Mein Morbi und ich

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ZWEITES KAPITEL: Selten so gut geschlafen

Das Team kompetenter und stets auf dem neuesten Stand fortgebildeter Ärzte in besagter Chirurgischer Gemeinschaftspraxis residierte in top gestylten Praxisräumen. Ich sah mich mit großen Augen um: Cooles Design, ausgesucht hübsche und junge Arzthelferinnen, edle Hölzer. Viel Raum, viel Licht. Viel Geld. Auch die letzte muranogläserne Bodenvase schien dem Besucher zuzurufen: „Hey, die Chirurgen in diesen heiligen Hallen haben es geschafft!“ Es war irgendwie ... unwirklich. Aber, da von meiner Lieblingsärztin empfohlen, mussten die hier ja nicht nur hip, sondern auch verdammt gut sein. Die herablassende Dame an der Anmeldung wirkte, als sei sie es gewohnt, dass die Bittsteller sich ihr auf Knien näherten.

„Welche Krankenkasse?“

‚Dieses Spiel können auch zwei spielen’ dachte ich, legte meinen italienischen Terminkalender auf den Tresen und klopfte mit einem silbernen Stift auf den weichen Kalbsledereinband. Mit voller Absicht lächelte ich nicht.

„Privat. Ich bin nächste Woche auf Madeira ... Ende des Monats in Brüssel ...“ Ich blätterte die chamoisfarbenen Seiten um. „Bringen Sie mich doch bitte für eine OP in der Woche nach Ostern unter.“

Mein Status als Privatpatientin ist ein zweischneidiges Schwert. Ich fühle mich häufig besser abgesichert, komme in den Genuss umfangreicherer Leistungen. Andererseits belastet es mich, den Rechnungs- und Zahlungsverkehr selbst zu verwalten, in Vorleistung zu treten und Anträge an zwei verschiedene Stellen zu richten, um mir die Kosten wieder erstatten zu lassen. Ich gehe ein finanzielles Risiko ein, sobald ich eine Kostenübernahme nicht vorab kläre (und welcher Kranke ist dazu immer in der Lage?) oder eine Rechnung verschlampe (zu spät eingereicht - Pech gehabt). Und die höheren Leistungen wecken Begehrlichkeiten. Sofern diese Begehrlichkeit sich darin äußert, dass man mir den roten Teppich ausrollt, kann das angenehm sein. Aber ich habe leider mehrmals erlebt, dass Ärzte Leistungen abgreifen, selbst wenn dies nicht in meinem Interesse liegt, ja mir sogar schadet. Doch davon später.

Bei dem Zauberwort ‚privat’ gingen auch jetzt die sorgfältig gezupften Augenbrauen leicht nach oben. Der Ton erwärmte sich um mindestens zwanzig Grad.

„Oh, selbstverständlich. Bitte gehen Sie doch gleich durch - der Herr Doktor kommt sofort zu Ihnen.“

Das war nicht übertrieben. Kaum hatte ich den Behandlungsraum erreicht, stand er schon hinter mir. Schnell war meine Fissur begutachtet und die Operation beschlossene Sache.

„So drei, vier Tage könnte es dauern, bis Sie nach der OP schmerzfrei sind, und ein Weilchen werden Sie noch Kompressen für die Wunde brauchen“, schätzte der Chirurg.

‚Na, wenn`s weiter nichts ist’, dachte ich. ‚Einen Tag OP, vielleicht den Tag danach noch frei zum Erholen, drei Tage etwas ruhiger gehen lassen, und gut.’

Du ahnst es schon: die Einschätzung des Arztes war unschlagbar optimistisch und meine eigene Vorstellung jenseits von naiv.

Nach einem diskreten Anruf der chirurgischen Praxis ‚unter Kollegen’ konnte ich das Vorgespräch mit der Narkosearztpraxis direkt im Anschluss erledigen. „Gleich nebenan, gehen Sie ruhig eben rüber ... nein, einen Termin brauchen Sie nicht, wir regeln das schon ...“

In beiden Praxen überhäufte man mich mit einer erstaunlichen Menge Formulare: Registrationsvordrucke, Einverständniserklärungen zur Fremdabrechnung, Verhaltensmaßregeln vor, während, nach der OP .... der Lesestoff hätte für den Rest des Tages gereicht. Ich entschied mich dagegen, ließ mich vom Sog der Ereignisse mitreißen. Alles ging ratz-fatz. Gut gelaunt setzte ich meine Unterschrift auf jeden Vordruck, der mir unter die Nase gehalten wurde. Man hätte mir mühelos die berühmte Waschmaschine andrehen können. Der gesamte Arztbesuch in Chirurgie und Anästhesie dauerte insgesamt eine Stunde, höchstens. Das lief ja großartig! Ich würde mir diese unerfreulichen Knübbelchen am Po wegschneiden lassen, und dann: Bye bye, Hämorrhoiden-Minna - hello, sexy Superwoman!

