Mein Morbi und ich

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Mein Morbi und ich
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Iris Weitkamp

Mein Morbi und ich

Vom genussvollen Umgang mit einer unheilbaren Krankheit namens Morbus Crohn

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Urheberrecht

Leitwort

Einige Vorworte

ERSTES KAPITEL: Eher keine Partygespräche

ZWEITES KAPITEL: Selten so gut geschlafen

DRITTES KAPITEL: Hau den Woody – das Imodium-Spiel

VIERTES KAPITEL: Das ging ins Auge

FÜNFTES KAPITEL: Spieglein, Spieglein an der Darmwand ...

SECHSTES KAPITEL: Mit Morbi allein zu Haus

SIEBTES KAPITEL: Immer hereinspaziert, meine Damen und Herren, ins Gruselkabinett!

ACHTES KAPITEL: Auf neunundvierzig Mückenstichen nach Kosh Agash

NEUNTES KAPITEL: Morbis Lebenslauf

ZEHNTES KAPITEL: Selbst mit Leid

ELFTES KAPITEL: Kaffeegespräche mit einer Freundin

ZWÖLFTES KAPITEL: Schmutziger Sex

DREIZEHNTES KAPITEL: Erbse auf elf Uhr

VIERZEHNTES KAPITEL: Viszerale Wiedergeburt

FÜNFZEHNTES KAPITEL: Spreu und Weizen

Und noch ...

Literaturliste

Impressum neobooks

Urheberrecht

Hinweis zum Urheberrecht (auf Neudeutsch Copyright):

Alle Rechte vorbehalten. Das Buch darf, auch auszugsweise, egal in welcher Form und durch welches Mittel, nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Leitwort

Es gibt kein Verbot für kranke Weiber,

auf Bäume zu klettern.

(nach Astrid Lindgren)

Einige Vorworte

Die Situation, in der ich mich als Patientin mit einer chronischen Erkrankung befinde, erinnert stark an eine Wohngemeinschaft. Dummerweise war ich nie der Typ für Wohngemeinschaften.

Ich lebe seit zehn Jahren mit Morbus Crohn, einem ungepflegten, faulen Mitbewohner, der in Küche und Bad eine Sauerei hinterlässt und seinen Anteil an der Miete schuldig bleibt. Der den letzten Joghurt wegfuttert, ohne anzuklopfen in fremde Schlafzimmer platzt und ungeniert furzt. Dem der Gebrauch einer Klobürste vollkommen fremd ist. Einem lästigen, peinlichen Typen wie Spike aus dem Film ‚Notting Hill’, dem versauten, rasend unverschämten Untermieter von Gutmensch William.

Als Morbi damals bei mir einzog fragte ich mich, wie ich überhaupt an einen solchen Mistkerl geraten konnte. Und wie ich ihn schnellstmöglichst wieder los würde. Am Kragen packen und rauswerfen wollte ich den Burschen. Leider verfügt er über einen unbefristeten Mietvertrag. Alles Wüten und mit dem Rechtsanwalt drohen hilft nichts - er lümmelt unbeeindruckt auf dem Sofa und grinst: „Also, mir gefällt`s hier.“

Als ich meine Diagnose bekam, sah ich zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Entweder mit dem Fuß aufzustampfen, mich wie ein trotziges Kind auf den Boden zu werfen und zu quengeln. Oder mir das Leben mit der Krankheit so angenehm zu gestalten, wie es geht. Die erste Möglichkeit erschien verlockend, weil sofort umsetzbar. Sie barg jedoch gravierende Nachteile. In Selbstmitleid zu schwelgen, in der Rolle des bedauernswerten Opfers zu verharren, würde wohl kaum meine Lebensqualität erhöhen. Im Gegenteil, es wäre eine Zumutung für meinen Partner, mein gesamtes soziales Umfeld und für mich selbst. Allerdings ... solange das Jammern eine Ausnahme bliebe und nicht zum Selbstzweck ausartete, könnte ich mir die eine oder andere wehleidige Phase gönnen ...? Wenn ich mir ein Zeitlimit setzte: Zwanzig Minuten / bis morgen früh / bis der Wecker klingelt - dann wäre es doch in Ordnung? Frisch ausgeheult, würde ich danach wieder Taten folgen lassen!

