Mes­ser im Gür­tel trägt, et­was – hm – et­was ganz Un­ge­wöhn­li­ches für einen Schiff­s­of­fi­zier. Herr van Wey­den ist zwar sehr eh­ren­wert, aber, wie soll ich sa­gen, ein we­nig streit­süch­tig und ge­braucht schar­fe Mit­tel. In ru­hi­gen Au­gen­bli­cken ist er ganz ver­nünf­tig und um­gäng­lich, und da er jetzt ru­hig ist, wird er nicht leug­nen, dass er mir ges­tern an den Kra­gen woll­te.«

Ich woll­te vor Wut er­sti­cken, und mei­ne Au­gen schos­sen Blit­ze. Er fuhr fort:

»Schau­en Sie ihn jetzt an. Er kann sich kaum in Ih­rer Ge­gen­wart be­herr­schen. Er dürf­te nicht ge­wohnt sein, sich in Ge­sell­schaft von Da­men zu be­we­gen. Ich wer­de mich be­waff­nen müs­sen, ehe ich wa­gen kann, mit ihm an Deck zu ge­hen.«

Er schüt­tel­te trau­rig den Kopf und mur­mel­te: »Schlimm, schlimm!«, wäh­rend die Jä­ger in schal­len­des Ge­läch­ter aus­bra­chen.

Die rau­en Stim­men die­ser See­bä­ren hall­ten pol­ternd und brül­lend in dem en­gen Raum wi­der und ta­ten eine merk­wür­di­ge Wir­kung. Die gan­ze Um­ge­bung war wild und un­heim­lich, und als ich nun die­se frem­de Frau be­trach­te­te und mir vor­stell­te, wie we­nig sie hier her­ein­pass­te, wur­de mir zum ers­ten Mal klar, wie sehr ich selbst es tat. Ich kann­te die­se Män­ner und ihr See­len­le­ben, und ich war selbst ei­ner der Ihren, leb­te das Le­ben, aß die Kost und dach­te die Ge­dan­ken der Rob­ben­fän­ger. Für mich war nichts Merk­wür­di­ges mehr an ih­ren rau­en Klei­dern, ih­ren ge­mei­nen Ge­sich­tern, dem wil­den Ge­läch­ter, an den schwan­ken­den Ka­jü­ten­wän­den oder den schwin­gen­den Schiffs­lam­pen. Als ich mir ein Stück But­ter­brot schmier­te, fiel mein Blick zu­fäl­lig auf mei­ne Hän­de. Die Knö­chel wa­ren haut­los und ent­zün­det, die Fin­ger ge­schwol­len, die Nä­gel schwarz­ran­dig. Ich fühl­te die dich­ten Bart­stop­peln auf mei­nem Hal­se und wuss­te, dass ein Är­mel mei­ner Ja­cke zer­ris­sen war und ein Knopf an mei­nem blau­en Hem­de fehl­te. Das Mes­ser, das Wolf Lar­sen er­wähnt hat­te, hing in ei­ner Schei­de an mei­ner Hüf­te. Es war sehr na­tür­lich, dass es dort hing – wie na­tür­lich, war mir nicht ein­ge­fal­len, bis ich es jetzt mit ih­ren Au­gen an­sah und mir be­wusst wur­de, wie selt­sam ihr dies und al­les an­de­re vor­kom­men muss­te.

Aber sie er­riet den Spott in Wolf Lar­sens Wor­ten und sand­te mir wie­der einen mit­lei­di­gen Blick. Gleich­zei­tig las ich je­doch Be­stür­zung in ih­ren Au­gen. Sei­ne Ne­cke­rei­en mach­ten die Si­tua­ti­on nur noch ver­wir­ren­der für sie.

»Ein vor­bei­fah­ren­des Schiff kann mich viel­leicht auf­neh­men«, schlug sie vor.

»Es gibt kei­ne vor­bei­fah­ren­den Schif­fe au­ßer an­de­ren Rob­ben­scho­nern«, gab Wolf Lar­sen zur Ant­wort.

»Ich habe kei­ne Klei­der, nichts«, wand­te sie ein. »Sie den­ken si­cher nicht dar­an, dass ich kein Mann und das un­s­te­te Le­ben, das Sie und Ihre Leu­te füh­ren, nicht ge­wohnt bin.«

»Je eher Sie sich dar­an ge­wöh­nen, de­sto bes­ser«, sag­te er.