Anschließend ging ich shoppen. In Vorbereitung eines besonderen Events macht Frau üblicherweise erst einmal einen ausgiebigen Einkaufsbummel. Das war jetzt nicht anders. Mit dem einzigen Unterschied, dass es sich diesmal nicht um neue Schuhe zum schicken Partykleid oder das optimale Strandoutfit handelte. Meine Einkaufsliste war mir teils von meiner Hausärztin, teils von der chirurgischen Klinik verschrieben worden: Wundkompressen, Salbe, Schmerztabletten ...

Vor der OP musste noch eine extra Blutuntersuchung erfolgen, ich weiß nicht einmal mehr, wofür. Von den unzähligen Blutentnahmen sahen meine Arme wie die einer Fixerin aus. Ich erinnere mich nur noch, dass es – wie so oft – ein terminlicher Balanceakt wurde. Aus irgendwelchen Gründen wurde die Blutabnahme bei der Hausärztin vorgenommen, die Analyse in einem auswärtigen Labor durchgeführt, das Ergebnis von einem anderen der involvierten Ärzte bewertet. Ich sollte danach nochmals mit der chirurgischen Praxis telefonieren und meinen OP-Termin bestätigen.

Am Donnerstag vor Ostern rief ich aus einer Telefonzelle im Frankfurter Flughafen in der Praxis an, um abzuchecken, ob meine Laborwerte okay sind, und um die OP endgültig festzusetzen.

Und am Dienstag nach Ostern wurde ich morgens, ohne dass der Chirurg oder ich die ganze Tragweite begriffen, zum ersten Mal wegen der Auswirkungen von Morbus Crohn operiert.

Das ‚Merkblatt zur ambulanten Operation’ umfasste fünf Seiten und entbehrte nicht einer gewissen Komik. In der Einleitung wurde den Patienten versichert, dass es im OP sauber sei: „Operationssäle, die ... den ... hygienischen Anforderungen Rechnung tragen“. Eine geradezu revolutionäre Idee. Auf der nächsten Seite folgte eine Auflistung aller in der Praxis durchführbaren Operationen. Als würde jemand, der sich wegen eines Leistenbruchs operieren ließ, spontan zugreifen: „Oh, die haben hier auch Zehenkorrekturen im Angebot, davon nehme ich doch gleich zwei - wo ich schon mal da bin.“ Die Patienten wurden aufgefordert, „morgens geduscht“ zu erscheinen. „Bei starker beruflicher Schmutzbelastung von Händen und Füßen ist eine intensive Reinigung geboten“ hieß es noch. Verwirrend, diese Unterscheidung zwischen beruflichem und privatem Dreck. Warum sollte der Landschaftsgärtner seine Fingernägel schrubben, die Hausfrau, die im Garten wühlte, dagegen nicht? Unterstellte man dem niederen Volk eine höhere Grundverschmutzung? Weiterhin wurde mehrfach auf die Diebstahlgefahr in der Praxis hingewiesen: „Wertsachen zu Hause lassen“. Dass die das so einfach zugaben ... Sogar einen Dresscode fand ich: „Bequeme, weite und unempfindliche Kleidung in dunklen Farben“. Vermutlich der Versuch, den Patienten so schonend wie möglich beizubringen, dass sie nach der Operation ihre gute Garderobe vollbluten könnten.

Am Morgen der OP fühlte ich mich, von einem knurrenden Magen abgesehen, relativ gut. Normalerweise bin ich ziemlich unleidlich, wenn ich Hunger habe. Ich musste ja morgens ‚nüchtern’, wie es so schön heißt, antreten. Aber ich war nicht nervös, verspürte keine Angst und freute mich darauf, später mit makellosem Po aufzuwachen.

Ich bekam ein weißes OP-Kittelchen verpasst, so eines, wie man es aus amerikanischen Filmen kennt, und wie es Jack Nicholson in ‚Was das Herz begehrt’ trägt (vorne züchtig hochgeschlossen, im Nacken gebunden und hinten komplett offen). Die Narkose wirkte schnell. Ich konnte grad noch denken ‚alles wie im Film hier’ –schon war ich weg.