Ich schielte aus meinem Jammertal nach der zweiten Möglichkeit. Hm. Mich konstruktiv mit der Krankheit auseinander zu setzen, mit der ich Alltag und Körper zu teilen haben würde ... dies roch nach Arbeit. Und es war Arbeit. Aber gleichzeitig wurde es spannend! Ich entdeckte, dass mein ungebetener Mitbewohner, ebenso wie Spike, manchmal eine gutherzige Seite zeigt. Dass er, wenn es darauf ankommt, seinem Vermieter sogar helfend zur Seite stehen kann.

Wer ist mein unerwünschter Mitwohni überhaupt?

Ein gewisser Antoni Lesniowski studierte Medizin an der Universität von Warschau und in Berlin. Nach seiner Promotion arbeitete er als Chirurg in Warschau und beschrieb 1904 als erster Arzt jenes Krankheitsbild, welches mich heute auf Trab hält. Es handelt sich um eine chronisch entzündliche Darmerkrankung (CED), die zur Gruppe der Autoimmunerkrankungen gehört. Vereinfacht gesagt, betrifft die chronische Entzündung hauptsächlich den Dünndarm, es können jedoch Bereiche des gesamten Magen-Darm-Traktes, häufig der Darmausgang, befallen sein. Zu den Symptomen gehören Bauchschmerzen, Durchfall und Fieber. Nicht selten kommt es zu vernarbten Stellen, Darmverengungen bis hin zu Darmverschlüssen, Fisteln oder Durchbrüchen zum Magen oder zur Scheide. Die Entzündung kann sich bis in die Augen, die Gelenke und die Wirbelsäule ausbreiten, auch auf Haut, Leber und Gallenwege übergreifen.

Achtundzwanzig Jahre später dokumentierten die nordamerikanischen Magen - und Darmspezialisten Burrill Bernard Crohn, Leon Ginzburg und Gordon D. Oppenheimer ebenfalls diese Krankheit.

Nun wird niemand ernsthaft glauben, die Vereinigten Staaten von Amerika könnten bei irgendeiner Gelegenheit den Kürzeren ziehen. Und ganz und gar undenkbar scheint es, ein Amerikaner könne einem Polen gegenüber den Kürzeren ziehen. So auch jetzt. Die Krankheit ist uns, trotz achtundzwanzig Jahren Vorsprung des polnischen Arztes, weltweit unter dem Namen ‚Crohn`s disease’ (Morbus Crohn) geläufig. Einzig in der polnischen Literatur hält sich die Bezeichnung ‚Lesniowski-Crohn's disease’ mit einem trotzigen Stolz, für den ich vor den Polen einfach den Hut ziehen muss.

Zwischen den drei Amerikanern ergab sich die Namensgebung angeblich dadurch, dass der Nachname ‚Crohn’ im Alphabet am weitesten vorne steht. Ich denke eher, die Jungs haben das in einer Pokerpartie entschieden. Oder der durchsetzungsstarke Burrill hat Leon und Gordon unter den Tisch getrunken. Unser guter B.B. erlangte jedenfalls Weltruhm und praktizierte angeblich noch als Neunzigjähriger.

Hinsichtlich der Ursachen und einer vollständigen Heilung von Morbus Lesniowski-Crohn scheint man heute im Grunde nicht sehr viel weiter zu sein, als man es zur Zeit der Erstbeschreibung war. Engagierte Fachärzte und Forscher mögen mir verzeihen, dies ist mein eigener laienhafter Eindruck. Als ich mich über Morbus Crohn informierte, fand ich eine Fülle von Vermutungen, aber nur wenige harte Fakten.

Das Einzige, was in Bezug auf Morbus Crohn wirklich gesichert scheint, ist seine Diagnose. Ich weiß also zweifelsfrei, unter welcher Krankheit ich leide. Damit hat es sich auch schon mit den Gewissheiten, alles Weitere ist eine Kette von ‚sehr wahrscheinlich’, ‚der Erfahrung nach’ und ‚vielleicht’.

