Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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Formal kommt diese kategoriale Umstellung darin zum Ausdruck, dass die Nutzenfunktion (U) nicht mehr über Marktgüter (xi), sondern über Zielgüter (Zj) – die sog. ‚basic commodities‘ – definiert wird:

für j = 1, …, m.

Für jedes Zielgut wird eine Haushaltsproduktionsfunktion definiert. Sie gibt an, mit Hilfe welchen Ressourceneinsatzes die Zielgüter produziert werden.

für j = 1, …, m und i = 1, …, n.

Typischerweise gehen in die Haushaltsproduktion verschiedene Marktgüter (xi) ein. Im Unterschied zur traditionellen Preistheorie stiften sie also nicht direkt Nutzen, sondern müssen zum Zweck der Nutzenproduktion allererst kombiniert werden. Diese Kombination hängt vom Stand des Wissens (W) ab, d.h. von der Konsumtechnologie, über die ein Haushalt verfügt. – Im Becker-Ansatz unterliegt der Haushalt daher mindestens zwei Restriktionen: einer monetären Budgetrestriktion, die bestimmt, wieviel Marktgüter maximal eingekauft werden können, und einer technologischen Restriktion, die bestimmt, wie Marktgüter in Zielgüter transformiert werden können. Unter vereinfachenden Annahmen lassen sich diese beiden Restriktionen zu einer einzigen Restriktion zusammenfassen, indem die Technologiebedingung in die Budgetrestriktion eingesetzt wird.[106] Man erhält:


Hierbei geben die Inputkoeffizienten bij an, wieviel Einheiten des Marktgutes i eingesetzt werden müssen, um eine Mengeneinheit des Zielgutes j zu produzieren. Der in Klammern gesetzte Ausdruck gibt die Faktorkosten einer Zielguteinheit |80|an. Diese Faktorkosten ergeben sich aus der Summe der mit Marktgüterpreisen bewerteten Inputkoeffizienten. Im Becker-Ansatz werden diese Faktorkosten als Schattenpreis (Sj) des Zielgutes j interpretiert:


Mit Hilfe dieses Schattenpreises lässt sich die neue Restriktion umschreiben. Statt Gleichung (6) erhält man:


Diese Budgetrestriktion sagt aus, dass die Ausgabensumme für Basisgüter das verfügbare Einkommen nicht überschreiten darf. Wird die über Zielgüter definierte Nutzenfunktion unter Beachtung dieser Nebenbedingung maximiert, so lässt sich das Verhaltensgleichgewicht des Haushalts durch folgende Optimalitätsbedingung erster Ordnung kennzeichnen:


Vergleicht man die Gleichungen (1), (2) und (3) mit den Gleichungen (4), (8) und (9), so wird sofort deutlich, dass der Becker-Ansatz die formale Struktur des mathematischen Kalküls der traditionellen Preistheorie beibehält. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Becker-Ansatz aufgrund kategorialer Umstellungen eine reichhaltigere Klasse von Restriktionen berücksichtigen kann, mit der Folge, dass nun nicht mehr lediglich die monetären Preise der Marktgüter, sondern statt dessen die allgemeiner definierten Schattenpreise der Zielgüter herangezogen werden können, um die jeweils verhaltensrelevanten Opportunitätskosten situationsadäquat – d.h. in einer dem jeweiligen Erklärungsproblem angemessenen Weise – zu bestimmen.

(6) Die Möglichkeit, durch die Haushaltsproduktionsfunktion mehr Restriktionen – und das heißt vor allem: andere als die rein monetären Restriktionen der traditionellen Preistheorie – in Rechnung zu stellen, kommt freilich erst mit dem dritten Schritt voll zum Tragen: der Entwicklung der Zeitallokationstheorie, die neben Geld und Wissen die – zunehmend knappe – Ressource Zeit als Einsatzfaktor der Haushaltsproduktion in Ansatz bringt.[107]