Aufgewacht bin ich im Ruheraum, in einem schönen Bett am Fenster. Die Sonne warf Lichtkringel auf meine mollige Steppdecke. Hinter halb zugezogenen Vorhängen dösten weitere Patienten, wieder genau wie im amerikanischen Kino. Ich hatte stundenlang tief und fest geschlafen, so gut wie ewig nicht. Wenn man danach so wohlig ausgeruht und entspannt war, sollte man sich vielleicht öfter mal eine kleine Narkose gönnen ... Übelkeit, Kopfschmerzen und was man sonst für Nebenwirkungen von der Narkose bekommen konnte, stellten sich nicht mal ansatzweise ein. Auch Schmerzen spürte ich nicht. Es ging mir einfach bombig. Eine Schwester bot mir Kaffee und Kekse an, ich las in meinem Buch und dachte an gar nichts.

Die nächsten zwei Tage verbrachte ich zu Hause und verspürte immer noch keine nennenswerten Probleme. Ich war müde ohne Ende und schlief die meiste Zeit. Vielleicht sah damals schon ein völlig überlasteter Organismus seine Chance, eine Auszeit zu nehmen. Lange im Bett liegen und faulenzen hatte ich zwar manchmal mit schlechtem Gewissen getan, aber nie genießen können. Nun war ich offiziell und allgemein anerkannt krank, es wurde sozusagen von mir erwartet, dass ich mich gesund schlief. Und wie so oft erfüllte ich brav die an mich gerichteten Erwartungen. Ich schlief und schlief und schlief, und ich fand es herrlich.

Am dritten Tag ging es dann los! Auf der Toilette hätte ich jedesmal laut schreien können. Dass meine Durchfälle wieder einsetzten und mich und die frische Narbe alle ein bis zwei Stunden auf Trab hielten, machte die Sache nicht besser.

Die Nachsorgeuntersuchungen der Operation fanden sämtlich in der Chirurgischen Praxis statt. Im Merkblatt hieß es noch, die erste Nachuntersuchung würde in der Praxis sein, die weitere Nachsorge durch den Hausarzt erfolgen. Der Privatpatient, die zu melkende Kuh ... Ich fühlte mich immer noch etwas dösig im Kopf von der Narkose und täglich klappriger von den Durchfällen. So trottete ich zunächst jeden Dienstag und Donnerstag brav in meinen Melkstand.

Leider bestand das große Team kompetenter und stets auf dem neuesten Stand fortgebildeter Ärzte ausschließlich aus Männern. Da half nun alles nichts: In den folgenden Wochen musste ich alle paar Tage mit nacktem Hinterteil vor ständig wechselnden Doktoren liegen. Einige benahmen sich sehr rücksichtsvoll. Andere hatten ihre Patienten längst in den Bereich ‚zu reparierendes Elektrogerät’ eingeordnet, so dass man nicht auf Wahrung seiner Würde hoffen durfte. Notgedrungen lernte ich, die Zähne zusammenzubeißen, wenn ich mich unter ihren Augen aus- oder wieder anzog. Etwas zu sagen, hätte noch mehr Aufmerksamkeit auf die Situation gelenkt und sie nur verschlimmert. Wie sang Tina Turner so treffend in ‚Private Dancer’? „You keep your mind on the money, keeping your eyes on the wall …“. Meine Augen starr auf einen Fliegenschiss an der Wand geheftet, ließ ich vor den Männern die Hosen runter und konzentrierte mich auf mein Ziel: die Reparatur meines Hinterteils.

 

Stets hieß es: „Heilt ja super, alles okay“. Auch, dass ich seit über drei Wochen unverändert starke Schmerzen hätte, sei „völlig normal“. In meinem damaligen Zustand kam mir leider noch nicht der Gedanke, wie man denn einen Fortschritt bei der Wundheilung beurteilen wollte, wenn immer jemand anders draufschaut. Mehr als zwei Wochen nach der OP verschrieb man mir wenigstens eine neue Salbe. Im Prinzip aber, so wurde versichert, sehe die Wunde doch „schon wieder ganz gut“ aus. Die verschriebenen Tropfen halfen absolut null gegen die Schmerzen, also bekam ich Tabletten, die besser anschlugen. Abermals wurde mir das Schlaflied vorgesummt, alles sei „ganz prima“. Weitere zwei Wochen später, vier Wochen nach der OP, gestand erstmals jemand ein, die Wundheilung könne irgendwie besser sein. Übrigens bestehe die Gefahr, dass der Enddarm verhärte und damit an Elastizität verliere, sprich: der Schließmuskel nicht mehr richtig arbeite.

