Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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|100|Karl Popper (1902–1994)

„Die ‚Welt‘ ist nicht rational. Es ist aber die Aufgabe der Wissenschaft, sie zu rationalisieren. ‚Die Gesellschaft‘ ist nicht rational, aber es ist die Aufgabe des Sozialtechnikers, sie zu rationalisieren.“ Karl Popper (1945, 1992b; Anm. 279:19, S. 442)

Karl Poppers kritischer Rationalismus

Das Werk Karl Poppers enthält explizite und implizite Antworten auf die Frage, welchen Beitrag die Wissenschaft zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme zu leisten vermag, sofern sie sich eine geeignete Vorgehensweise zu eigen macht. Aber wer hält diese Antworten, dieses Insistieren auf Methode, heute noch für zeitgemäß? Gerade unter Wissenschaftlern nimmt offenbar die Zahl derer eher zu, für die Popper nicht länger ein Stein des Anstoßes ist, geschweige denn gar eine Quelle der Inspiration. Ein untrügliches Indiz hierfür besteht darin, dass sich nun (vornehmlich) die ‚Fachphilosophen‘ seines Werkes annehmen und es in Einführungen für den Seminarbetrieb und für interessierte Laien kleinarbeiten. Auf diese Weise wird Popper zugleich popularisiert und ent-aktualisiert. Die destillierte ‚Essenz‘ seines Werkes wird gleichsam auf Flaschen gezogen. Heraus kommt ein Vademecum: Popper für den Hausgebrauch.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Poppers Werk der heutigen Forschung noch etwas zu sagen hat, ob also jenseits einer rein vergangenheitsorientierten auch eine zukunftsweisende Lesart möglich wäre. Im Folgenden wird versucht, eine solche Lesart zu entwickeln. Es geht um eine kritische Popper-Interpretation, die sein Werk re-aktualisiert. Untersucht wird, welche gesellschaftspolitischen und gesellschaftstheoretischen Inspirationen sich den Arbeiten Karl Poppers auch heute noch abgewinnen lassen, sobald man – im Wege einer |101|weitgehend werkimmanenten Argumentation – seinen kritischen Rationalismus einer konstruktiven Kritik unterzieht. Die Leitfrage der Abschnitte 1 bis 4 und 5 bis 9 lautet: Was muss man über dieses Werk wissen, um von diesem Werk – teils mit, teils gegen Popper – lernen zu können?

1. Zugangsschwierigkeiten

Karl Poppers Schriften sind vermeintlich leicht zu lesen. Stets bemüht sich der Autor um eine einfache und klare Ausdrucksweise. Redundanzen erleichtern das Verständnis. Fremdwörter werden vermieden oder umschrieben, zentrale Formulierungen vielfach variiert und erläutert. Als Autor ist Karl Popper auf eine geradezu prätentiöse Weise unprätentiös.[140]

Doch stehen einem Verständnis seines Werkes gewisse (zusätzliche) Schwierigkeiten entgegen. Das wohl wichtigste Rezeptionshindernis dürfte darin liegen, dass Popper seine Argumente im Wege einer Kritik der Argumente anderer entwickelt. Sein Werk lebt aus der Kontroverse, so dass man den historischen Hintergrund berücksichtigen muss, wenn man es heute verstehen will. Formelhaft zugespitzt könnte man sagen: Poppers Texte sind Kon-Texte, nicht Setzungen, sondern Auseinander-Setzungen. In ihnen dominiert nicht das Pro, sondern das Contra. Sie sprechen nicht für sich allein; sie widersprechen. Deshalb müssen sie im Horizont der jeweiligen Gegenpositionen gedeutet werden. Dies macht eine angemessene Rezeption oft voraussetzungsvoller und damit schwieriger, als es auf den Blick scheinen mag. Weitere Verständnisschwierigkeiten kommen hinzu.

Erstens behandelt Popper eine extreme Spannweite scheinbar disparater Themen. Abgesehen von seinen Schriften zur Evolution, zur Physik und Statistik sowie zum Leib-Seele-Problem, erstreckt sich das Spektrum der für sein Werk zentralen Arbeiten von Fragen der Wissenschaftstheorie im allgemeinen über Fragen der sozialwissenschaftlichen Methodologie im besonderen bis hin zu politischen Stellungnahmen gegen totalitäre Gefährdungen der Demokratie (Abb. 1).