Berücksichtigt man, dass die Haushaltsproduktion Zeit erfordert, so bestimmt die Konsumtechnologie nicht nur, wie sich Marktgüter in Zielgüter transformieren lassen, sondern sie bestimmt auch, wieviel Zeit für die einzelnen Produktionsvorgänge jeweils aufgewendet werden muss. Dies schlägt sich in der Definition des Schattenpreises nieder:


|81|Der Schattenpreis Sj gibt die Faktorkosten an, die bei der Produktion einer Einheit des Zielgutes j anfallen. Diese Faktorkosten setzen sich aus zwei Komponenten zusammen, die symmetrisch aufgebaut sind. Sie enthalten jeweils einen Mengen- und einen Preisbestandteil. Die erste Komponente enthält – wie bisher – die mit den jeweiligen Marktpreisen (pi) gewichteten Inputkoeffizienten der Marktgüter (bij). Die zweite – zusätzliche – Komponente enthält den mit dem Zeitpreis gewichteten Zeitinputkoeffizienten (tj), wobei als Zeitpreis der Opportunitätskostensatz der Konsumzeit, d.h. der Lohnsatz (w), angesetzt wird.

Als unmittelbare Implikation dieser Konzeptualisierung folgt, dass ein gestiegener Lohnsatz den Schattenpreis jener Zielgüter überproportional ansteigen lässt, die relativ zeitintensiv produziert werden: Aus Gleichung (9) lässt sich ersehen, dass ein Anstieg von S1 relativ zu S2 einen rationalen Nutzenmaximierer veranlasst, sein Verhalten marginal dahingehend anzupassen, dass er weniger von Z1 und dafür mehr von Z2 produziert.[108]

Aus diesen Überlegungen folgt ein signifikanter Erklärungsbeitrag für das empirisch beobachtbare Fertilitätsverhalten. Interpretiert man Kinder als Zielgut Z1 und setzt Z2 für das Bündel aller übrigen Zielgüter, so kann unter der empirischen Annahme, dass das Aufziehen von Kindern: ihre Betreuung, Erziehung, Pflege usw., relativ zeitintensiver ist als der Durchschnitt der anderen Konsumaktivitäten, der empirische Befund eines negativen Einkommenseffekts in ökonomischen Kategorien erklärt werden. Er verliert damit seinen Status als Anomalie.

Die Kernidee dieser Erklärung stellt darauf ab, dass in praktisch allen entwickelten Gesellschaften der Lohnsatz für weibliche Erwerbsarbeit im Verlauf der letzten Jahrzehnte stark angestiegen ist. Hiervon gehen Einkommens- und Preiseffekte aus. Einerseits verschiebt der gestiegene Lohn die Budgetgerade parallel nach außen von B0 auf B1. Der Haushalt hat mehr Ressourcen zur Verfügung. Sein Möglichkeitenraum ist erweitert. Andererseits aber wird die Budgetgerade zusätzlich noch gedreht, und zwar von B1 nach B2 (Abbildung 4a). Ihre Steigung verläuft flacher. Da diese Steigung durch das Verhältnis der Schattenpreise bestimmt wird, repräsentiert der flachere Verlauf der Budgetgerade B2 einen Preiseffekt. Er spiegelt wider, dass mit einem steigenden Lohnsatz die Opportunitätskosten der zur Haushaltsproduktion verwendeten Zeit steigen. Die steigenden Zeitkosten verteuern jene Zielgüter (Z1), die vergleichsweise zeitintensiv produziert werden, während sie jene Zielgüter (Z2) relativ verbilligen, deren Herstellung vergleichsweise wenig Zeiteinsatz erfordert.

|82|Abbildung 4:

Beckers Auflösung der Anomalie eines negativen Einkommenseffekts

Rationalverhalten unterstellt, geht von dieser Veränderung der relativen Schattenpreise ein Substitutionseffekt zugunsten zeitsparender Aktivitäten aus. In Bezug auf das relativ teurer werdende Zielgut Z1 ist daher ein negativer Preiseffekt zu konstatieren, der den positiven (sic) Einkommenseffekt teilweise kompensiert (Abbildung 4b) oder sogar überkompensiert (Abbildung 4c).