»Ich wer­de Sie mit Stoff, Na­del und Fa­den ver­se­hen«, füg­te er hin­zu. »Ich hof­fe, es wird Ih­nen nicht all­zu viel Mühe ma­chen, sich ein oder zwei Klei­der zu nä­hen.« Sie ver­zog den Mund, um ihre Uner­fah­ren­heit im Schnei­dern kund­zu­tun. Dass sie ängst­lich und ver­wirrt war und tap­fer ver­such­te, es zu ver­ber­gen, war mir ganz klar.

»Ich neh­me an, dass Sie eben­so wie Herr van Wey­den dort ge­wohnt sind, al­les durch an­de­re für sich tun zu las­sen. Nun, ich den­ke, Ih­nen wird kein Stein aus der Kro­ne fal­len, wenn Sie ein­mal selbst et­was für sich tun müs­sen. Wo­mit er­wer­ben Sie sich üb­ri­gens Ihren Un­ter­halt?«

Sie sah ihn mit un­ver­hoh­le­nem Er­stau­nen an.

»Ich will Sie nicht be­lei­di­gen, glau­ben Sie mir. Man isst, da­her muss man ar­bei­ten. Die­se Män­ner hier schie­ßen Rob­ben, um zu le­ben; aus dem­sel­ben Grun­de füh­re ich die­sen Scho­ner, und Herr van Wey­den ver­dient sich, we­nigs­tens jetzt, sein Brot, in­dem er mir hilft. Nun, und was tun Sie?«

Sie zuck­te die Ach­seln.

»Er­näh­ren Sie sich selbst, oder wer­den Sie durch an­de­re er­nährt?«

»Ich fürch­te, den größ­ten Teil mei­nes Le­bens hat mich ein an­de­rer er­nährt«, lach­te sie, in­dem sie einen tap­fe­ren Ver­such mach­te, auf den necki­schen Ton Wolf Lar­sens ein­zu­ge­hen, ob­gleich ich wach­sen­des Ent­set­zen in ih­ren Au­gen auf­stei­gen sah.

»Ich neh­me an, dass ein an­de­rer auch das Bett für Sie macht?«

»Ich habe mir mein Bett ge­macht«, er­wi­der­te sie.

»Oft?«

Sie schüt­tel­te den Kopf mit ver­stell­ter Reue.

»Wis­sen Sie, was man in den Staa­ten mit Ar­men tut, die wie Sie nicht für ih­ren Un­ter­halt ar­bei­ten?«

»Ich bin sehr un­wis­send«, er­wi­der­te sie, »was tut man mit mei­nes­glei­chen?«

»Man sperrt sie ein. Das Ver­bre­chen, sei­nen Le­bens­un­ter­halt nicht zu ver­die­nen, wird Land­strei­che­rei ge­nannt. Wäre ich Herr van Wey­den, der sich an­dau­ernd mit der Fra­ge be­schäf­tigt, was Recht und Un­recht ist, so wür­de ich fra­gen, mit wel­chem Recht Sie le­ben, wenn Sie nichts tun, um Ihren Un­ter­halt zu ver­die­nen?«

»Da Sie aber nicht Herr van Wey­den sind, brau­che ich Ih­nen nicht zu ant­wor­ten, nicht wahr?«

Sie sand­te ihm aus ih­ren angst­vol­len Au­gen einen strah­len­den Blick, der so rüh­rend war, dass es mir ins Herz schnitt. Ich muss­te ir­gend­wie ver­su­chen, dem Ge­spräch eine an­de­re Wen­dung zu ge­ben.

»Ha­ben Sie je einen Dol­lar durch ei­ge­ne Ar­beit ver­dient?« frag­te er tri­um­phie­rend, im vor­aus sei­ner Sa­che si­cher.

»Ja, das habe ich«, ant­wor­te­te sie lang­sam, und ich hät­te fast über sein ver­le­ge­nes Ge­sicht la­chen kön­nen. »Ich er­in­ne­re mich, dass mein Va­ter mir ein­mal, als ich ein klei­nes Mäd­chen war, einen Dol­lar gab, weil ich fünf Mi­nu­ten lang still war.«

Er lä­chel­te nach­sich­tig.

