Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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|168|Oliver E. Williamson (1932)

„Transaction cost economics maintains that the economic institutions of capitalism have the main purpose and effect of economizing on transaction costs.“ Oliver Williamson (1990, 1995; S. 189)

„[O]rganize transactions so as to economize on bounded rationality while simultaneously safeguarding them against the hazards of opportunism.“ Oliver Williamson (1993, 1996; S. 254)

Oliver Williamsons Organisationsökonomik

(1) Die moderne Gesellschaft ist eine Wettbewerbsgesellschaft. Ihr Kennzeichen ist es, dass nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik, in der Wissenschaft, im Recht, im Sport und in der Kunst sowie in ausnahmslos allen anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen auf wettbewerbliche Strukturen gesetzt wird, um die Leistung der Akteure anzuregen und sie mit Anreizen zu versorgen, ihre Leistung mittelbar in den Dienst anderer Menschen zu stellen: Die marktliche Konkurrenz der Produzenten kommt den Konsumenten zugute; der Wettstreit zwischen Regierung und Opposition fördert die Souveränität der Bürger; und der Wettkampf im Sport erfreut die Zuschauer.

Zugleich lässt sich die moderne Gesellschaft als Organisationsgesellschaft kennzeichnen. Neben die traditionellen ‚natürlichen‘ Gemeinschaften wie die Familie und die Dorf- oder Kirchengemeinde, für die eine verwandtschaftliche oder lokale Beziehung konstitutiv ist, treten zunehmend und mittlerweile dominierend Zweckverbände, in die man nicht einfach hineingeboren wird, sondern durch freien Entschluss eintreten (und auch wieder austreten) kann. In der Wirtschaft dominiert die Organisation der Unternehmung, in der Politik die Organisation des Parlaments und die Organisation der Parteien, die um Parlamentssitze konkurrieren; in der Wissenschaft dominiert die Organisation der Universität, im Sport die Organisation des Vereins.

|169|Die beiden Kennzeichnungen der modernen Gesellschaft widersprechen sich nicht; sie ergänzen einander. Die moderne Gesellschaft ist beides zugleich: Sie ist Wettbewerbs- und Organisationsgesellschaft. Hierbei markiert das „und“ nicht einfach ein additives Nebeneinander, sondern ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis: Zum einen gibt es sowohl zwischen Organisationen als auch innerhalb von Organisationen Wettbewerb. Ohne solchen Wettbewerb wären Organisationen oft gar nicht funktional und könnten folglich ihren sozialen Sinn als Zweckverband kaum erfüllen. Zum anderen bedarf es in vielen Fällen des Einsatzes von Organisationen, damit der Wettbewerb seinen sozialen Sinn als Leistungsanreiz nicht verfehlt. Man denke nur an die Organisation des Staates, die die formalen, rechtlichen Rahmenbedingungen für Wettbewerbsprozesse bereitstellt, oder an die Organisation der Unternehmung, die ihre organisationsinternen Wettbewerbsprozesse – z.B. die Abteilungskonkurrenz um Ressourcen oder die Mitarbeiterkonkurrenz um Einkommen und Karrieren – durch informale, kulturelle Rahmenbedingungen in geordneten Bahnen hält.

Angesichts dieser doppelten Bestimmung der modernen Gesellschaft als Wettbewerbs- und Organisationsgesellschaft – als Gesellschaft des organisierten Wettbewerbs und des Organisationswettbewerbs – besteht auf Seiten der Ökonomik als Wissenschaftsdisziplin ein deutlicher Nachholbedarf. Aufgrund ihrer historischen Genese ist die Ökonomik primär als Wettbewerbsökonomik, als Ökonomik wettbewerblicher Märkte, entwickelt worden, nicht jedoch als Organisationsökonomik. Dieser Zweig ist – bis heute – noch deutlich unterentwickelt, trotz großer Fortschritte in den letzten Jahren. Diese Fortschritte sind in erster Linie dem Forschungsprogramm Oliver Williamsons zu verdanken. Durch seine Pionierarbeiten eröffnet sich die Option, eine moderne Ökonomik – als Ökonomik der Moderne – zu entwickeln, d.h. eine Ökonomik, die – nicht als Wirtschaftswissenschaft, sondern – als ‚economic approach‘ gesellschaftstheoretisch ausgelegt wird und deren Kennzeichen als Wissenschaftsdisziplin darin besteht, sowohl wettbewerbliche als auch organisatorische Sozialstrukturen einer modellgestützten Anreizanalyse zu unterziehen.[271]