Die sinkende Geburten-Rate lässt sich also als eine rationale Reaktion auf gesellschaftliche Daten-Änderungen rekonstruieren. Ausgelegt in den Kategorien des Becker-Ansatzes, verliert der empirische Befund einer negativen Korrelation von Familiengröße und Familieneinkommen seinen anomalen Charakter. Die Berücksichtigung nicht nur monetärer, sondern auch nicht-monetärer Restriktionen verändert nämlich die theoretischen Zurechnungsmodalitäten: Sie entbindet davon, den empirischen Befund ausschließlich, d.h. undifferenziert, auf das monetäre Einkommen zurechnen zu müssen. Statt dessen erlaubt sie eine differenziertere Zurechnung auf das monetäre (volle) Einkommen und auf die – auch nicht-monetäre Bestimmungsfaktoren umfassenden – Schattenpreise: Die Anomalie des negativen Einkommenseffekts ist das Resultat eines inadäquat verengten Kategoriensystems. Beckers Erweiterung dieses Systems durch Umstellung der preistheoretischen Kategorien löst die Anomalie auf. Das Zurechnungsproblem wird durch Umrechnung gelöst.

(7) Die vollständige Verarbeitung der Anomalie erfolgt jedoch erst durch einen vierten und letzten Schritt, der auf die bereits entwickelte Humankapitaltheorie zurückgreift.[109] Wiederum wird der Nutzen, den Kinder stiften, als Zielgut aufgefasst. Zusätzlich wird nun jedoch berücksichtigt, dass dieser Kindernutzen (Z1) nicht nur von der Zahl der Kinder (N) abhängt, sondern auch von dem Humankapital (H), mit dem Kinder ausgestattet werden. Unter vereinfachenden Annahmen lässt sich entsprechende Produktionsfunktion schreiben als


Im Modell sind nun drei Schattenpreise zu unterscheiden: zum einen der Schattenpreis des Zielgutes, zum anderen die Schattenpreise für die beiden Bestandteile |83|des Zielgutes. Der Schattenpreis für das Zielgut „Kindernutzen“ betrage S1. Hieraus errechnet sich der Schattenpreis SN für die Quantität von Kindern als

 

Die Kosten eines zusätzlichen Kindes, gemessen durch SN, sind proportional zur Humankapitalausstattung pro Kind. Analog errechnet sich der Schattenpreis SH für die Qualität von Kindern als


SH misst die Kosten, die entstehen, wenn die durchschnittliche Humankapitalausstattung pro Kind erhöht wird. Diese Kosten sind proportional zur Anzahl der Kinder.

In diesem Modell kommt es zu einer interessanten Wechselwirkung zwischen den beiden Bestandteilen des Zielgutes „Kindernutzen“, denn der Schattenpreis für Quantität hängt ab von der Qualität, und umgekehrt hängt der Schattenpreis für Qualität von der Quantität ab. Hinter dieser multiplikativen Verknüpfung steckt folgender Sachverhalt: Die Kosten, die durch ein zusätzliches Kind entstehen, werden davon beeinflusst, wie hoch der durchschnittliche Ressourceneinsatz pro Kind ist. Wer viel in seine Kinder investiert, hat teurere Kinder als jemand, der wenig investiert. Umgekehrt werden die Kosten, die mit einer höheren Humankapitalauststattung pro Kind verbunden sind, davon beeinflusst, wie groß die Anzahl der Kinder ist. Wer viele Kinder hat, muss für einen gegebenen Qualitätsstandard vergleichsweise mehr Ressourcen einsetzen als jemand, der wenig Kinder hat. Dies betrifft übrigens materielle und immaterielle Ressourcen gleichermaßen. Wer jedem seiner Kinder eine bessere Erziehung oder – via (Aus-)Bildung – ein höheres Einkommenspotential zukommen lassen möchte oder wer jedes Kind mit einem eigenen Zimmer (einem eigenen Fahrrad, Fernseher, Computer usw.) ausstatten möchte, hat bei drei Kindern höhere Kosten auf sich zu nehmen als bei zwei Kindern.

Betrachtet man das Verhältnis der Schattenpreise für Quantität und Qualität


so zeigt sich eine zweite Variante zur Verarbeitung der Anomalie des negativen Einkommenseffekts. Während die erste Variante, im Rahmen der Zeitallokationstheorie, darauf abstellt, dass sich mit steigendem Einkommen auch die Schattenpreise der Zielgüter verändert haben, kann die zweite Variante die Anomalie sogar unter der Annahme auflösen, dass die Schattenpreise der Zielgüter konstant bleiben. Selbst wenn der Kindernutzen Z1 an sich nicht teurer wird, kann ein positiver Einkommenseffekt eine rationale Anpassung zu Lasten der Familiengröße auslösen, wenn die Einkommenselastizität der Qualität größer ist als die Einkommenselastizität der Quantität. Steigt H mit steigendem Einkommen stärker an als N, so nimmt nach Gleichung (14) auch das Verhältnis der Schattenpreise einen höheren Wert an. Quantität wird relativ teurer, so dass eine Substitution von Quantität durch Qualität ausgelöst wird. Rationalverhalten unterstellt, passt |84|sich der repräsentative Haushalt – und folglich das Aggregat aller Haushalte – dahingehend an, dass die Anzahl der Kinder reduziert und zugleich die Investition pro Kind erhöht wird.