Um Gottes Willen! Hinten undicht möchte frau ja keinesfalls werden!

Man verschrieb mir einen sogenannten „Analdehner“ und Xylocain Gel. Das war ein Erlebnis!

Ich sollte mit diesem Plastikzylinder dreimal täglich meinen After dehnen, „damit nichts verhärtet und alles schön elastisch bleibt“. Wobei die Wunde natürlich noch immer nicht verheilt war und energisch gegen diese zusätzliche Reizung protestierte. Frei nach Otto Waalkes formuliert, funkte die betroffene Stelle ununterbrochen Alarm an das Großhirn. Dieses hielt ein entnervtes „ja, ich weiß es doch, die Botschaft ist angekommen, aber was hilft`s?“ dagegen und dehnte weiter, woraufhin die Schmerzzentrale an einen Kurzschluss im Großhirn geglaubt haben musste und verzweifelt und wütend mehr Schmerzmeldungen morste.

Im Nachhinein bin ich nicht überzeugt, dass diese ärztliche Anweisung über jeden Zweifel erhaben war. Vor Schmerzen habe ich geheult und mir stand der Schweiß auf der Stirn. Auf der Toilette hatte ich noch geglaubt, ich würde echt einen Streifen mitmachen. Nun wurde mir klar: Es kann immer noch schlimmer kommen. Hatte ich mich früher gerne in mein Schlafzimmer zurückgezogen (ach, wie herrlich waren die Tage nach der OP gewesen ...), schaute ich nun böse auf den Nachttisch, von wo aus mir Analdehner und Gleitgel entgegengrinsten. Ich glaube nicht, dass ich mich nach dieser Bekanntschaft jemals für Vibratoren oder Analsex werde begeistern können.

Meine Selbstdisziplin reichte statt für die verschriebenen dreimal täglich fünf Dehnungen nur für ein- bis zweimal täglich zwei- bis dreimal. Tagsüber auf der Arbeit waren die Übungen sowieso undenkbar. Wie hätte man auswärtigen Gästen das Weinen und Fluchen aus Richtung der Sanitärräume erklären sollen?

Genau fünf Wochen nach der Operation erledigte sich diese masochistische Selbstbehandlung mit dem Analdehner endlich, denn ich bereitete mich auf meine erste Darmspiegelung vor.

Und geriet vom Regen in die Traufe.

Später, als ich mich in einer gesunden Phase (und in einer Phase gesunder Wut) befand, suchte ich die Chirurgische Gemeinschaftspraxis noch einmal auf. Mit meinem Krankheitsbefund in Händen stellte ich einen der schnieken, hoffnungsvollen Jungärzte zur Rede. Während ich die Fragen weitergab, die meine Hausärztin, der Darmspezialist und meine Augenärzte mittlerweile gestellt hatten, wirkte er plötzlich nicht mehr so aalglatt.

Ob nicht im Rahmen der Operation eine histologische Untersuchung (eine Untersuchung auf Entzündungsmerkmale) erfolgt sei?

„Doch, schon...“

Und ob er den Laborbefund bitte mal vorlesen könne?

„Ja, Moment ... hier ist von ... ähm ... starken Entzündungsanzeichen die Rede ... aber Sie waren ja schon wegen Darmproblemen in Behandlung ... es ist nicht üblich, den Laborbericht an den Hausarzt zu schicken ... aber wenn Sie möchten, natürlich ...“

Und ob die Wunde nicht ungewöhnlich schlecht heilen würde, und die wochenlange Nachsorge in der Klinik nicht unüblich sei ...?

„Oh, die OP-Wunde sieht ja nun wunderbar in Ordnung aus, und eine weitere Nachsorge durch die Chirurgische Klinik ist ab sofort nicht weiter erforderlich ...“

Ich erklärte klipp und klar, meine Hausärztin nähme an, der Laborbefund sei einfach in meine Akte geheftet worden, ohne dass ihn einer der Ärzte gelesen habe. Außerdem wies ich darauf hin, dass meine Krankheit bei einer sorgfältigeren Behandlung in dieser Klinik schon sehr viel früher hätte festgestellt werden können und mir eine beidseitige Regenbogenhautentzündung erspart geblieben wäre.