(2) Oliver Williamsons Organisationsökonomik ist ein Forschungsprogramm im Lakatosschen Sinn des Wortes: Es handelt sich um einen theoretischen Ansatz mit einem harten Kern und einer Heuristik. Der harte Kern besteht aus einem Ensemble zusammengehöriger Leitideen, die dem Ansatz Identität und Kontinuität verleihen. Die Heuristik liefert die Forschungsstrategie. Deren Qualität ist daran abzulesen, dass in den letzten dreißig Jahren mehrere progressive Problemverschiebungen zu verzeichnen waren. Es ist eine Konsequenz dieser Problemverschiebungen, |170|d.h. eine Konsequenz sowohl theoretischen als auch empirischen Erkenntnisfortschritts, dass Williamsons Organisationsökonomik, die zunächst als eine thematisch eng gefasste Theorie der Firma antritt, mittlerweile zu einer allgemeinen Theorie institutioneller ‚Governance‘ ausgearbeitet ist, die sich im Prinzip auf alle Organisationen anwenden lässt, also auf Familien ebenso wie auf Unternehmen oder Non-Profit-Organisationen einschließlich staatlicher Bürokratien.

Es handelt sich um einen wichtigen Spezialfall dessen, was üblicherweise – mit einer durchaus missverständlichen und folglich erläuterungsbedürftigen Formel – als ‚ökonomischer Imperialismus‘ bezeichnet wird: Hier liegt die Ausbildung einer Methode vor, die es einem Ansatz erlaubt, sich von seinem ursprünglichen Gegenstandsbereich zu emanzipieren. Jedoch wird dadurch, anders als es die Bereichsmetapher eines etwaigen ‚Imperialismus‘ nahelegt, ‚benachbarten‘ Wissenschaftsdisziplinen kein ‚Territorium‘ streitig gemacht. Ein solcher Eindruck kann nur dort aufkommen, wo die Wissenschafts-‚Landschaft‘ mit einer Schrebergartenkolonie verwechselt wird, in der jeder ein ‚Gebiet‘ zur exklusiven Bearbeitung zugewiesen bekommt, was dann die Vorstellung nahelegt, eine Überschreitung der tradierten Gebiets-‚Grenzen‘ führe notwendig zu Grenzstreitigkeiten, weil sich die Nachbarn in ihren legitimen Interessen beeinträchtigt fühlen müssen. Dass eine solche Vorstellung als grundsätzlich verfehlt zurückgewiesen werden muss, lehrt freilich nicht erst die neuere – insbesondere konstruktivistische – Wissenschaftstheorie nach Lakatos, sondern bereits die ältere Wissenschaftstheorie vor Lakatos. Bereits bei Karl Popper und sogar schon bei Max Weber kann man nachlesen, dass wissenschaftliche Disziplinen nicht thematisch, sondern systematisch konstituiert werden. In dieser Bestimmung liegt eine Pointe, die dem Bereichsdenken verborgen bleibt: Erst dann, wenn man Disziplinen nicht über ihren Gegenstandsbereich, sondern über ihre Methode definiert, wird das Bemühen um Inter-Disziplinarität zu einem sinnvollen Unterfangen, das für alle Beteiligten wechselseitig vorteilhaft zu sein verspricht. In genau diesem Sinn ist Williamsons Organisationsökonomik, gerade weil sie ein imperialistisches Forschungsprogramm geworden ist, für verschiedene Disziplinen interessant. Sie hat nicht nur institutionenökonomisch ausgerichteten Betriebs- und Volkswirten etwas zu bieten, sondern z.B. auch solchen Soziologen, Psychologen, Juristen und Politologen, die sich – unter ihrem je spezifischen Blickwinkel – mit dem Thema ‚Organisation‘ beschäftigen.

Inter-Disziplinarität heißt nicht, die eigene Disziplin aufzugeben, sondern ganz im Gegenteil: die eigene Disziplin durch wissenschaftlichen Austausch profitieren zu lassen. Fruchtbare Inter-Disziplinarität im Sinne einer disziplin(grenzen)übergreifenden Zusammenarbeit basiert auf einem wechselseitigen Verständnis für unterschiedliche Fragestellungen und Beantwortungsstrategien. Einem solchen Verständnis kann es förderlich sein, auf die jeweilige Problemorientierung zu fokussieren. Aus diesem Grund versuchen die folgenden Ausführungen, einen Überblick über den Ausgangspunkt und die Entwicklung des Williamson-Ansatzes zu geben, über seine Anwendungsbreite und die zugrunde liegende Methode: Sie zielen darauf ab, die Problemorientierung des organisationsökonomischen Forschungsprogramms transparent werden zu lassen.