Auch hier erfolgt die Auflösung der Anomalie durch eine kategoriale Umstellung. Während bei der ersten Variante die Zeit als eine zusätzliche Restriktion berücksichtigt wird, erhöht die zweite Variante das ökonomische Erklärungspotential dadurch, dass in einer differenzierteren Weise berücksichtigt wird, dass Kinder nicht nur durch ihre bloße Existenz, sondern auch durch ihre (erwarteten) Eigenschaften Nutzen stiften. Für beide Varianten ist daher das Konzept der Haushaltsproduktionsfunktion gleichermaßen konstitutiv. Zusammen mit dem Konzept der Als-Ob-Rationalität bildet es den analytischen Rahmen, in dem Beckers ursprüngliche Intuitionen zur Absorption der Anomalie des negativen Einkommenseffekts systematisch ausgearbeitet worden sind.

2. Ökonomischer Ansatz und ökonomischer Imperialismus

Die bisherige Rekonstruktion hat zu zeigen versucht, wie sich Gary Beckers Forschungsarbeiten von 1960 bis 1973 entwickelt haben: wie sie von einem familienökonomischen Erklärungsnotstand ausgehen und dann schrittweise im Kategoriensystem der traditionellen Preistheorie Umstellungen vornehmen. Der Gedanke, dass es sich bei der solchermaßen modifizierten Preistheorie um einen allgemeinen Ansatz zur ökonomischen Analyse menschlichen Verhaltens handeln könnte, hat sich bei Gary Becker – eigenem Bekunden zufolge[110] – erst Mitte der 1970er Jahre eingestellt.[111] Nur in bezug auf dieses Forschungsprogramm wird verständlich, dass Gary Beckers ökonomischer Ansatz nicht einfach den Anwendungs-„Bereich“ einer traditionell verstandenen „Wirtschafts“-Wissenschaft ausdehnt, sondern eine Radikalisierung der Preistheorie vornimmt, die das traditionelle Verständnis von Wirtschaftswissenschaft geradezu revolutioniert. Innerhalb dieses Forschungsprogramms spielt der ökonomische Imperialismus eine wichtige Rolle. Als These formuliert: Der ökonomische Imperialismus ist kein Akzidens des ökonomischen Ansatzes, sondern ein Ingrediens; er ist keine inhaltliche Zugabe, sondern ein substantieller Bestandteil der Forschungsmethode. Nicht seine Außenwirkung, sondern seine Binnenwirkung ist von primärer Wichtigkeit.

(1) Das Forschungsprogramm Gary Beckers kann man zu dem Satz verdichten, dass sich menschliches Verhalten an Kosten orientiert. Diese Kosten werden in den Kategorien von Preis- und Einkommenseffekten ausgelegt, die sowohl monetären als auch nicht-monetären Restriktionen Rechnung tragen. Die positive Heuristik des ökonomischen Ansatzes schreibt vor, individuelle Verhaltensänderungen auf Restriktionenänderungen – und nur auf solche Restriktionenänderungen – zuzurechnen. Dieser Programmatik entspricht eine negative Heuristik, die angibt, worauf nicht zugerechnet werden soll, wenn sich der ökonomische Ansatz mit hartnäckigen Erklärungsproblemen konfrontiert sieht.

|85|Das theoriestrategische Problem, das durch diese Methodologie gelöst werden soll, lässt sich mit Hilfe von Abbildung 5 veranschaulichen. Eingerahmt ist das ökonomische Verhaltensmodell. In ihm werden individuelle Verhaltensänderungen ∆V rekonstruiert als eine rationale Anpassung an Restriktionenänderungen ∆R bei konstanten Präferenzen (Pconst.). Eingezeichnet sind vier theoriestrategische Optionen, wie mit diesem Modell im Fall eines Erklärungsnotstands umgegangen werden kann.