Möglicherweise sind Bakterien oder ein Virus für die Erkrankung verantwortlich. Letzterer gilt als nicht ansteckend und könnte jahrelang unbeachtet im Körper schlummern. Andere Theorien gehen von bestimmten genetischen Anlagen beziehungsweise Defekten aus. Warum die Krankheit bei dem einen Menschen ausbricht, beim anderen nicht, und wodurch dieser Ausbruch ausgelöst wird – ein enger Zusammenhang mit seelischer Belastung und Stress gilt als sicher. Im Krankheitsverlauf wechseln sich Phasen verstärkter Aktivität und akuter Entzündungen mit mehr oder weniger beschwerdefreien Ruhephasen ab. Morbus Crohn gilt als unheilbar, auch wenn in schöner Regelmäßigkeit neue Wunderwaffen präsentiert werden (beispielsweise der Schweinebandwurm oder eine hoch dosierte Cortisongabe).

Was die moderne Medizin leisten kann, ist die Linderung und Bekämpfung der Symptome. Und hier gibt es zweifelsohne eine Weiterentwicklung zu verzeichnen. Im günstigsten Fall ermöglicht sie dem Patienten ein weitgehend normales Leben. Sogar die Beschwerdefreiheit über einen längeren Zeitraum, Monate oder gar Jahre, ist möglich.

 

Zuletzt las ich, dass in den westlichen Industriestaaten von 100.000 Menschen ungefähr 150 an CED leiden. Wie bei vielen Autoimmunerkrankungen ist die Zahl der neu erkrankten Personen in den letzten Jahren stark gestiegen. Sie wird vermutlich, gefördert durch den zunehmenden Druck in allen Bereichen des Lebens, weiter steigen. Und jeder dieser neu erkrankten Menschen steht erschrocken, fassungslos, klagend oder tapfer der neuen Realität gegenüber, sieht sein ganzes Leben sich verändern.

Als ich die Diagnose erfuhr, mein mangelhafter Gesundheitszustand also endlich einen Namen bekam, spürte ich vor allem: Erleichterung. Es war, als habe in meiner Speisekammer monatelang ein Ungeziefer die Lebensmittel angefressen, resistent gegen Fallen, Gifte und Abschreckung. Und eines Abends, als ich überraschend die Tür aufriss, hockte es entlarvt im Lichtkegel und blinzelte.

„Ha!“, dachte ich, „Hab ich dich endlich, Morbus Crohn!“

In Wirklichkeit hatte eher er mich, aber das wusste ich noch nicht. Ich fühlte mich fast als Siegerin. Den Feind kennen, sagt ein chinesisches Sprichwort, heißt ihn besiegen.

Die alten Chinesen waren glücklich dran, sie besaßen keinen Internetanschluss. Ich schon. Ich suchte im World Wide Web nach Informationen und fand das nackte Grauen. In den Foren der Selbsthilfe(?)gruppen schienen sich ausschließlich Leidensgenossen zu tummeln, deren Leben quasi vorbei war (wobei ihre Energie leider noch zum Verbreiten von Horrorgeschichten reichte). Nach der Lektüre unzähliger Berichte über Magendurchbrüche und künstliche Darmausgänge bekam ich nächtelang kein Auge zu.

Doch mit der Zeit sammelte ich meine eigenen Erfahrungen und bemerkte, dass man mir nur die halbe Wahrheit erzählt hatte. Mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung bricht nicht automatisch das reine Elend über einen herein, jedenfalls nicht nur. Natürlich gibt es Momente des reinen Elends. Ich will nicht behaupten, dass Morbus Crohn ein pures Vergnügen sei. Schmerzen, Erschöpfung, körperliche und seelische Beeinträchtigungen sind jedoch nur eine Seite der Krankheit. Daneben kommen Denkanstöße, Chancen zur Veränderung, sogar wirklich witzige Situationen auf einen zu. Als es mir gelang, Augen und Ohren zu öffnen, konnte ich unglaublich viel lernen. Die Krankheit und ich haben so viel Zeit miteinander verbracht, so viel erlebt, dass mein ungebetener Gast all seine Gesichter zeigte. Mein Morbi ist ein Blödmann und eine Nervensäge, ein unschätzbarer Spiegel, der mir so manches Mal vorgehalten wird. Ein Till Eulenspiegel, mein persönlicher Hofnarr. Unter Verwendung allerlei lästiger Possen zeigt er an, was nicht so ganz rund läuft bei mir. Ich bin dankbarer geworden, demütiger, auch risikofreudiger. Nicht, weil ich nichts mehr zu verlieren hätte, sondern weil ich merke, wie unendlich viel es zu verlieren gibt.