»Aber das ist lan­ge her«, fuhr sie fort. »Und Sie wer­den wohl kaum ver­lan­gen, dass ein neun­jäh­ri­ges Mäd­chen sich sei­nen Le­bens­un­ter­halt selbst ver­dient.«

»Ge­gen­wär­tig aber«, fuhr sie nach ei­ner kur­z­en Pau­se fort, »ver­die­ne ich un­ge­fähr acht­zehn­hun­dert Dol­lar jähr­lich.«

Alle Au­gen ho­ben sich auf ein­mal von den Tel­lern und hef­te­ten sich auf sie. Eine Frau, die acht­zehn­hun­dert Dol­lar jähr­lich ver­dien­te, war wert, an­ge­schaut zu wer­den. Wolf Lar­sen ver­hehl­te sei­ne Be­wun­de­rung nicht.

»Ge­halt oder Ak­kord­ar­beit?«

»Ak­kord­ar­beit«, ant­wor­te­te sie rasch.

»Acht­zehn­hun­dert«, rech­ne­te er. »Das macht hun­dert­und­fünf­zig mo­nat­lich. Nun, Fräu­lein Brewster, wir sind nicht klein­lich auf der ›Ghost‹. Be­trach­ten Sie sich für die Dau­er Ihres Auf­ent­halts als mit dem­sel­ben Ge­halt an­ge­stellt.«

Sie sag­te nichts. Sie war sei­ne Ein­fäl­le noch nicht so ge­wohnt, dass sie sie mit Gleich­mut hin­ge­nom­men hät­te.

»Ich ver­gaß zu fra­gen«, fuhr er lie­bens­wür­dig fort, »wel­cher Art Ihre Be­schäf­ti­gung ist. Was für Werk­zeu­ge und Ma­te­ri­al brau­chen Sie?«

»Pa­pier und Tin­te«, lach­te sie. »Ach, und auch eine Schreib­ma­schi­ne.«

»Sie sind Fräu­lein Maud Brewster«, sag­te ich lang­sam und si­cher, als be­schul­dig­te ich sie ei­nes großen Ver­bre­chens.

Ihre Au­gen ho­ben sich neu­gie­rig zu den mei­nen. »Wo­her wis­sen Sie das?«

»Stimmt es nicht?« frag­te ich.

Sie nick­te zu­stim­mend. Jetzt war die Rei­he, ver­blüfft zu sein, an Wolf Lar­sen. Ihm be­deu­te­te der Name nichts. Ich war stolz dar­auf, dass er mir et­was be­deu­te­te, und zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit wur­de ich mir mei­ner Über­le­gen­heit über ihn be­wusst.

»Ich er­in­ne­re mich, eine Be­spre­chung über ein Bänd­chen von Ih­nen ge­schrie­ben zu ha­ben – –«, be­gann ich, aber sie un­ter­brach mich.

»Sie!« rief sie. »Sie sind – –«

Jetzt nick­te ich mei­ner­seits zu­stim­mend.

»Hum­phrey van Wey­den!« schloss sie – dann füg­te sie mit ei­nem Seuf­zer der Er­leich­te­rung hin­zu, ohne dar­an zu den­ken, dass Wolf Lar­sen ihn be­mer­ken muss­te: »Wie mich das freut!«

»Ich ent­sin­ne mich recht wohl der Be­spre­chung«, fuhr sie fort, als sie sich be­wusst wur­de, wie selt­sam ihre Be­mer­kung wir­ken muss­te. »Sie war wirk­lich zu schmei­chel­haft.«

»Kei­nes­wegs«, ver­nein­te ich schnell. »Sie set­zen mei­ne nüch­ter­ne Ur­teils­kraft her­ab und ent­wer­ten mei­ne Kri­tik. Im üb­ri­gen stim­men alle Kri­ti­ker mit mir über­ein. Hat Lang nicht Ihr Ge­dicht ›Der ge­dul­de­te Kuss‹ zu den vier größ­ten So­net­ten ge­zählt, die von Frau­en in eng­li­scher Spra­che ge­schrie­ben wor­den sind?«

»Sie sind sehr gü­tig«, mur­mel­te sie, und ge­ra­de das Kon­ven­tio­nel­le ih­rer Wor­te und der gan­ze Schwarm von Vor­stel­lun­gen des frü­he­ren Le­bens auf der an­de­ren Sei­te der Welt durch­zuck­ten mich – reich an Erin­ne­run­gen, aber auch ste­chend vor Heim­weh.

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Altersbeschränkung:
18+
Umfang:
5251 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783962813475
Rechteinhaber:
Bookwire
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