Die erste mögliche Reaktion besteht darin, die ökonomische Modell-Logik zu durchbrechen, indem die Annahme rationalen Verhaltens in Frage gestellt wird. Die zweite mögliche Reaktion besteht darin, die ökonomische Modell-Logik aufzuweichen, indem die Annahme konstanter Präferenzen in Frage gestellt wird. Die dritte mögliche Reaktion besteht darin, die ökonomische Modell-Logik zu immunisieren, indem die Annahme, das ökonomische Modell sei zur Erklärung menschlichen Verhaltens universell anwendbar, in Frage gestellt wird. Die vierte mögliche Reaktion schließlich besteht darin, die ökonomische Modell-Logik intakt zu lassen und – der positiven Heuristik folgend – solche Restriktionenänderungen ausfindig zu machen, die es erlauben, die (scheinbare) Verhaltensanomalie als rationale Anpassungsreaktion an einen veränderten Möglichkeitenraum zu rekonstruieren.[112]

Abbildung 5:

Beckers Theoriestrategie

Der ökonomische Ansatz Gary Beckers beruht nicht auf der empirischen Aussage, dass Menschen rational „sind“. Er beruht nicht auf der empirischen Aussage, dass die Präferenzen der Menschen konstant „sind“. Und er beruht auch nicht auf der empirischen Aussage, dass alle menschlichen Verhaltensweisen ökonomisch erklärbar „sind“. Wohl aber beruht der ökonomische Ansatz Gary Beckers auf der Aussage, dass es theoretisch fruchtbarer ist, die der jeweiligen Verhaltensanomalie zugrundeliegende Modellierung des situativen Möglichkeitenraums zu problematisieren, anstatt die Rationalitätsannahme oder die Annahme konstanter Präferenzen oder die Annahme einer – zwar problemspezifischen, aber – (bereichs-)universalen Anwendbarkeit des ökonomischen Ansatzes auf menschliches |86|Verhalten zur Disposition zu stellen, und in der Tat liefern seine im 1. Abschnitt rekonstruierten Forschungsarbeiten den besten Beleg für den empirischen Gehalt dieser methodologischen Aussage: Das Konzept der Zeitkosten musste ja allererst erfunden und ausgearbeitet werden, ebenso wie das Konzept einer Substitution zwischen Qualität und Quantität sowie das Konzept einer Haushaltsproduktionsfunktion, das für die beiden ersten Konzepte den analytischen Rahmen liefert. Hier wurde die Ökonomik weiterentwickelt. Was hätte man demgegenüber aus einer Durchbrechung, Aufweichung oder Immunisierung der ökonomischen Modell-Logik gelernt?

Die Entscheidung zwischen den skizzierten theoriestrategischen Optionen ist also nicht dogmatisch, sondern heuristisch zu verstehen. Sie orientiert sich rein am Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit. Es geht einfach darum, wie man am besten aus Fehlern lernen kann: Welches Verfahren ist vergleichsweise eher geeignet, theoretische Lernprozesse anzuleiten?

Das methodologische Argument zugunsten des Rationalitätsprinzips ist ein Argument zugunsten theoretischen Lernens.[113] Auf einem Argument zugunsten theoretischen Lernens beruht aber auch – in strikter Analogie – die methodische Anweisung, von konstanten Präferenzen und einer universalen Anwendbarkeit des ökonomischen Ansatzes auszugehen. Insofern ist der ökonomische Imperialismus keine Anmaßung im Sinne einer inhaltlichen Übertreibung, er ist kein Zeichen von Größenwahn oder intellektueller Unbescheidenheit, sondern er ist ein integraler Bestandteil der negativen Heuristik des ökonomischen Forschungsprogramms. Er beugt dem unproduktiven Abbruch ökonomischer Erklärungsversuche vor und zwingt dazu, etwaige Verhaltensanomalien auch jenseits eines i.e.S. wirtschaftlichen „Bereichs“ ernstzunehmen.

(2) Der ökonomische Ansatz Gary Beckers reduziert die Freiheitsgrade im Umgang mit dem ökonomischen Modell, aber er erhöht die Freiheitsgrade im Modell. Dies verändert die ökonomischen Zurechnungsmodalitäten, mit gravierenden |87|Auswirkungen auf die theoretischen Lernprozesse, d.h. auf das Fortschrittsmuster ökonomischer Erklärungen.