Bald ergaben sich persönliche Gespräche mit anderen Betroffenen von Autoimmunerkrankungen. Eine Kollegin erfuhr ihre Diagnose ‚Multiple Sklerose’ und fürchtete, dies würde sie den Job, ihren Verlobten, ihr ganzes bisheriges Leben kosten. Der Neffe einer Freundin glaubte, wegen des Morbus Crohn seinen Traum vom Reisen aufgeben zu müssen. Eine Psychotherapeutin seufzte, ihre Patientin habe wegen einer CED allen Lebensmut verloren. Jeder dieser Menschen war heilfroh, von ermutigenden, ja sogar guten Erfahrungen zu hören. Bedauerlicherweise ließ der Konsum von Erfahrungsberichten eher ein Gefühl des Grauens oder mindestens der Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit zurück. Kaum jemand gab sich Mühe, dem etwas Positives entgegenzusetzen.

Also legte ich ein großes Brett quer über Regal und Sofalehne, rückte einen Küchenstuhl heran und schrieb Morbis und meine gemeinsame Geschichte auf.

Warum nenne ich meine Krankheit ‚Morbi’? Es klingt nicht so auf Kampf gebürstet, weniger formell als ‚Morbus Crohn’. Immerhin wohnen wir im selbem Körper. Würde man sich in einer WG mit ‚Sie’ anreden? „Entschuldigen Sie mal, Frau Meier, Sie haben diesen Monat nicht ein einziges Mal den Müll raus getragen …“? Eher nicht.

Mein Morbi und ich haben zusammen für die Europäische Kommission gearbeitet, an Naturschutzexpeditionen teilgenommen und in einer Gruppe von fünftausend Atomkraftgegnern auf der Straße geschlafen. Wir hocken ständig aufeinander, da braucht es einen knackigen Rufnamen.

Während ‚Morbi’ schlimmstenfalls ein wenig albern wirkt, mag meine pragmatische (ignorante?) Haltung zur politisch korrekten Formulierung gelegentlich weiblichen Unmut hervorrufen. Ich wähle zur besseren Lesbarkeit die allgemeine, nun einmal männliche Form. Die weibliche ist, in Wort und Schrift wie in Fleisch und Blut, halt ein bisschen komplizierter. Eventuell empörte Leserinnen bitte ich um Nachsicht, dass ich nicht ein ganzes Buch lang Stolpersteine wie „LeserInnen, KollegInnen“ oder „Leserinnen und Leser, Kolleginnen und Kollegen“ vor unseren Augen umherkollern lasse. Es liest (und schreibt) sich angenehmer, wenn man sein Bewusstsein nicht permanent vor sich her tragen muss.

‚Mein Morbi und ich’ möchte nicht behaupten, ein Fachbuch über Morbus Crohn zu sein. Medizinische Fachliteratur existiert in ausreichender Zahl und hoher Qualität, so dass ich dem kaum etwas hinzuzufügen hätte.

Doch die erste Frage, die jedem Autor oder Buchhändler gestellt wird, lautet: „In welche Kategorie gehört das?“ Der Drang zum Schubladendenken ist übermächtig. Und die Kriterien der Sortierung bleiben trotzdem ein Rätsel. Zum Beispiel fand ich ‚Dilbert’ in einem großen Berliner Büchertempel nicht unter ‚Comics’, sondern unter ‚Wirtschaft’. Liegt das nun am Zustand unserer Wirtschaft - oder der Schlagfertigkeit des Händlers?

Vielleicht steht ‚Mein Morbi und ich’ ja unter ‚Reiseliteratur’ - das würde sogar passen.

ERSTES KAPITEL: Eher keine Partygespräche

Eine Darmerkrankung ist leider kein bisschen schick.

Sie ist lästig, oft peinlich, manchmal sogar ekelig, und taugt überhaupt nicht zum Smalltalk auf Parties. Erkrankungen im Magen-Darm-Bereich haben nichts Heldenhaftes an sich. Eher schleicht sich das Bild eines mickrigen Verlierers vor das geistige Auge, als das eines tapferen Recken, der im edlen Kampf mit den Elementen seine Blessuren davongetragen hat. Man denke nur an die Gespräche am Arbeitsplatz, nachdem sich ein Kollege krank meldete:

„Herr Schulze hat sich beim Snowboarden die Schulter gebrochen.“

„Was Sie nicht sagen! Ich wusste gar nicht, dass der Snowboard fährt. Mann, das tut bestimmt sauweh. Und in zwei Wochen will der schon wiederkommen?“

(Ein ganzer Kerl!)