|171|1. Die Ausgangslage

Konfrontiert mit einer Theorie, die die Firma primär als Produktionsfunktion – d.h. unter dem Aspekt einer preistheoretischen Fragestellung – thematisiert, hatte Ronald Coase bereits 1937 darauf aufmerksam gemacht, dass sich die organisationstheoretische Frage nach der Existenz und der Größe einer Firma nicht in Bezug auf die Produktionstechnologie beantworten lasse. Vielmehr seien es Transaktionskosten, die entscheiden, ob es individuell vorteilhaft ist, eine bestimmte Transaktion firmenintern oder über den Markt abzuwickeln. Coase formulierte also einen Wahlhandlungskalkül in bezug auf zwei organisatorische Alternativen, wobei er in der Firma eine Hierarchie mit Anweisungsbefugnis sah und im Markt eine Sphäre prinzipiell gleichrangiger Vertragspartner.[272]

Dieser Ansatz lässt sich kennzeichnen als ökonomisch, komparativ und – tautologisch. Der Coase-Ansatz ist komparativ, weil er auf den Vergleich relevanter institutioneller Alternativen abstellt. Er ist ökonomisch, weil er diesem Vergleich einen Rationalkalkül unterlegt. Und er ist tautologisch, weil er die Frage nach den Gründen für ein bestimmtes organisatorisches Design – etwa die Frage, warum manche Firmen den Verkauf ihrer Produkte über selbständige Handelsvertreter abwickeln und manche über eine eigene Verkaufsabteilung – stets mit dem Hinweis beantwortet, dass hierfür individuell rationale Kostenüberlegungen verantwortlich sind. Solange dieser Hinweis am Ende der Argumentation steht, handelt es sich um eine Schwäche. Die Tautologie wird erst dann zu einer Stärke, wenn sie am Anfang der Argumentation steht: als Einstieg in ein empirisches Forschungsprogramm, das es erlaubt, die Vor- und Nachteile institutioneller Alternativen zu identifizieren, zu vergleichen und hieraus Hypothesen abzuleiten, die überprüft werden können.

 

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Coase-Aufsatz von 1937 über Jahrzehnte hinweg wie ein erratischer Block aus der Literatur herausragte: Viele sahen hier eine intuitiv eingängliche Idee formuliert. Doch nur wenige konnten damit etwas anfangen. Die Schwierigkeit bestand darin, die Tautologie produktiv zu verorten, sie gleichsam vom Ende an den Anfang der Untersuchung zu stellen, kurz: sie nicht als vollständiges Explanans misszuverstehen, sondern als heuristisch wertvollen Bestandteil eines vollständig allererst zu entwickelnden Explanans aufzufassen – und ferner darin, sich dieser methodologischen Notwendigkeit bewusst zu werden.

Dass Oliver Williamson genau dies wie keinem anderen gelungen ist, führt er selbst auf die intellektuelle Umgebung zurück, in der er seine akademische Ausbildung genossen hat.