Die traditionelle Preistheorie rechnet nur mit monetären Kosten, und die hierfür relevanten Restriktionen sind leicht beobachtbar. Marktgüter, Marktpreise, Markteinkommen sind empirische, quantifizierbare Größen, die relativ exakt gemessen werden können. Aber gerade diese Eigenschaft restringiert die traditionelle Preistheorie, denn sie kann auftretende Anomalien nur im Wege einer Korrektur von Messfehlern verarbeiten.

In exakt dieser Hinsicht sorgt der Becker-Ansatz für zusätzliche Freiheitsgrade. An die Stelle objektiv messbarer monetärer Kosten treten subjektive Opportunitätskosten, die allenfalls geschätzt werden können. Becker nimmt so lange kategoriale Umstellungen vor, bis ihm schließlich eine Modellierung gelingt, in der man mit Opportunitätskosten wie mit monetären Kosten rechnen kann. Dies zieht die Konsequenz nach sich, dass auftretende Anomalien im Wege verbesserter Kostenschätzungen verarbeitet werden. Dem ökonomischen Ansatz Gary Beckers liegt eine Kostenheuristik zugrunde, die den Theoretiker dazu anhält, diejenigen Kosten – und sogar Kostenkategorien! – zu identifizieren, die es erlauben, beobachtbare Verhaltensmuster als rationale Reaktion auf veränderte monetäre und nicht-monetäre Restriktionen zu rekonstruieren.[114]

(3) Damit wiederholt sich im ökonomischen Ansatz, was bereits für den ökonomischen Ansatz dargelegt wurde: Der methodische Status zentraler Theorie-Elemente ändert sich. Die ursprünglich empirischen Konzepte der traditionellen Preistheorie werden durch theoretische Konstrukte ersetzt.[115] An die Stelle von nutzenstiftenden Marktgütern treten nutzenstiftende Zielgüter, d.h. produktive Konsumaktivitäten; anstelle des Markteinkommens wird ein umfassenderes, „volles“ Einkommen, und anstelle der Marktpreise werden umfassendere „Schatten“-Preise in Ansatz gebracht. Auf diese Weise wird das traditionelle Konzept monetärer Kosten nicht einfach um ein Konzept nicht-monetärer Kosten (bereichs-)additiv ergänzt, sondern zu einem auf subjektiven Situationswahrnehmungen beruhenden Opportunitätskostenkonzept radikalisiert.

 

Die radikale Folge dieser Radikalisierung besteht darin, dass sogar der methodische Kernsatz: „Menschliches Verhalten orientiert sich an Kosten“ seinen methodischen Status verändert. Wären hier, wie in der traditionellen, „wirtschafts“-wissenschaftlichen Preistheorie, mit Kosten nur monetäre Kosten gemeint, so handelte es sich bei diesem Satz um eine Hypothese, deren Gültigkeit in empirischen Tests überprüft werden könnte. Seine Aussage wäre im Prinzip falsifizierbar. Im ökonomischen Ansatz sind mit Kosten jedoch Opportunitätskosten |88|gemeint. Dies verwandelt den – mathematisch formalisierten – Nutzenmaximierungskalkül in eine reine Logik: Der Satz, dass sich menschliches Verhalten an Kosten orientiert, beansprucht im Anschluss an Gary Becker nicht länger einen empirischen, sondern einen prä-empirischen Status – er enthält keine Aussage über die Realität, sondern formuliert ein Analyse-Schema, das die Generierung von Aussagen über die Realität anleitet.[116] Die Annahme kostenorientierten Verhaltens wird an die empirischen Phänomene herangetragen, ohne selbst schon empirisch gehaltvoll zu sein. Sie ist Form, nicht Inhalt.