Abbildung 1:

Die thematische Spannweite

|102|Zweitens wird Popper nicht müde zu betonen, dass all diese Beiträge systematisch zusammenhängen, dass es sich um Anwendungen ein und desselben Denkansatzes handelt, um Anwendungen des kritischen Rationalismus.

Drittens bleibt die Genese dieses Denkansatzes weitgehend im Dunkeln. Schon gar nicht wird sie durch die Reihenfolge der Schriften wiedergegeben: Zum einen klaffen Verfertigung und Veröffentlichung der Schriften zeitlich z.T. weit auseinander. Zum anderen scheinen die grundlegenden politischen und methodologischen Überzeugungen Poppers geraume Zeit vor der ersten (wissenschaftstheoretischen) Buchpublikation – und zudem koevolutiv – entstanden zu sein.

Hinzu kommt eine vierte Zugangsschwierigkeit. Nicht nur setzt das Werk ein, nachdem die Entstehung des Denkansatzes bereits (weitgehend) vollzogen ist; darüber hinaus sind die Schriften von Popper so angesetzt, dass sie auch die weitere Entwicklung seines Denkens eher im Dunkeln lassen, denn auf (vermeintliche) Gegenargumente, die er der Sache nach anerkennt, reagiert Popper regelmäßig mit dem Hinweis – und oft sogar mit dem Nachweis –, dies immer schon, d.h. bereits in seinen Frühschriften, so gesehen zu haben. Poppers Standardantwort auf Kritik besteht darin, missverstanden worden zu sein, und Neuerungen erfolgen bei ihm – von wenigen Ausnahmen abgesehen – stets im Stil einer Ausarbeitung alter Ideen, die sich bis in seine frühe Jugend zurückverfolgen lassen.

In der Tat ist Poppers Werk in einem ungewöhnlichen Ausmaß Primärliteratur und Sekundärliteratur zugleich. Es ist durchzogen von autobiographischen Schilderungen, Eigenzitaten und Selbstkommentaren. Manche Leser werden hiervon abgestoßen und empfinden die Form einer solchen Argumentation als – je nachdem – manieriert, arrogant, selbstverliebt, monologisierend oder gar dogmatisch. Doch sollte man hier nicht allzu empfindlich sein. Neben dem Versuch, gravierende Missverständnisse seiner Position zurückzuweisen und den systematischen Zusammenhang seiner Auffassungen zu verdeutlichen, bilden Poppers autobiographische Selbstinterpretationen nämlich geeignete „Ausgangspunkte“[141] für eine kritische Rekonstruktion des zugrunde liegenden Denkansatzes.

2. Popper über Popper: Die autobiographische Selbstinterpretation

Poppers eigener Auskunft zufolge sind es zwei Ereignisse, die ihn – als Siebzehnjährigen – besonders geprägt haben. Das erste Ereignis ist politischer Natur.[142] Im Sommer 1919 wurden junge Arbeiter beim Versuch, gefangene Kommunisten zu befreien, von der Wiener Polizei erschossen. Sie waren unbewaffnet – und auch ansonsten weitgehend unvorbereitet – in einen Kampf geschickt worden, von dem ihre Parteiführer annahmen, dass er mit historischer Notwendigkeit gewonnen werde. Hieraus zog Popper diverse intellektuelle Konsequenzen. So machte er es sich zur Auffassung, dass man für die eigenen Ideen allenfalls sich selbst, nicht jedoch andere opfern dürfe und dass jene Gesellschaftsordnungen |103|besonders vorzugswürdig seien, in denen es möglich ist, politische Auseinandersetzungen friedlich auszutragen.[143]