Sehr still wurde er da, der Chirurg, und senkte den Blick. Er schluckte, räusperte sich. Nach einer Weile kam seine Antwort, mit leiser Stimme: „Man hofft natürlich immer, dass einem so etwas nicht passiert ...“

Als ich den Raum verließ, hockte er immer noch da mit hängenden Schultern. Seine Reaktion ließ mich hoffen, dass er umgehend in den Betriebsabläufen dafür sorgen würde, dass sich so etwas nie, nie wiederholte. Operieren konnten die ja wirklich gut, nur die Organisation drumherum ließ zu wünschen übrig: Ein Fließbandbetrieb, in dem die Ärzte von Raum zu Raum flitzten und einen hastigen Blick auf Wunden warfen, ohne noch den Zusammenhang zu sehen, das Gesamtbild.

Der Fall war klar. Sollte ich mich nun in einen Rechtsstreit stürzen? Die Chirurgische Gemeinschaftspraxis zur Verantwortung ziehen, mich auf sie stürzen mit Gebrüll?

Beruhigen wir uns wieder, und seien wir mal ehrlich: Es war letzten Endes nichts wirklich Dramatisches passiert. Ich hatte, wenn auch knapp, keine irreparablen Augenschäden zurückbehalten.

Und die Beweislage schien recht dünn, zumal ich den Eindruck hatte, meine Ärztin wollte ihre Aussage ungern öffentlich wiederholen. Sie hätte ‚unter Kollegen’ keinen Fuß mehr auf die Erde bekommen.

Mit der Operation selbst war ich bestens zufrieden, da hatte alles reibungslos geklappt. Es gab keinen Stress, die Narkose hatte ich super vertragen, mir war keine Minute schlecht oder schwindelig, die Atmosphäre und Betreuung waren vorbildlich gewesen. Ich kenne viele Leute, die Angst vor einem Eingriff haben, doch meine OP-Erfahrung war durchweg positiv gewesen. Lediglich die Nachsorge lag im argen.

Plus: Der Chirurg, den ich auf den Fehler angesprochen hatte, war mir nicht mit Ausreden gekommen. Er hatte ehrliches Bedauern ausgedrückt. Hätte er geleugnet oder die Sache mit einem blöden Spruch abgetan, wäre ich vermutlich auf die Barrikaden gegangen. Für das Gespräch und sein Geständnis gab es keine Zeugen.

Last but not least fühlte ich mich viel zu schwach, um mich in einen Rechtsstreit zu werfen. Meine Energie reichte gerade eben für den Alltag. Ich kämpfte bereits an so vielen Fronten - für ein weiteres Schlachtfeld fehlten mir die Truppen.

Früher (in einem anderen Leben, schien es) hatte ich mich oft darüber aufgeregt, wenn Patienten Übergriffe scheinbar stoisch ertrugen und skrupellose Mediziner mit allem durchkamen. Wie ahnungslos und überheblich war ich, auf dem sicheren Logenplatz der Zuschauenden thronend, gewesen! Man darf sich nicht alles gefallen lassen, damit kommen die auf keinen Fall durch, das wollen wir aber mal sehen ...

Siehste, sagte das Schicksal jetzt zu mir, und so sieht dann die Realität aus.

DRITTES KAPITEL: Hau den Woody – das Imodium-Spiel

Während ich mich noch mit der nicht heilen wollenden OP-Wunde herumschlug, lief die Durchfall-Ursachenforschung bei meiner Hausärztin auf vollen Touren. Mit den üblichen Blut- Urin- und Stuhluntersuchungen, mit einer ganzen Reihe weiterer Checks und Labortests, waren nun zweieinhalb Monate vergangen. Dies hört sich nach einer langen Bearbeitungszeit an, aber man bedenke: Ständig ist irgend jemand nicht da. Innerhalb dieser nicht mal zwölf Wochen machte die Arztpraxis Ferien (es sind ja auch nur Menschen), das Labor ebenso, ich selbst war auf zwei Dienstreisen und im Urlaub, und während der Ostertage lag sowieso ganz Europa lahm.

Allein der Morbus Crohn glänzte durch Anwesenheit, wenn auch weiterhin inkognito. Das Magendrücken und die Durchfälle waren unangenehm und die Fissur eine kurze Episode gewesen, aber nun verschlechterte sich mein Gesundheitszustand rapide. Nach einer besonders heftigen Nacht auf dem Klo litt ich unter Kreislaufproblemen und Muskelzittern und fühlte mich viel zu schwach, um überhaupt bis ins Auto zu kommen - geschweige denn zur Arbeit. Meine Kondition baute ab, ich ermüdete rasch und schlief länger als früher. Und dieser Durchfall ... Es lief und lief, und ich lief auch - zwanzigmal am Tag zum Klo. Ein furchtbares Gerenne. Ich begann zu glauben, dass mein starker Gewichtsverlust nicht vom Durchrauschen der Nährstoffe durch den Darm her rührte, sondern von den Fußmärschen. Ich schien die Kalorien gar nicht so schnell aufnehmen zu können, wie ich sie verbrauchte.