„Kollege Müller hat Magen-Darm ...“

„Ja ... der fehlt jetzt schon den dritten Tag ...“

(Nur Loser kriegen so einen Kram. Was für eine Lusche).

Durchfall ist nichts Schlimmes. Gelegentliche Bauchschmerzen sind nichts Ungewöhnliches. Beides zusammen fand ich zunächst einmal unangenehm und lästig, aber die Beschwerden kamen und gingen - ich dachte jedesmal „Ok, das war`s endlich“. Und nach ein paar Wochen, nach einem Monat: „Och nee, wohl schon wieder was Falsches gegessen“. Unmerklich wurden die Abstände zwischen den vermeintlich einzelnen Erkrankungen immer kürzer. Noch immer sah ich den Zusammenhang nicht, ja wusste nicht einmal, dass ich unter einer ganz bestimmten, schon längere Zeit andauernden Erkrankung litt.

Die in meinem Körper lange ein relativ ungestörtes Dasein fristen konnte. Ich war ja so beschäftigt! Meine Arbeit als Verwaltungsbeamtin, zahlreiche Hobbies, ein großer Freundeskreis - das Leben um mich herum beanspruchte meine volle Aufmerksamkeit. Leerlauf fand nicht statt. Zusätzlich hatte ich diese beinharte Einstellung, von klein auf wacker geübt: geht nicht, gibt`s nicht. Meinen Körper nahm ich als ein williges Werkzeug, das mir unbegrenzt zur Verfügung stand, das gefüttert und gereinigt wurde, Wartung auf ein Minimum beschränkt. Ich stellte ein geradezu ideales Biotop für eine Krankheit dar. Morbus Crohn wäre schön blöd gewesen, hätte er sich diese Gelegenheit entgehen lassen. Allerdings ist der Crohn weit davon entfernt, dumm zu sein. Er ist ein ganz cleveres Kerlchen.

Viele chronische, ernste Erkrankungen kommen nicht mit einem Paukenschlag von einem Tag auf den anderen. Sie erobern, in bester Guerillataktik, unbemerkt ihr Terrain.

Nur weil man ab und zu Durchfall hat, ist man doch nicht krank. Jedenfalls nicht so richtig. Die Bauchschmerzen sind lange Zeit nicht besonders stark, und zwischendurch geht es einem ja auch wieder gut. Dass diese Feuerpausen immer kürzer werden und der Virus es sich währenddessen im Körper hübsch gemütlich macht, bleibt lange unbemerkt.

Es verhält sich ähnlich wie mit der Baustelle von nebenan, auf der monatelang hinter hohen Absperrungen gewerkelt wird: Eines Morgens ist der Bauzaun verschwunden und man steht vor vollendeten Tatsachen in Gestalt eines Scientology-Centers oder eines Spielcasinos oder irgendeiner anderen Einrichtung, die das Letzte ist, was man jemals in seiner Nachbarschaft haben wollte. Noch schlimmer, man bemerkt zunächst nicht einmal die Baustelle an sich. So trug ich also ahnungslos pfeifend eine Großbaustelle mit mir herum, während der Virus schon längst eingezogen war und sich Bilder an die Wände hängte.

Mit Freunden, Kollegen und Nachbarn redete ich nicht darüber. Zum Thema Erkältung oder Rheuma wird laufend gefachsimpelt. Im Büro, auf Geburtstagsfeiern, beim Yoga ist die angeregte Diskussion über Hausmittel ebenso selbstverständlich wie Bemerkungen über das Wetter. Man tauscht Tipps aus, erwägt die Vorteile von Erkältungsbädern und Medikamenten. Dagegen werden die ‚unteren Regionen’ sorgfältig ausgespart (außer unter wirklich guten Freundinnen, was natürlich den Horizont für einen Erfahrungsaustausch ziemlich begrenzt).

Oder kannst du dich erinnern, dass jemals eine Kollegin in die Kaffeerunde hinein gefragt hätte:

„Sagt mal, Leute, ich hab` schon seit drei Wochen Last mit diesem schleimigen Durchfall - weiß von euch einer `nen guten Tipp?“

Und dass jemand antwortete:

„Sorry, da fällt mir so spontan nichts ein. Aber ich hab` eine ganz tolle Hämorrhoidencreme entdeckt, die wär` doch vielleicht was für dich, Detlev, gegen deine Knübbelchen am Po“?