Das zweite Ereignis ist wissenschaftlicher Natur.[144] Anlässlich der Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 konnten bestimmte Aussagen der Relativitätstheorie Albert Einsteins erstmals experimentell überprüft werden und wurden in der Tat bestätigt. Die bis dahin erfolgreichste Theorie aller Zeiten, die schlechterdings für wahr gehaltene Physik Isaac Newtons, wurde nachdrücklich in Frage gestellt und erschien nunmehr als bloßer Spezialfall der allgemeineren Theorie Einsteins, die Bedingungen angeben konnte, wann mit einem Scheitern der Newtonschen Physik zu rechnen sei und wann nicht. Popper war nicht nur vom Erfolg dieser Prognose nachhaltig beeindruckt, sondern auch und vor allem davon, dass Einstein das Risiko eines Misserfolgs überhaupt eingegangen – und sogar gezielt eingegangen – war: Zunächst maßgeblich beeinflusst durch die Lektüre von Karl Marx, Sigmund Freud und Alfred Adler, dessen zeitweiliger Mitarbeiter er später war, hatte Popper ein latentes Unbehagen gegenüber allen drei Ansätzen entwickelt. Auf die Marxisten, Freudianer und Adlerianer in seinem Bekanntenkreis wirkte es faszinierend, in jedem tatsächlichen oder auch nur denkbaren Sachverhalt eine Bestätigung der jeweiligen Theorie sehen zu können, während – so Poppers Interpretation – Einstein seiner eigenen Theorie gegenüber eine völlig andere Einstellung zeigte. Einstein gab Bedingungen an, unter denen er sich genötigt sähe, seine Theorie verwerfen oder doch nachbessern zu müssen. Hieraus zog Popper die Konsequenz, sich eine solchermaßen (selbst-)kritische Einstellung zu eigen machen zu wollen.

Diese beiden Ereignisse bilden eine nützliche Hintergrundfolie für das Verständnis der wissenschaftstheoretischen Schriften Poppers auf der einen Seite, seiner politischen Schriften auf der anderen Seite, aber auch für das Verständnis ihres systematischen Zusammenhangs, der durch Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften vermittelt ist. Als These formuliert: Poppers politische Stellungnahmen beruhen auf einer Anwendung seiner sozialwissenschaftlichen Methodologie; diese ist ihrerseits eine Anwendung seiner Wissenschaftstheorie; Poppers Wissenschaftstheorie wiederum ist eine Anwendung seines konzeptionellen Denkansatzes, des kritischen Rationalismus; diese Hintergrundkonzeption ist ihrerseits das Produkt einer systematisch integrierten Lösung der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie; und jedes dieser beiden Grundprobleme steht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den beiden prägenden Ereignissen des Jahres 1919. Der Erläuterung und Einlösung dieser These sind die beiden nächsten Abschnitte gewidmet.

 

|104|3. Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie

(1) In seinem wissenschaftstheoretischen Frühwerk[145] setzt sich Popper mit zwei Problemen auseinander, die von grundlegender Bedeutung für die Erkenntnistheorie sind. Das erste Problem nennt er das Abgrenzungsproblem. Es geht Popper um die Frage, wie man Wissenschaft von Pseudo-Wissenschaft unterscheiden könne.[146] Als Abgrenzungskriterium schlägt er „Falsifizierbarkeit“ vor: Kennzeichen der Wissenschaft sei es, sich um prüfbare, d.h. prinzipiell widerlegbare, Aussagen zu bemühen. Kennzeichen von Pseudo-Wissenschaft sei es hingegen, genau dies nicht zu tun, sondern statt dessen mit Immunisierungen und tautologischen Aussagen zu arbeiten. Popper zufolge bleibt Pseudo-Wissenschaft dem Stadium der Metaphysik durchgängig verhaftet (Abb. 2). Anfang und Ende liegen hier im Bereich metaphysischer, d.h. nicht-prüfbarer, Aussagen. Demgegenüber beginne wahre Wissenschaft zwar oft mit metaphysischen Ideen (als Heuristik). Sie bleibe hierbei jedoch nicht stehen, sondern bemühe sich, ihre metaphysischen Anfangsgründe in empirisch testbare Theorie-Ergebnisse zu transformieren. Für Popper setzt sich wahre Wissenschaft dem Risiko des Scheiterns aus. Genau das meint Falsifizierbarkeit.

Abbildung 2:

Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium

(2) Das zweite Problem nennt Popper das Induktionsproblem. Hier geht es ihm um die Frage, ob und wann induktive Schlüsse gültig sind.[147] Letztlich zielt diese Frage auf die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion: Verfügt die Wissenschaft über eine Methode, aus einzelnen Beobachtungen allgemeingültige Aussagen generieren zu können? Seine Antwort auf diese Frage ist ein klares nein: Popper ist Fallibilist. Für ihn gibt es keine sichere Erkenntnis, keine letzten Gewissheiten, kein unfehlbares Wissen. Aus seiner Sicht ist jedes Wissen Vermutungswissen; es ist konjektural, hypothetisch, fallibel. Dies gilt auch und erst recht für wissenschaftliches Wissen. Niemand, auch |105|die Wissenschaft nicht, verfügt über einen Königsweg zur sicheren Erkenntnis. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse sind stets vorläufiger Natur und können sich jederzeit als falsch erweisen. Dennoch kann die Wissenschaft Fortschritte machen. Freilich hängt ihre Fortschrittsfähigkeit von der Methode ab. Worin aber besteht nun die Methode einer fortschrittsfähigen Wissenschaft, wenn nicht in der Induktion? Poppers Antwort auf diese Frage ist ein radikaler Deduktivismus. Er vertritt die Auffassung, dass alle denkbaren Methoden, sich der (prinzipiell vorläufigen) Gültigkeit einer Aussage wissenschaftlich zu versichern, „ausnahmslos auf streng logischer Deduktion beruhen und dass es keine wie immer geartete Induktion als wissenschaftliche Methode gibt“[148]. Dieser Auffassung liegen zwei Argumente zugrunde.

Erstens hält Popper die induktive Methode für eine Fiktion, für eine auf erkenntnistheoretischen Missverständnissen und empiristischen Selbstmissverständnissen beruhende Einbildung, und zwar einfach deshalb, weil es aus seiner Sicht reine Beobachtungstatsachen nicht geben kann. Vielmehr gehen jeder Beobachtung bereits bestimmte Erwartungen voraus. Erwartungen – gerade auch enttäuschte Erwartungen, d.h. Probleme – sind stets vorgängig; sie sind das systematisch Primäre jeder Erkenntnis. Popper weist die Vorstellung einer induktiven Erfahrungsgrundlage für Theorien zurück und vertritt die diametral entgegengesetzte Auffassung, dass Erfahrungen ihrerseits auf einer theoretischen Grundlage beruhen. Für ihn steht fest, „dass Beobachtungen … immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen sind und dass sie Interpretationen im Lichte von Theorien sind“[149]. Deshalb sind Beobachtungstatsachen nicht jene theorie-unabhängige Basis, deren ein induktives Verfahren notwendig bedarf. Dies verurteilt die Induktion zur weitgehenden Bedeutungslosigkeit. Als wissenschaftliche Methode spielt sie keine Rolle.

Zweitens hält Popper eine theoretische Aussage dann für vorläufig gültig, wenn sie ernste Widerlegungsversuche (bis auf weiteres) erfolgreich überstanden hat. Aus seiner Sicht können theoretische Aussagen über die Wirklichkeit niemals verifiziert, wohl aber (wiederum vorläufig) falsifiziert werden. Logisch betrachtet, beruht ein solcher Falsifikationsschluss auf dem ‚modus tollens‘, also darauf, die Falschheit theoretischer Implikationen auf die Falschheit der diesen Implikationen vorausgehenden Annahmen zu übertragen. Dieser Übertragungsschluss jedoch ist deduktiver Natur. Folglich kann über die vorläufige Gültigkeit theoretischer Aussagen nur mittels deduktiver Methoden entschieden werden.[150] Poppers Lösung des Induktionsproblems besteht also in einer konsequent fallibilistischen Deduktion. Wie hängen nun die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie zusammen? Und in welcher Verbindung stehen sie mit den Ereignissen des Jahres 1919?

(3) Der Zusammenhang der beiden Probleme ergibt sich daraus, dass die induktive Methode von zahlreichen Wissenschaftlern – implizit oder explizit – als |106|Abgrenzungskriterium aufgefasst worden ist. Nach dem Motto „it needs a theory to beat a theory“ musste also erst ein anderes Abgrenzungskriterium als überlegene Alternative formuliert werden, um Poppers Lösung des Induktionsproblems akzeptabel zu machen. Aus diesem Grund hat Popper von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass das Abgrenzungsproblem das grundlegendere Problem darstellt und dass das Induktionsproblem sogar auf das Abgrenzungsproblem zurückgeführt werden kann.[151] Dies hat zur Folge, dass auf beide erkenntnistheoretischen Grundlagenfragen letztlich die gleiche Antwort gegeben werden kann. Der Problemselbigkeit korrespondiert eine Identität der Lösungen: Die Lösung des Abgrenzungsproblems besteht im Kriterium der Falsifizierbarkeit, und die Lösung des Induktionsproblems besteht in einer auf Falsifizierungsversuche ausgerichteten deduktiven Methode.