2. Die Carnegie-Umgebung und das Forschungsprogramm

Bei der retrospektiven Beschreibung seiner alma mater hebt Williamson drei – für ihn: wegweisende – Charakteristika hervor: eine friedliche Ko-Existenz alternativer Forschungstraditionen; eine strikte Orientierung am Problem, nicht an tradierten |172|Disziplingrenzen; und einen Forschungspragmatismus, der sich nicht an methodologischen Dogmen, sondern an den Erfordernissen des jeweiligen Forschungsproblems orientiert.[273] Durch diese Umgebung fühlt sich Williamson ermutigt, eine organisationstheoretische Integration soziologischer, ökonomischer und juristischer Einsichten anzustreben. Hierbei sieht er sich von vornherein – und bis heute unverändert – in einer vermittelnden Position zwischen extremen Auffassungen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Erstens versucht Williamson eine Überschätzung der Kategorie ökonomischer Rationalität ebenso zu vermeiden wie eine Unterschätzung dieser Kategorie. Er nimmt eine vermittelnde Position zwischen Hyperrationalität und Irrationalität ein, indem er sich das Konzept einer ‚beschränkten Rationalität‘ (bounded rationality) zu eigen macht. Zweitens zieht Williamson nicht die radikale Konsequenz, die Herbert Simon als Vorkämpfer des Konzepts einer ‚bounded rationality‘ bevorzugt, nämlich: den Nutzenmaximierungsansatz zugunsten eines Satisfizierungsansatzes aufzugeben. Auch hier bezieht Williamson wiederum eine eher vermittelnde Position, die am Maximierungsansatz prinzipiell festhält und gegenüber der orthodoxen Ökonomik auf traditionell vernachlässigte Restriktionen hinweist – insbesondere auf zeitliche, informatorische und kognitive Beschränkungen –, die es schwierig und vielfach sogar unmöglich machen, eine mehrperiodige Nutzenmaximierung in einem einzigen Wahlakt vorzunehmen. Hierdurch nimmt Williamson von vornherein eine Prozessperspektive ein. Durch sie wird der orthodox ökonomische Erklärungsansatz für das organisationstheoretische Problem institutioneller Wahl nicht einfach übernommen, sondern adaptiert: Es geht nicht, zeitpunktbezogen, um eine optimale Entscheidung, sondern, zeitraumbezogen, um eine effiziente Anpassung an unvorhergesehene Ereignisse. Es geht um die Wahl einer Interaktionsumwelt, in der man auch morgen noch auf heute unvorhergesehene Ereignisse angemessen reagieren kann. Damit wird – nicht ein Optimierungs-, sondern – ein Anpassungsproblem zum Kernproblem seines theoretischen Ansatzes.

Die Entwicklung des Forschungsprogramms kann in vier Phasen eingeteilt werden. Jeder dieser Phasen lassen sich zentrale Publikationen Oliver Williamsons zuordnen (Abb. 1). Die Startphase wird 1971 durch einen Aufsatz markiert. Das Buch von 1975 lässt sich als Aufbauphase kennzeichnen, das Buch von 1985 als Konsolidierungsphase, die Aufsatzsammlung von 1996 als Ausreifungsphase. Betrachtet man die zeitliche Aufeinanderfolge dieser Schriften, treten zwei Kennzeichen deutlich hervor. Erstens erkennt man eine über Jahrzehnte hinweg kontinuierliche Problembearbeitung, die es erlaubt, hier in der Tat von einem Forschungsprogramm zu sprechen: von einer heuristisch angeleiteten Ausarbeitung zentraler Kernideen. Zweitens fällt auf, dass sich das Anwendungsspektrum des Williamson-Ansatzes kontinuierlich erweitert hat, so dass hier in der Tat eine Reihe progressiver Problemverschiebungen stattgefunden hat, in deren Verlauf sich Williamsons Organisationsökonomik ‚imperialistisch‘ entfaltet. Ausgehend vom generischen Problem vertikaler Integration wurde zunächst eine Firmentheorie, sodann eine Theorie wirtschaftlicher Organisationen und schließlich eine allgemeine Theorie institutioneller Governance entwickelt. Dies gilt es nun zu erläutern.

|173|Abbildung 1:

Die vier Phasen des organisationsökonomischen Forschungsprogramms

3. Die Startphase

In seinem Aufsatz von 1971 stellt Williamson das generische Problem vor, aus dessen Analyse heraus er seinen organisationsökonomischen Ansatz entwickelt. Es handelt sich um das Problem vertikaler Integration: Auf dem Markt für Zwischenprodukte steht jede Firma vor einer ‚Make-or-buy‘-Entscheidung. Soll sie ein Zwischenprodukt von einer anderen Firma fremdbeziehen, oder soll sie dieses Zwischenprodukt selbst herstellen? Vertikale Integration bedeutet, sich gegen einen Kauf und statt dessen zugunsten der firmeninternen Eigenproduktion zu entscheiden.

Williamsons Analyse des Problems vertikaler Integration weist mehrere Eigenschaften auf, die auch für seine späteren Arbeiten typisch sind. Auf drei sei hier hingewiesen. Erstens greift er ein Thema mit interessanten Politikimplikationen auf. Ob z.B. wettbewerbsrechtlich gegen vertikale Integration vorgegangen werden soll, hängt ganz wesentlich davon ab, welche Erklärung diesem Phänomen zugrunde gelegt wird und welche Folgen diese Erklärung in Aussicht stellt. Zweitens handelt es sich um ein Thema, in Bezug auf das unterschiedliche Theorien konkurrierende Erklärungsansätze vorlegen. Auf der einen Seite wird vertikale Integration auf technologische Faktoren zurückgeführt. Auf der anderen Seite sieht man in vertikaler Integration den Versuch, Marktmacht zu erringen. Diesen beiden Ansätzen stellt Williamson den alternativen Erklärungsansatz gegenüber, vertikale Integration auf den Versuch zurückzuführen, Transaktionskosten einzusparen. Dieses Argument wird, drittens, im Rahmen einer komparativen Black-Box-Analyse entwickelt. Williamson stellt drei Governance-Strukturen gegenüber: einen langfristigen Vertrag, eine Sequenz kurzfristiger Verträge und die Firmenhierarchie. In diesem Rahmen muss man nicht viel über die Firma wissen, um aus etwaigen Schwächen marktlicher Verträge ceteris paribus auf einen relativen Vorteil firmeninterner Transaktionsabwicklung schließen zu können.