Nicht wirklich, oder? Das wäre doch zu peinlich.

Nach circa einem halben Jahr mit mehr oder weniger starkem Durchfall (teilweise explosionsartig nach dem Essen, teilweise auch mit einigen Tagen ‚Ruhe’ zwischendurch), mit Magenkrämpfen und Blähungen, dämmerte mir allmählich, dass etwas passieren müsste. Also ging ich zum Arzt: „Schönen guten Tag, ich hab' so oft Last mit Durchfall, ich glaube, ich hab' einen nervösen Magen.“ (So ganz falsch lag ich ja schon mal nicht mit ‚nervös’, sollte ich später lernen).

Ich probierte es zunächst bei meinem Homöopathen, der bis dahin schon die wunderlichsten Dinge vollbracht hatte, und auf den ich große Stücke hielt. Ein paar Globuli aus der umfangreichen Fläschchensammlung in seinem Behandlungszimmer, und mir war es immer sofort besser gegangen. Hoffentlich fragte er mich nicht detailliert über meinen Stuhlgang aus. Einer Ärztin gegenüber wäre mir das schon unangenehm genug gewesen. Mit ihm darüber zu reden erschien mir hoch peinlich. Ich hoffte sehr, darum herum zu kommen.

Er fragte nicht. Seine Diagnose lautete: Bauchspeicheldrüse gestört, vor allem psychisch bedingt durch Stress. Das machte Sinn. Ich hatte Stress, das war mir klar. Die Symptome bekam er mehr oder weniger in den Griff, zeitweise, die Behandlung drang nicht zum Kern des Problems durch.

Vier Wochen später saßen wir uns schließlich ziemlich bedröppelt gegenüber.

„Sie sind wirklich ein ganz schwieriger Fall. Es ist sehr viel im Ungleichgewicht.“ Mein Homöopath fühlte sich mit seinem Latein am Ende. „Ich komme bei Ihnen nicht weiter.“

Er hatte Recht. Was alles bei mir im Ungleichgewicht war, und über wie viele Jahre schon, sollte mir erst Monate später dämmern. So weit war ich damals noch lange nicht. Ich hatte einen Körper zu reparieren, mehr sah ich nicht bei meiner Strampelei im Hamsterrad. Von sich aus einzugestehen, mit seinem Wissen an seine Grenzen gestoßen zu sein, fand ich sehr korrekt von dem Arzt. Wie oft hört man von Scharlatanen, die so lange herumstümpern, bis der Patient entweder die Flucht ergreift oder stirbt. Natürlich braucht die Homöopathie ihre Zeit, und man muss manch verschlungene Wege gehen. Rückblickend denke ich, dass dieser Doc nicht zu früh und nicht zu spät das Handtuch warf.

 

Zu meinen bereits ‚üblichen’ Beschwerden kamen Schmerzen beim Stuhlgang und Knübbelchen am After hinzu. Ich hielt diese zunächst für eine Art Pickel und versuchte, sie mit spitzen Fingernägeln abzuknipsen. Prompt blutete ich wie ein Schwein und verbrachte eine Ewigkeit unter der Dusche, bis die Blutung zum Stillstand kam. Dabei hatte ich noch Glück, weil ich eigentlich eine sehr schnelle Blutgerinnung habe.

Von meiner damaligen Hausärztin hielt ich nicht besonders viel. Trotzdem wäre ich mit meinem neuen Problem zu ihr gegangen. Ich war damals ein Mensch, der kaum etwas ändert, wenn er nicht durch äußere Umstände dazu gezwungen wird. Im Nachhinein erwies es sich als Glück, dass die Ärztin nicht mehr praktizierte - auch wenn ich im ersten Moment eher schockiert als glücklich reagierte. An die alte Frau Doktor hatte ich mich gewöhnt, und ausgerechnet jetzt musste ich mir eine neue suchen. Je ‚intimer’ die zu erwartenden Untersuchungen sind, desto unwohler fühle ich mich bei einem Arzt. Nicht, dass ich es einer Ärztin gegenüber als angenehm empfunden hätte, mir in den Hintern schauen zu lassen. Peinlich? Oh ja, mehr als das. Eine Hausärztin gab es jedoch in unserem kleinen Ort nicht mehr.