(4) Was nun aber die Verbindung zu den beiden Ereignissen des Jahres 1919 anbelangt, so ist augenfällig, dass das erste, politische Ereignis der Formulierung des Abgrenzungsproblems und das zweite, wissenschaftliche Ereignis der Formulierung des Induktionsproblems den Weg weist. Poppers Reaktion auf den tragischen Tod politisierter Jugendlicher im Wien des Jahres 1919 bestand in einer jähen Wende vom Marxismus zum Anti-Marxismus, denn er machte den Marxismus politischer Führer dafür verantwortlich, dass hier Menschenleben einer Ideologie geopfert worden waren, die den historischen Sieg sicher auf ihrer Seite wusste. Fortan wollte Popper – aus Gewissensgründen – dem marxistischen Anspruch entgegentreten können, eine marxistische Sozialwissenschaft könne in ähnlicher Weise ein Geschichtsgesetz aufstellen wie die Naturwissenschaft ein Naturgesetz. Wie lässt sich der ‚wissenschaftliche Sozialismus‘ als Pseudo-Wissenschaft überführen? Es ist exakt diese Frage, durch die Popper zur Formulierung des Abgrenzungsproblems geführt wurde.[152]

Die Formulierung des Induktionsproblems hingegen erfolgte erst einige Jahre später, aber sie erfolgte unter dem Eindruck der Theorie-Erfolge Albert Einsteins.[153] Zum einen hatten die in zahllosen Experimenten erfolgten Bestätigungen der Physik Newtons nicht verhindern können, dass Newton durch Einstein überholt wurde. Die induktive Basis erwies sich – völlig wider Erwarten – als schwankende Grundlage. Zum anderen hatte Einstein seine Theorie nicht durch Induktion gewonnen, sondern mit Hilfe kühner Vermutungen: kühner Annahmen und kühner (deduktiver) Folgerungen, um deren empirische Testbarkeit er dezidiert bemüht war. Einstein nahm die Möglichkeit eines empirischen Scheiterns seiner Theorie nicht nur passiv in Kauf. Vielmehr setzte er seine Theorie sogar aktiv dem Risiko des Misserfolgs aus. Hierin wurde er Popper zum Vorbild einer kritischen Einstellung gegenüber Theorien – und insbesondere zum Vorbild |107|einer selbstkritischen Einstellung gegenüber eigenen Theorien. Mehr noch: Poppers Zurückweisung der induktiven Methode und seine Propagierung der auf Falsifizierbarkeit ausgerichteten deduktiven Methode (ent-)standen direkt unter dem Einfluss von – Poppers Interpretation von – Albert Einsteins Theoriestrategie und ihren Erfolgen.[154] Sie sind somit eine intellektuelle Verarbeitung des zweiten, wissenschaftlichen Ereignisses des Jahres 1919.

4. Das Hintergrundkonzept: kritischer Rationalismus als Theorie sozialen Lernens

Die Problemselbigkeit der beiden Grundprobleme und die letztliche Identität ihrer Lösungen münden in einen kritischen Rationalismus, der als Hintergrundkonzept allen weiteren Schriften Poppers eine eigentümliche Prägung verleiht. Als These formuliert: Der kritische Rationalismus Karl Poppers ist im Kern eine Lerntheorie, und zwar eine Theorie sozialen Lernens. Die Einlösung dieser These erfolgt in zwei Schritten. Zunächst geht es um eine philosophische Kennzeichnung des kritischen Rationalismus. Sodann wird gezeigt, inwiefern der chronologischen Reihenfolge vier zentraler Veröffentlichungen Poppers eine systematische Reihenfolge entspricht, weil sich alle vier Veröffentlichungen als Anwendungen des kritisch-rationalen Ansatzes interpretieren lassen.

Ausgangspunkt der philosophischen Kennzeichnung des kritischen Rationalismus ist folgendes Zitat: „Bezeichnet man (nach Kant) das Induktionsproblem als ‚Humesches Problem‘, so könnte man das Abgrenzungsproblem ‚Kantsches Problem‘ nennen.“[155] Popper selbst sieht sich als Nachfolger Immanuel Kants. Er hat sich – so seine Selbstinterpretation – die erkenntnistheoretische Frage Kants zu eigen gemacht und aufgrund einer signifikant anderen Problemsituation eine neue Antwort gefunden. Diese Antwort ist der kritische Rationalismus. Durch ihn wird, so Poppers Anspruch, Kants Kritik der reinen Vernunft überholt.