Die Bauchschmerzen steigerten sich zu Krämpfen, die mich aus heiterem Himmel ansprangen wie wilde Tiere. Ich war nicht daran gewöhnt, von meinem Körper derart beherrscht zu werden - in meinem Weltbild hatte das Verhältnis umgekehrt zu sein. Nun stieß mein energischer Wille, den Körper vorwärts zu treiben, an seine Grenzen. Gegen diese Grenzen nicht trotzig an zu rennen, sondern auf die Bedürfnisse von Körper und Seele zu horchen, war mir noch nie in den Sinn gekommen. Nun begann ich unfreiwillig damit, es auf die harte Tour zu lernen.

So unglaublich es klingt, zu einer der anspruchsvollsten Übungen in der Jungpferdeausbildung gehört das ruhige Stillstehen. Fast jedes Pferd ist entweder zu aufgeregt, um gelassen an einem Fleck zu stehen (fremde Umgebung, getrennt von seiner Herde, angespannter Reiter), oder es ist schnell gelangweilt, oder das frische Grasbüschel drei Meter weiter duftet so gut, oder ein Bein juckt ...

Nun stellte ich am eigenen Leib, vor allem im eigenen Kopf, fest, wie schwer ein ‚ruhiges Verharren’ tatsächlich ist.

Die Chirurgische Praxis hatte mich an meine Hausärztin zurückgegeben, und damit die schlecht heilende Wunde wie einen schwarzen Peter weitergereicht. Was tun, nach diversen erfolglosen Salben und dem scheußlichen Analdehner? Meine Lieblingsärztin wäre nicht meine Lieblingsärztin gewesen, wenn sie nicht auch jetzt einen Rat gewusst hätte: Sitzbäder in Kamillenlösung.

Oh, wie taten die gut! Und zwar nicht nur meinem Hinterteil - auch dem Kopf. Aller Anfang war schwer, aber dann ... Einmal täglich zehn Minuten lang mit dem Po im warmen Wasser zu sitzen war wunderbar. Nebenbei hatte das auch was Meditatives, da man in der Zeit nichts wirklich Produktives leisten kann und somit einfach mal ein bisschen in der Gegend herum denkt. An einigen Tagen musste ich mich regelrecht zwingen, da mir die Ruhe fehlte, den Badezuber vorzubereiten und mich eine Weile hinein zu setzen. Als ich mich dabei erwischte, schimpfte ich mit mir: "Bist du eigentlich bescheuert? Die Erde wird sich weiterdrehen, nichts kann so immens eilig sein."

Naja, ich kenne das von vielen Dingen. Ich meide Krankengymnastik, Yogaübungen, Brot selber backen, nicht spülmaschinenfestes Geschirr ... Alles muss immer ratz-fatz gehen und im wahrsten Sinne des Wortes ‚in einem Aufwasch’. Sehr bald sollte ich lernen, wie erholsam es ist, Abläufe zu verlangsamen, Dinge bewusster und geduldiger zu erledigen – nur, so weit war ich jetzt noch lange nicht.

Mich beschäftigten zunächst eher praktische Fragen. In welchem Behältnis setze ich die Sitzbadelösung an? Badewanne, Duschtasse: Viel zu groß, so eine Wasserverschwendung! Eimer: Zu hoch und zu schmal. Irgendein weiteres Behältnis passte wie angegossen - so angegossen, dass es beim Aufstehen an meinem Hinterteil stecken blieb, ich im Befreiungskampf die ganze Lauge verschüttete und das Badezimmer anschließend sehr gründlich feucht wischte. Schließlich fand ich in einem Geschenkartikelladen eine große runde Emailleschüssel. Es gibt sie klassisch in weiß mit blauem Rand oder neuerdings in schrillem Fernostdesign. Manchmal bekommt man die sehr großen Schüsseln auch aus Kunststoff im Haushaltswarenladen. Man sollte für den Sitzkomfort darauf achten, dass sie flach genug ist – schließlich will man die zehn Minuten darin ja genießen. Bei einem zu hohen Rand schlafen einem die Beine ein. Ideal wäre, vor dem Kauf einmal Probe zu sitzen. Unerschütterlich selbstbewusste Naturen mögen das vielleicht wagen. Jedoch müsste man korrekterweise bei der Beurteilung die Kleidung abziehen – aber wer hockt sich schon bei Famila mit nacktem Po in verschiedene Kunststoffwaren? Also drei kaufen, zwei wieder umtauschen, und nicht erklären was man damit gemacht hat.