So wendete ich mich an meine Frauenärztin, die ich sehr schätzte. Sie vermutete, dass es sich um Hämorrhoiden handele, und verschrieb eine Salbe.

Ich war niedergeschmettert. Hämorrhoiden! Bekamen so etwas nicht Leute ab siebzig, Leute mit Übergewicht und dicken blauen Krampfadern? Ich zog vor dem Spiegel den Bauch ein und schielte jeden Morgen im Bad argwöhnisch an meinen Beinen hinunter. Als nächstes würde ich eine Gehhilfe benötigen. Das Internet, der Beipackzettel der Salbe sowie Gespräche mit meiner Frauenärztin und der Apothekerin belehrten mich eines Besseren. Ich begriff, dass ich tatsächlich zur Zielgruppe gehören konnte, ohne außergewöhnlich schnell gealtert oder ein biologisches Wunder zu sein. Mit dieser Erkenntnis kam das Hadern mit dem Schicksal: Warum ich? Ach, warum musste ausgerechnet ich mit nicht mal vierzig Jahren Hämorrhoiden kriegen?! Scheiße, ich wurde ja wirklich bald vierzig! Alt, unattraktiv und nicht mehr begehrenswert ... Eine Frau mit Hämorrhoiden hatte keinen Sex, sondern trug Stützstrümpfe und Gesundheitsschuhe, ihre einzige Freude blieben Schundromane und billige Pralinen ... Jetzt geriet ich hart an die Grenze zur Hysterie. Hämorrhoiden an meinem Hintern, das ging ja gar nicht ... Ich hatte ein paar Tage schwer mit meinem albernen Schönheitwahn zu tun und vergaß fast das Eincremen.

Die Salbe linderte zwar die Schmerzen (nicht meine Hysterie), bewirkte aber sonst keine Besserung. Während einer Vorsorgeuntersuchung wies mich die Frauenärztin dann auf eine mögliche chirurgische Lösung hin.

Zwischendurch legte mir eine Freundin ihre eigene Hausärztin wärmstens ans Herz. Die habe wirklich Ahnung, sei enorm engagiert und außerdem soo nett ... Ich war nicht besonders überzeugt. Grundsätzlich bin ich skeptisch, wenn jemand einen Fachmenschen über den grünen Klee lobt. Außerdem residierte diese Superärztin mitten in der nächstgrößeren Innenstadt, ohne Parkmöglichkeiten in der Nähe und für mich von meiner Wohnung ‚auf dem Kuhdorf’ eine Weltreise weit entfernt. Andererseits ist diese Freundin eine clevere und kritische Frau, die weder zu blinder Heldenverehrung, noch zu überflüssigen Ratschlägen neigt. Irgendwann fühlte ich mich soweit, dass ich schließlich nichts mehr zu verlieren hätte, und machte mich auf den Weg. Und erlebte ein paar Überraschungen.

Die Praxis befindet sich in repräsentativster Lage, mit spektakulärem Blick auf jene Ecke der Innenstadt, deren Mieter „es geschafft haben“. Im scharfen Kontrast dazu steht die Einrichtung, die eher an eine Landarztpraxis der fünfziger Jahre erinnert. Hier und da sind Gegenstände aus folgenden Jahrzehnten hinzugefügt, aber anscheinend niemals etwas entfernt worden. Die Eingangstür zum Treppenhaus bockt dauernd und bleibt darum, wenn jemand des Streitens mit dem widerwillig schließenden Ding müde geworden ist, nur angelehnt. Das Wartezimmer verfügt über einen Wasserspender in der Ecke (zu dem ich oft nach meiner längeren Anreise als erstes hinstürze, irgendwie bin ich dauernd durstig) und ein wirklich erotisches Werbeplakat für eine Hepatitisimpfung. Eine ‚Ober-Sprechstundenhilfe’, die natürlich auch ober-tüchtig ist und keine Unarten durchgehen lässt (weder bei den Angestellten, noch bei den Patienten, nicht einmal bei den Ärzten) hält den brummenden Laden fest im Griff.