Die zeitgenössische Literatur über Marktversagen rezipierend, trägt Williamson mehrere Überlegungen zusammen, die letztlich dahingehend zusammengefasst werden können, dass Marktverträge stets unvollständige Verträge sind, |174|weil es entweder unmöglich ist oder aber prohibitiv teuer wäre, alle Eventualitäten vorauszusehen und ex ante so zu regeln, dass die Vereinbarung justitiabel ist, d.h. im Ernstfall vor Gericht Bestand hat. Dieser mangelnde Vertragsschutz aufgrund vertraglicher Unvollständigkeiten mache sich vor allem dort bemerkbar, wo die Interessen der Vertragspartner im Zeitablauf stark divergieren (können). In solchen Situationen erweise sich dann eine firmeninterne Abwicklung als überlegen. Abstrakt zusammengefasst: Der marktliche Vertrag und die firmeninterne Hierarchie werden als funktionale Äquivalente zur Herstellung von Anreizkompatibilität aufgefasst, die in unterschiedlichen Situationen zu unterschiedlichen Kosten führen, so dass Effizienzüberlegungen mal für die eine und mal für die andere Alternative sprechen. Je größer der Bedarf für Verhaltensanpassungen im Zeitablauf, desto größer, so Williamson, der Vorteil der Firmenhierarchie als Governance-Struktur: „Perhaps the most distinctive advantage of the firm … is the wider variety and greater sensitivity of control instruments that are available for enforcing intrafirm in comparison with interfirm activities“[274].

4. Die Aufbauphase

In seinem Buch von 1975 legt Williamson einen ausgearbeiteten Ansatz vor, mit dem das Problem vertikaler Integration systematisch analysiert werden kann. Die Kernidee besteht darin, durch Kopplung jeweils einer Akteurseigenschaft und einer Umwelteigenschaft auf ein Problem marktlicher Verträge hinzuweisen, das möglicherweise firmenintern vergleichsweise besser gelöst werden kann (Abb. 2).

Die Akteurseigenschaft beschränkter Rationalität in Kombination mit der Umwelteigenschaft einer besonders unsicheren Zukunft lässt langfristige Verträge ungeeignet erscheinen, um entsprechende Transaktionen abzuwickeln. Je stärker diese beiden Faktoren ausgeprägt sind, um so mehr klafft die Schere auseinander zwischen dem Erfordernis auf der einen Seite, bereits bei Vertragsabschluss für mögliche Überraschungen Vorsorge zu treffen, und dem Vermögen auf der anderen Seite, zukünftige Ereignisse und ihre Konsequenzen bereits heute vorauszusehen. Je mehr aber diese Schere auseinanderklafft, desto attraktiver wird die organisatorische Alternative einer firmeninternen Transaktionsabwicklung, denn innerhalb einer Firma ist es möglich, Entscheidungen sequentiell zu treffen und folglich Probleme dann zu lösen, wenn und wann sie auftreten. Man muss nicht für alle prinzipiell möglichen Probleme Vorkehrungen treffen, sondern kann sich auf die tatsächlich anfallenden Probleme konzentrieren. Williamson (1975; S. 25, H.i.O.): „[A]daptive, sequential decision processes economize greatly on bounded rationality.“ Hinzu kommt, dass eine firmeninterne Organisation Unsicherheit reduzieren kann und dann eine verlässlichere Erwartungsbildung erlaubt. Firmeninterne Kommunikation kann eigene Codes ausbilden, die den Informationsaustausch erleichtern. Des weiteren können firmeninterne Regeln dafür sorgen, dass Abteilungen innerhalb einer Firma ihr Verhalten besser aufeinander einstellen können als zwei Produktionsabteilungen, die in unterschiedlichen Firmen angesiedelt sind. Auch dies trägt zur Reduktion von Unsicherheit |175|bei und erhöht damit ceteris paribus die relative Effizienz firmeninterner Transaktionsabwicklung.