(4) Erst vor diesem Hintergrund dürfte verständlich werden, inwiefern sich mit Beckers ökonomischem Ansatz und seinem ökonomischen Imperialismus in der Tat zunächst einmal eine intra-disziplinäre Herausforderung verbindet: Das Konzept der Haushaltsproduktionsfunktion eröffnet Freiheitsgrade für eine produktive Anomalienverarbeitung, die freilich nur dann konsequent genutzt werden können, wenn die Freiheitsgrade für einen unproduktiven Umgang mit Erklärungsnotständen verschlossen werden. Diese Schließung des Modells verändert den methodischen Status zahlreicher Theorie-Elemente. Aus ursprünglich empirischen Annahmen werden methodische Prinzipien mit teilweise apriorischem Charakter.[117] Dies gilt nicht nur für das Rationalitätsprinzip, das Prinzip konstanter Präferenzen und das Prinzip universaler Anwendbarkeit, sondern auch für das Kostenprinzip selbst und sogar noch für die Kategorien, in denen diese Kosten ausgelegt werden. Nicht nur einzelne Modell-Elemente, sondern das gesamte Verhaltensmodell wird zu einem Zurechnungs-Schema, zu einem Schema von Einkommens- und Preiseffekten. Dieses Schema wird im Rahmen einer mikrofundierten Makroanalyse wie folgt eingesetzt (Abbildung 6): Rationalverhalten unterstellt, wird für das jeweils vorliegende Erklärungsproblem eine Situationsanalyse vorgenommen, die die jeweils situationsrelevanten Ziele und Mittel spezifiziert. Modelliert wird diese Spezifikation als Maximierung einer Nutzenfunktion unter Nebenbedingungen. Aus der „First-Order-Condition“, die ein individuelles Verhaltensoptimum charakterisiert, wird auf die verhaltenskanalisierende Wirkung von gesellschaftlichen Daten-Änderungen geschlossen, die individuell als Veränderung des situativen Möglichkeitenraums wahrgenommen werden. Dieser Schluss wird dann per Aggregation hochgerechnet zu einer gesellschaftlichen Raten-Änderung.

|89|Abbildung 6:

Das Schema einer mikrofundierten Makroanalyse

Der ökonomische Ansatz ist somit nichts anderes als ein Zurechnungsverfahren. Er stellt eine analytische Verbindung her beispielsweise zwischen der Geburten-Rate und dem Lohnsatz für weibliche Erwerbsarbeit, dessen Erhöhung als gesellschaftliche Daten-Änderung verhaltenswirksam wird, oder eine Verbindung zwischen der Kriminalitäts-Rate und dem gesellschaftlichen Datum der Bestrafungswahrscheinlichkeit oder eine Verbindung zwischen der wirtschaftlichen Wachstums-Rate und den gesellschaftlichen Daten, die etwa mit dem System sozialer Sicherung verändert werden können und daher die Anreize für elterliche Investitionen in Kinder setzen (bzw. nicht setzen). Der entscheidende Punkt ist, dass innerhalb dieses Analyseverfahrens sämtliche Theorie-Elemente ihre vorgängige – lebensweltliche, phänomenologische usw. – Plausibilität verlieren. Ihre methodische Berechtigung beziehen sie denn auch nicht als empirische Aussagen, sondern als theoretische Konstrukte, die sich bei der Generierung empirischer Aussagen als zweckmäßig erweisen.[118]

Dreh- und Angelpunkt des ökonomischen Forschungsprogramms ist eine methodisch kontrollierte „pragmatische Reduktion“[119] von Komplexität: die Übersetzung von gesellschaftlichen Daten-Änderungen (Explanans) in individuelle Preis- und Einkommenseffekte, die dann auf gesellschaftliche Raten-Änderungen (Explanandum) schließen lassen. Diese Komplexitätsreduktion enthält radikale Vereinfachungen – und wird gerade dadurch voraussetzungsreich. Und genau dies sollte gezeigt werden: Der ökonomische Imperialismus ist nicht erst die Folge davon, dass der ökonomische Ansatz erfolgreich ist, sondern er ist eine Voraussetzung für diesen Erfolg. Er ist kein Ex-Post-Phänomen, sondern eine Ex-Ante-Bedingung. Der ökonomische Imperialismus erfüllt im ökonomischen Ansatz eine heuristische Funktion. Sein methodischer Sinn besteht darin, bereichsontologische Immunisierungen zu vermeiden, d.h. einen der Wege für eine unproduktive Verarbeitung von Anomalien zu versperren. Der Imperialismus der Ökonomik leistet damit – wie der Imperialismus anderer Wissenschaftsdisziplinen auch – einer größeren Systematizität Vorschub.[120]