Popper zufolge war Kants Problemsituation durch David Hume und Isaac Newton gekennzeichnet. Auf der einen Seite hatte Hume das Induktionsprinzip scharf kritisiert, und Kant sah sich genötigt, diese Kritik als berechtigt anzuerkennen. Auf der anderen Seite aber hatte Newton eine Physik vorgelegt, deren weltbewegende Theorie-Erfolge anzuerkennen Kant sich ebenfalls genötigt sah. Wie aber war beides zu vereinbaren? Kants geniale Antwort auf diese Frage bestand darin, zwischen empirischen Aussagen einerseits und den Kategorien empirischer Aussagen andererseits, etwa den ‚Anschauungsformen‘ von Zeit und Raum oder der Kausalitätskategorie, zu unterscheiden und auf Humes Induktionskritik |108|mit einer deduktiven Wendung zu reagieren, einer – für Kant: kopernikanischen – Wendung hin zu einer apriorischen Deduktion, die in dem berühmten Satz kulminiert: „Der Verstand schöpft seine Gesetze … nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“[156] Kant hielt diese Gesetze – unter dem Eindruck der Newtonschen Theorie-Erfolge – für unumstößlich wahr, für infallibel.

Vor diesem Hintergrund ist Poppers eigene Problemsituation durch Immanuel Kant und Albert Einstein gekennzeichnet. Auf der einen Seite hatte Kant – unter dem Einfluss Newtons – die unbezweifelbare Gültigkeit kategorialer Gesetzesaussagen behauptet. Auf der anderen Seite hatte Einstein die Physik Newtons überholt und gerade dadurch jeglichem Vertrauen in die Möglichkeit letztgültiger Erkenntnis die Basis entzogen. Poppers Reaktion auf diese radikal veränderte Problemsituation besteht darin, Kants Hypothetizismus in bezug auf empirische Aussagen – seine transzendentale Kritik synthetischer Urteile a priori – zu radikalisieren und nun auch jene Kategorien als prinzipiell fallibel aufzufassen, die der Generierung empirischer Aussagen vorangehen. Für Popper haben durchgängig alle theoretischen Aussagen einen hypothetischen Status. Damit vollzieht er eine fallibilistische Wendung, eine – für Popper: sokratische – Wendung, die die Vorstellung sicheren Wissens durch die Vorstellung eines stets unsicheren Vemutungswissens ersetzt.

Im Bereich des Vermutungswissens – und für Popper ist alles Wissen Vermutungswissen – gibt es keine sichere Basis, keine verlässliche Grundlage; wohl aber gibt es Erkenntnisfortschritt. Lernprozesse sind möglich. Enttäuschte Erwartungen können korrigiert werden. Eine erste Kernbotschaft des kritischen Rationalismus lautet: Wir lernen aus Fehlern. Versuch und Irrtum sind die zentralen Bestandteile methodischen Erkenntnisfortschritts. Eine zweite Kernbotschaft des kritischen Rationalismus lautet: Wir lernen im Modus der Kritik. Es ist dem Erkenntnisfortschritt förderlich, von anderen auf Fehler hingewiesen zu werden, die man selbst nicht gesehen hat. Folglich können Lernprozesse durch kritische Diskussionen wesentlich befördert werden. Diese zweite Botschaft verwandelt die kritisch-rationale Lerntheorie in eine Theorie sozialen Lernens. Als These formuliert: Poppers kritischem Rationalismus zufolge entfaltet sich Rationalität durch Kritik, durch einen sozialen, inter-personellen Lernprozess kritischer Diskussion.

 

Im Folgenden wird zu zeigen versucht, dass sich Poppers Schriften zur Wissenschaftstheorie im allgemeinen, zur Methodologie der Sozialwissenschaften im besonderen, seine politischen Stellungnahmen gegen totalitäre Gefährdungen der Demokratie und darüber hinaus auch sein Entwurf objektiver Erkenntnis als Anwendungen des kritischen Rationalismus interpretieren lassen, d.h. als Anwendungen einer Theorie sozialen Lernens.