Die Tür wurde schwungvoll aufgerissen, und hinein stürmte ein blonder Wirbelwind: Meine neue Hausärztin und Lieblingsärztin auf ewig, nicht viel älter als ich, voller Power und Wärme. Ich merkte bald, dass sie sich gerne über das eine oder andere private Thema unterhält. Nicht, weil sie es in einer Vorlesung so gelernt hat, sondern aus echtem Interesse. Man fühlt den Unterschied, wenn sie nachfragt: „Und, sind Sie mal in dem neuen Geschäft gewesen, über das wir gesprochen haben, und haben sich was Schönes gekauft? Die haben doch tolle Klamotten, oder?“. Immer wieder müssen wir uns aus Fachsimpeleien über Gärten oder Reitställe herausreißen. In diese Praxis und zu dieser Ärztin gehe ich wie zu einem Plausch mit einer guten Bekannten.

Die Untersuchungen begannen ganz klassisch mit Blutbild, Urin- und Stuhlproben. Schon hier zeigten sich die besonderen Qualitäten meiner neuen Frau Doktor. Stuhlproben (zur Krebsvorsorge) waren bisher daran gescheitert, dass mein Bad über ein sogenanntes Tiefspüler-WC verfügt. Man kann sich mit ein bisschen Phantasie vorstellen, wie man, über den Topf gebeugt, für den Angelschein üben würde.Und ich konnte mich nie dazu überwinden, auf die Fliesen ... So nahm ich stets die Probentütchen brav mit, warf sie in den Mülleimer und hoffte, dass a) bei mir schon keine ernste Erkrankung im Anmarsch sein, und b) in der Praxis niemand nachhaken würde, wann Patientin X denn endlich ihre Proben abgäbe. Bisher war zumindest auf b) stets Verlass gewesen. Hatte ich nicht erwähnt, dass ein Darmleiden oft peinlich ist ...?

Irgendwie wollte ich diese energiesprühende Frau hier nun nicht wie üblich mit ‚Jaja, mach ich’ ablinken und brachte hochroten Kopfes meinen Einwand vor: „Äh, aber...“

„Na, es gibt doch für alles eine Lösung“, antwortete sie fröhlich und packte einige Stuhlfänger zu den Probenbeutelchen.

Das wäre doch mal ein Ratebegriff für ‚Genial daneben’! Was ist ein Stuhlfänger? Ein Tiefspül-WC-Ausbremser in Form eines langen, an den Enden selbsthaftenden Papierstreifens, der quer über den WC-Sitz geklebt wird und nach Probenahme in der Toilette entsorgt werden kann. Es klingt vielleicht albern, aber ich war unheimlich erleichtert. So eine simple und großartige Idee! Warum war keiner der anderen Ärzte darauf gekommen? Auf meine zaghafte Bemerkung, ich hätte einen Tiefspüler, bekam ich von denen allenfalls die mitfühlende, aber wenig hilfreiche Antwort:

„Hach ja, diese Tiefspüler nehmen immer mehr zu. Wir Ärzte sehen das ja überhaupt nicht gerne, da die Leute nun gar nicht mehr bemerken, ob sie normalen Stuhlgang haben ...“ Es folgte jeweils ein kleiner Vortrag, der in der Schule mit ‚Thema verfehlt’ unterschrieben worden wäre.

Auch mein Hämorrhoiden-Problem wurde von der neuen Frau Doktor begutachtet. Sie hielt es eher für eine Fissur und verwies mich an eine Chirurgische Gemeinschaftspraxis in derselben Stadt, die über ein großes Team kompetenter und stets auf dem neuesten Stand fortgebildeter Ärzte verfüge.

Schick!

‚Fissur’ klang für mich sofort sehr viel attraktiver als ‚Hämorrhoiden’. Das hörte sich wenigstens an wie etwas, das man auch mit Mitte dreißig bekommen konnte. ‚Fissur’ ließ mich eher an eine Verletzung denken als an Stützstrümpfe. Eine Verletzung war okay, fast ein bisschen heldenhaft, heldenhafter jedenfalls als eine plumpe Bindegewebsschwäche. Und es war etwas, worüber man sprechen konnte (jedenfalls über das ‚was’, vielleicht nicht unbedingt über das ‚wo’ - so am Po). Dafür würde ich mich gerne unters Messer legen, kein Problem.

Geradezu beschwingt fuhr ich nach Hause, optimistisch vom Schwung meiner neuen Lieblingsärztin, ausgestattet mit einem Rezept für Salbe sowie den genialen Stuhlfängern.

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