Abbildung 2:

Vier Hauptfaktoren vertraglicher Transaktionsprobleme auf Märkten

‚Opportunismus‘ bedeutet, dass Menschen sich nicht automatisch an Regeln halten und dass sie versucht sein können, einen individuellen Vorteil durch Lügen und Betrügen, durch arglistige Täuschung und falsche Versprechen anzustreben. ‚Abhängigkeit‘ bedeutet, dass man auf wenige – im Extremfall: auf einen einzigen – Transaktionspartner angewiesen ist, so dass Wettbewerb als Disziplinierungsinstrument nicht greifen kann. Die Akteurseigenschaft ‚Opportunismus‘ in Kombination mit der Umwelteigenschaft ‚Abhängigkeit‘ lässt eine Serie kurzfristiger Verträge als ungeeignet erscheinen, um eine entsprechende Transaktionsbeziehung institutionell einzurahmen: Je stärker diese beiden Faktoren ausgeprägt sind, um so größer ist die Gefahr, dass Interessenkonflikte auftreten, die die Transaktionsabwicklung teuer machen. In dieser Hinsicht weist die firmeninterne Hierarchie Vorteile auf, denn sie kann Vorkehrungen gegen opportunistisches Verhalten treffen und damit indirekt das Problem der Abhängigkeit entschärfen. Williamson weist auf drei Vorteile hin: Erstens könne firmenintern mittels Anreizen für eine größere Interessenkonvergenz gesorgt werden. Während unterschiedliche Firmen jeweils an ihrem eigenen Gewinn interessiert seien, so dass ein prinzipieller Interessenkonflikt zwischen Vertragspartnern vorliege, könne die Entlohnung innerhalb einer Firma so ausgerichtet werden, dass zwischen den Transaktionspartnern ein gemeinsames Interesse am Firmenerfolg im Vordergrund stehe. Zweitens sei die Verhaltenskontrolle innerhalb einer Firma leichter zu gewährleisten als eine Verhaltenskontrolle zwischen Firmen. Und drittens sei für den Fall eines aufbrechenden Interessenkonflikts eine firmeninterne Schlichtung mittels hierarchischer Entscheidung sehr viel leichter und weniger aufwändig als eine (gerichtliche) Schlichtung zwischen marktlichen Vertragspartnern.

 

Neben diesen vier Faktoren – beschränkte Rationalität und Unsicherheit, Opportunismus und Abhängigkeit –, die jeweils in Zweierkombination ein Problem für marktliche Verträge konstituieren, diskutiert Williamson zwei weitere Faktoren, die es vorteilhaft werden lassen, eine Transaktion firmenintern abzuwickeln. Als fünften Faktor führt er das Problem asymmetrischer Informationen an, das vor allem in Verbindung mit opportunistischem Verhalten zu hohen Transaktionskosten führen kann. Da Anreize firmenintern so konfiguriert werden können, dass zum einen opportunistische Verhaltensweisen entmutigt und zum anderen Informationsgewinnung und Informationsübermittlung gefördert |176|werden, gebe es Fälle, so Williamson, in denen vertikale Integration als Lösung für Probleme asymmetrischer Information interpretiert werden kann.

Die Transaktions-‚Atmosphäre‘ ist für Williamson der sechste Faktor, der eine Effizienzüberlegenheit der Firma gegenüber marktlichen Verträgen begründen kann. Hier kommen Emotionen ins Spiel: Während marktliche Verträge oft zwischen anonymen Transaktionspartnern abgewickelt werden und sich diese Abwicklung zumeist an rein monetären Gesichtspunkten orientiert, biete eine organisationsinterne Abwicklung vielfach die Möglichkeit, auch nicht-monetären Aspekten Rechnung zu tragen und z.B. Praktiken moralischer Reziprozität zu fördern – oder spiegelbildlich solche Praktiken zu unterbinden, die als moralisch bedenklich eingestuft werden.[275]

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Williamson Faktoren zu identifizieren versucht, von deren Zusammenspiel Transaktionsprobleme ausgehen, die institutionelle Lösungen erforderlich machen, so dass die Governance-Struktur der Firma unter bestimmten Bedingungen als vorteilhaft gegenüber marktlichen Verträgen ausgewiesen werden kann, was ihre Existenz und ihre Größe, insbesondere ihr Größenwachstum durch vertikale Integration, zu erklären vermag.

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