(1) Die Anwendung des kritischen Rationalismus auf das Problem wissenschaftlicher Erkenntnis führt zu einer radikalen Änderung der erkenntnistheoretischen Fragestellung. Es geht nicht länger um das Subjekt, sondern um das Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis, nicht um Erkenntnisfindung, sondern um Erkenntnisgeltung, d.h. um die (vorläufige) Gültigkeit wissenschaftlicher |109|Erkenntnisse, also um das Resultat wissenschaftlicher Diskussionen, in denen versucht wird, theoretische Vermutungen zu widerlegen. Poppers kritisch-rationale Wissenschaftstheorie setzt an die Stelle einer zu seiner Zeit weit verbreiteten Erkenntnispsychologie eine „Logik der Forschung“, eine „Lehre von der deduktiven Methodik der Nachprüfung“[157]. In der Tat ist Poppers Wissenschaftstheorie eine Lehre von der deduktiven, d.h. logisch gestützten, Methode inter-subjektiver Nachprüfung und gerade darin eine Anwendung der kritisch-rationalen Theorie sozialen Lernens.

(2) Poppers ‚Logik der Forschung‘ zufolge sind wissenschaftliche Diskussionen eine extreme Spezialform kritischer Diskussionen, ein institutionen- und traditionengestützter Sonderfall, der es dem gesunden Menschenverstand ermöglicht, eine extreme Leistungsfähigkeit zu erreichen. Demnach ist Wissenschaft nicht nur durch das Genie einzelner Forscher und ihre kühnen Vermutungen, sondern auch durch die Widerlegungsversuche der Forschergemeinschaft gekennzeichnet. Eine solche Arbeitsteilung ist auf geeignete Anreize angewiesen. Folglich kann die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Fehlanreize behindert werden. Störungen dieses Produktionsprozesses treten vor allem dann ein, wenn sich die Spezialisierung und Zusammenarbeit der Wissenschaftler an einer verfehlten Methodologie orientiert. In dieser Hinsicht hält Popper nicht so sehr die Naturwissenschaften als vielmehr die Sozialwissenschaften für besonders störanfällig. Sie haben, so Popper, ihren Galilei bis heute nicht gefunden, d.h. sie verfügen (noch?) nicht über eine hinreichend robuste Erkenntnistradition.[158] Auf diese Problemsituation reagieren Versuche, die naturwissenschaftliche Erkenntnistradition in den Sozialwissenschaften zu kopieren. Diese Versuche sind umstritten, und zu diesem Streit nimmt Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften Stellung.

In seinem Buch über das „Elend des Historizismus“[159] – das Elend einer Auffassung, die die Sozialwissenschaften auf historische Voraussagen festlegen will –, unterscheidet Popper zwei historizistische Varianten. Die eine nennt er pro-, die andere anti-naturalistisch. Erstere befürwortet „die Anwendung physikalischer Methoden in den Sozialwissenschaften“[160], letztere lehnt eine solche Anwendung ab. Popper wirft beiden Varianten im Prinzip denselben Fehler vor: nämlich ein grundlegendes Missverständnis der physikalischen Methode.

Hinsichtlich der anti-naturalistischen Variante des Historizismus diagnostiziert Popper, dass sie zu holistischen Sozialexperimenten neige, bei denen das gesellschaftliche Ganze aufs Spiel gesetzt wird, und dass sie mithin die Bedeutung kontrollierter Experimente in der Physik verkenne. In Anlehnung an solche kontrollierten Experimente formuliert Popper den Gegenentwurf einer „Stückwerks-Sozialtechnologie“, derzufolge institutionelle Reformen inkrementalistisch, Schritt für Schritt zu erfolgen haben, weil sich nur so das Zurechnungsproblem lösen lässt, welche Institutionen für welche Missstände überhaupt verantwortlich sind. Popper macht geltend, dass sein Konzept über eine überlegene |110|Lernfähigkeit verfüge. Es ist also ein lerntheoretisches und in diesem Sinne kritisch-rationales Argument, das für inkrementalistische und gegen holistische Reformversuche spricht. Popper (1944–45, 1987; S. 70): „[E]s ist sehr schwer, aus sehr großen Fehlern zu lernen.“

Hinsichtlich der pro-naturalistischen Variante des Historizismus diagnostiziert Popper, dass die Annahme historischer Entwicklungsgesetze auf einem Missverständnis der Verwendung von Naturgesetzen in der Physik beruhe. Die logische Struktur wissenschaftlicher Erklärungen und Prognosen werde grundlegend verkannt, mit der Folge, dass der sozialwissenschaftliche Erkenntisfortschritt nachhaltig behindert werde. Wiederum ist es ein letztlich lerntheoretisches Argument, dessen sich Popper hier bedient. Dieses Argument lässt sich in drei Schritten rekonstruieren, die in eine vernichtende Kritik des Pro-Naturalismus münden.