 

Die Zeit, die man sitzt (in der Schüssel) kommt einem zunächst ewig lang vor, wenn man nicht dran gewöhnt ist, untätig herum zu lümmeln. Ich geriet anfangs in Versuchung, auf acht oder neun Minuten abzukürzen. Bald jedoch lernte ich die Pobadepause zu schätzen und mogelte in die andere Richtung: Ooch, noch ein Minütchen ... Hartnäckige Anhänger des Dauerpowerns könnten sicherlich mit dem Laptop auf den Knien durcharbeiten, aber solche Leute haben das Prinzip nur halb verstanden.

Sitzbäder sind eine Kopfsache.

Alles Baden, Salben und Dehnen führte sehr, sehr langsam zum Erfolg. Fast drei Monate nach der Operation heilte die Wunde endlich. Ich lief bis dahin ständig mit Mullkompressen in der Unterhose herum. Es handelte sich um Kompressen mit eingeschlagenen Schnittkanten (=ES), aus Verbandmull Ph.Eur., DIN 61 630-VM 17, zur Wundbehandlung, Größe 10 x 10 cm. Es gibt diese Kompressen von mehreren Anbietern, und die Preisunterschiede sind verblüffend. Sie sind sicherlich flaumweich, aber auf einer frisch operierten Stelle fühlen sie sich immer noch an wie Schmirgelpapier. Man kann sie ohne großen Aufwand zwischen die Pobacken geklemmt tragen, sie verrutschen erstaunlicherweise nie, nicht einmal beim Reiten oder Wandern (vorausgesetzt, man trägt eine gut sitzende Unterhose).

Später leisteten die Mullkompressen mir gute Dienste, wenn der Darm ungewöhnlich stark bockte und ich Angst hatte, ob er am rückwärtigen Ende auch wirklich dicht hält. Auf dem Vortragspodium, bei Familienfeiern, in weißen Hosen verschaffte das kleine Stück Verbandmull, in die Poritze geklemmt, mir ein Gefühl von Sicherheit. Ich kaufte immer gleich mehrere 100-Stück-Packungen und verbrauchte Tonnen von den Dingern.

Gegen den Durchfall musste natürlich etwas passieren. Er wurde immer schlimmer und bedeutete ja auch jedesmal eine Reizung der Wunde. Meine Hausärztin verschrieb mir Imodium Eurim Kapseln. Zum Einstieg nimmt man zwei Kapseln, und dann nach jedem Durchfall eine.

Was für eine tolle Idee!

Mich packte umgehend das Jagdfieber. Die Anwendung hat was von ‚Hau den Woody’ auf dem ‚Dom’, einer großen Kirmes in Hamburg. Dort gibt es diesen Stand, wo man einen dicken Holzhammer in die Hand bekommt und damit lustige, aus Baumstümpfen hervorschnellende Holzwürmer auf den Kopp hauen muss, bevor sie wieder in ihrem Loch verschwunden sind. Da lässt sich einer blicken – zack! Voll was auf die Mütze! Zum Spaß bei der Anwendung trägt ganz wesentlich bei, dass das Medikament bei mir wirklich sehr gut anschlägt. Bei anderen Crohnpatienten wird es das vielleicht nicht tun, und bestimmt gibt es andere (chemische oder natürliche) Alternativen.

Später hörte ich harsche Kritiken, dass ‚mein’ Mittel den Darm verschließe und daher nicht zu empfehlen sei. Wie alles im Leben hat natürlich auch ein Medikament mehrere Seiten. Was für den einen Patienten gut ist, muss nicht für den Nächsten passen. Ich finde, dass jeder Mensch sich selbst soweit kennenlernen muss, um zu entscheiden: Taugt das was für mich? Ist dies meine Lösung? Ein tastender Weg zwischen Lobpreisungen und Verteufelung. Ich probierte es aus und stellte fest: Bei Bedarf und in Maßen genossen, bedeutete dieses Medikament für mich eine riesige Erleichterung. Wer selbst auch nur einen Tag lang erlebt hat, wie der ganze Lebensrhythmus unter einer Durchfallerkrankung leiden kann, der versteht, wovon ich rede. Keine Panik mehr zu haben, ob man den Hals-über-Kopf-Sprint zum nächsten Klo noch rechtzeitig schaffen wird. Nicht mehr mit hochrotem Kopf mitten aus einer Besprechung mit Kollegen herauszustürzen. Beim Autofahren einfach nur die Landschaft zu betrachten und nicht nach Haltemöglichkeiten mit dichten Büschen abzuscannen ... Wenn mir der Darm den Krieg erklärte, musste ich mir eben einen starken Verbündeten suchen. Und ‚Krieg’ ist nicht mal übertrieben!