Der erste Schritt besteht in einer aussagenlogischen Erläuterung des (natur-) wissenschaftlichen Erklärungskonzepts: Erklärung heißt, ein Explikandum aus einem Explikans herzuleiten. Das Explikandum besteht aus Sätzen, die einen empirischen Sachverhalt beschreiben. Das Explikans hingegen besteht aus zwei Arten von Prämissen. Zum einen handelt es sich um universale Sätze, zum anderen um singuläre Sätze. Die universalen Sätze formulieren hypothetische Naturgesetze, d.h. sie beanspruchen allgemeine Gültigkeit. Die singulären Sätze jedoch beziehen sich auf den jeweiligen Einzelfall; sie spezifizieren die konkreten Bedingungen und beanspruchen als Hypothesen daher lediglich situative Gültigkeit. Eine Erklärung besteht nun in dem Versuch, den beschriebenen Sachverhalt aus singulären und universalen Sätzen folgen zu lassen.

Im zweiten Schritt erfolgt eine aussagenlogische Erläuterung des wissenschaftlichen Prognosekonzepts. Während eine Erklärung bei einem bereits vorliegenden Explikandum ansetzt und dieses auf ein allererst zu entwickelndes Explikans zurückführt, geht eine wissenschaftliche, d.h. bedingte Prognose genau anders herum vor. Sie setzt beim Explikans an und schließt auf ein Explikandum, d.h. auf einen Sachverhalt, der erst in der Zukunft eintreten wird. Wissenschaftliche Erklärungen und Prognosen weisen eine gleichartige aussagenlogische Struktur auf; ihre Argumentationsrichtung ist jedoch diametral entgegengesetzt.

Der dritte Schritt besteht in einer aussagenlogischen Erläuterung des wissenschaftlichen Fortschrittskonzepts: Fortschritt heißt, Erklärungen und Prognosen zu verbessern, d.h. aus Fehlern zu lernen. Scheitert die deduktive Verknüpfung von Explikans und Explikandum, so kann dies unter bestimmten Umständen – nämlich dann, wenn die situative Gültigkeit der singulären Sätze ebenso wie die Beschreibung des Explikandums vergleichsweise unproblematisch ist – als eine Prüfung des universalen Satzes aufgefasst werden und als erfolgreiche Anwendung des ‚modus tollens‘ einen Anstoß zu theoretischen Weiterentwicklungen geben, d.h. zu Verbesserungen der universalen Sätze.

In diesen drei gedanklichen Schritten wird die Aussagenlogik als Darstellungsmittel einer – nicht aussagenlogischen, sondern – methodologischen Argumentation verwendet. Diese Argumentation mündet in Poppers Kritik, dass die in der pro-naturalistischen Historizismusvariante verwendeten Gesetzesaussagen nicht universale, sondern singuläre Sätze sind, die sich auf historische Einzelereignisse oder Folgen solcher Einzelereignisse beziehen, z.B. auf das historische ‚Gesetz‘ |111|einer Stufenfolge gesellschaftlicher Entwicklungsstadien. Dieses durch eine Äquivokation des Gesetzesbegriffs – wenn nicht hervorgerufene, so doch – verstärkte Selbstmissverständnis der eigenen Methode sei vor allem deshalb so bedeutsam, weil es das Auffinden wirklicher Gesetze durch die Sozialwissenschaften erschwere oder sogar verhindere. Popper argumentiert, dass eine (Rück-)Übertragung dieser sozialwissenschaftlichen Praxis auf die Naturwissenschaften theoretischen Fortschritt zunichte machen würde: „Wir können … nicht hoffen, eine universale Hypothese prüfen und ein für die Wissenschaft annehmbares Naturgesetz finden zu können, wenn wir dauernd auf die Beobachtung eines einzigartigen Prozesses beschränkt sind.“[161] Wieder ist es also ein lerntheoretisches und in diesem Sinne kritisch-rationales Argument, auf das er sich stützt: Auch in den Sozialwissenschaften erfolge Erkenntnisfortschritt durch Kritik, und ebendieser Kritik werde durch historizistische Methodendefizite der Boden entzogen, mit der Konsequenz eines vergleichsweise geringeren Erfolgs der Sozialwissenschaften. Für Popper steht der Historizismus der Falsifizierbarkeit im Wege und führt zur Pseudo-Wissenschaft.