Meinen gesamten Tagesablauf (und die Nacht) bestimmten Gedanken wie: ‚Wo ist das nächstgelegene Klo?’ und ‚Suppt was durch? Rieche ich vielleicht komisch? Merkt jemand was?’. Ich durfte nicht anziehen, was mir gefiel, nicht unternehmen, was ich wollte und musste bei jeder Speise und jedem Getränk damit rechnen, höchst schmerzhafte Krämpfe auszulösen. Ich fand es zunehmend schwierig, mich zu konzentrieren, weil der Körper permanent Aufmerksamkeit forderte. Jeder Schritt verlangte nach generalstabsmäßiger Planung. Auf der Toilette nicht genug Kompressen oder in der Besprechung keine Schmerztablette dabei? Tja, ganz blöd gelaufen.

Natürlich stellte Imodium lediglich eine Soforthilfemaßnahme dar, und wir haben weiter nach der Krankheitsursache geforscht. Durchfall ist schließlich nur ein Symptom, dass irgend etwas im Argen liegt. Aber mit Durchfallmittel konnte ich wenigstens wieder ein relativ normales Leben führen.

Selbst mit meinem neuen Helferlein gestaltete sich dies nicht immer ganz einfach. Sechs Tage nach der OP lag eine zweitägige Dienstreise an. Für mich stand überhaupt nicht in Frage, ob ich fahren würde. Ich liebte diesen Job und würde ihn sicher nicht kampflos jemand anderem überlassen. In den Themen, um die es in den Besprechungen gehen sollte, steckte ziemlich viel von meiner Arbeit und Herzblut.

Außerdem reise ich gern in unsere europäische Hauptstadt. Jedes Mal, wenn ich am Gare du Midí aus dem Zug steige, packt mich ihre pulsierende Atmosphäre. Blitzblanke Neubauten unmittelbar neben mit Brettern vernagelten Hauseingängen, Prunkbauten, vor denen tagsüber flaniert und nachts gekotzt wird ... Diese scheinbar widersprüchliche Mischung macht für mich einen großen Teil des Brüsseler Charmes aus. Ich liebe es, die Wege zu den Sitzungsgebäuden mittlerweile im Schlaf zu finden, nach der Arbeit in meinem Stamm-Supermarkt einzukaufen. Den Kontakt mit Kollegen aus anderen Mitgliedstaaten, das aufregende Gefühl, ein Rädchen im Getriebe der Europapolitik zu sein. Ein winzig kleines Rädchen, aber immerhin.

Zu den wesentlichen Reisevorbereitungen gehört ja, typisch Frau, stets die Kleiderfrage. Dieses Mal geriet sie zum Kernpunkt meiner Planung. Es handelte sich um eine Veranstaltung der Europäischen Kommission, ich sollte einen Vortrag halten, ‚Räuberzivil’ kam nicht in Frage. Also Hosenanzug. Wie bringt man darin seine ganzen Verbandsmaterialien unter, ohne dass sich etwas abzeichnet? Einen schicken Rock besaß ich nicht, und ich kam überhaupt nicht auf die Idee, mir einen zu kaufen (ich hätte meine Superärztin fragen sollen). Vermutlich hätte ich mir damit allerdings eine Blasenentzündung geholt, es war nämlich eisekalt. Langsam arbeitete ich mich vor: Am besten den dunkelsten Anzug, damit es möglichst wenig auffällt, wenn doch mal was durchsuppt. Tangas konnte ich seit der OP komplett vergessen. Irgendwie schwante mir damals schon, dass ich nie wieder einen anziehen würde, und ich schenkte alle einer Cousine. Normale Unterhosen tragen an den Beinausschnitten mitten auf dem Po entsetzlich auf – ging nicht. Die Lösung war dünne Funktionswäsche eines namhaften Outdoorausrüsters. Das Teil saß eng, hatte kurze Beine und wäre früher unter der Bezeichnung ‚Liebestöter’ gelaufen. Heutzutage wird eine solche Unterhose als ‚Boxer’ oder ‚Panty’ vermarktet. Dieses Ding rettete mein Outfit. Es passten ausreichend Mullkompressen hinein, und es trug sich unter der Anzughose praktisch unsichtbar.

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