Buch lesen: «Die heimliche Geliebte», Seite 4

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Niemand in ihrer Familie war besonders groß gewesen, Onkel Ludwig auch nicht. Aber er war nicht so klein wie sie. Er hätte nicht unbedingt auf die Brüstung steigen müssen, um den verdammten Raben zu fangen. Warum hatte er nur so einen Blödsinn gemacht? Weil er betrunken war? Konnte ein Betrunkener wirklich so schnell klettern, dass es unmöglich war, ihn zurückzuhalten?

Noch etwas beschäftigte sie. Paul Ostermann hatte erzählt, dass Ludwig Heller verreist war. Leo wusste, dass ihr Onkel es gehasst hatte, ohne Not den Aufenthaltsort zu wechseln. Er verabscheute Züge, Koffer und Hotels. Wo war er gewesen?

***

|55|Wiedensahl, den 20 ten Mai 1853

Ich bin so in Sorge! Keine Nachricht mehr, seit Wilhelm nach Antwerpen gereist ist, um an der Königlichen Akademie der Künste zu studieren. Bald ein Jahr ist vergangen, und nun höre ich das Gerücht, er sei an Typhus erkrankt. Ich bete, es möge nur dummes Geschwätz sein. Den Waschweibern gefällt es, mich in Aufregung zu sehen.

Ach, es ist ein Fluch, ein Weib zu sein! Wäre ich ein Mannsbild, könnte ich unbehelligt durch die Welt reisen, müßte nicht zu Hause sitzen und auf Nachricht von draußen warten! Es macht mich wahnsinnig, Wilhelm in der fremden Stadt zu wissen, Krankheit hin oder her. Die niederländischen Mädchen seien drall und lebenslustig, heißt es, und fänden Gefallen daran, abends auf den Straßen zu flanieren. Ich frage mich, was er jetzt gerade treibt.

-4-

Noch vor der Morgendämmerung brach Leo auf. Als sie an der Wohnung im zweiten Stock vorbeikam, meldete sich die Bulldogge mit einem kurzen Bellen. Hoffentlich weckte das Viech nicht das ganze Haus auf.

Draußen war alles ruhig. Durch den Dunstschleier der Stadt sah der Himmel aus wie ein gigantischer Saphir, den jemand leicht angehaucht hatte. Leo zog ihren Schal enger. Es war so kalt, dass ihr Atem weiß in der Luft stand.

Das Fahrrad wartete wie ein treuer Gaul in seinem Stall unter der Feuertreppe. Leo schnürte die Gepäcktaschen fest und zog die Plastiktüte vom Sattel. Aus dem Haus erklang leise und fragend der dünne Jammerlaut eines Babys. Das Weinen steigerte sich zu einem empörten Schreien, als niemand reagierte. In einem Fenster im ersten Stock ging schließlich das Licht an und der Umriss einer jungen Frau erschien. Das Baby verstummte.

Leo schob ihr Rad durch den Torbogen zur Linde. Der Lieferwagen parkte auf der anderen Straßenseite. Sie tätschelte den |56|Lindenstamm und flüsterte dem Baum ein paar aufmunternde Worte zu.

Am östlichen Horizont verfärbte sich der Himmel allmählich rötlich. Leo fuhr in ruhigem, gleichmäßigem Tempo und dachte an nichts. Während ihr Weg sie nach Westen führte, ging in ihrem Rücken die Sonne auf. Auf der dunklen Erde lag Nebel, den die ersten Sonnenstrahlen in einen goldenen Schleier verwandelten. Leo nahm das Blinklicht ab und radelte weiter.

Der Verkehr wurde lebhafter, ungeduldige Berufspendler und Lieferwagen überholten. Leo näherte sich der Autobahn, die schon zu hören war, lange bevor sie in Sichtweite kam; ein stetiges dumpfes Rauschen in der Morgenluft. Eine Brücke schleuste die Blechkarawane über die Landstraße hinweg, Metall glitzerte in der Sonne. Leo raste unter der Brücke hindurch und strampelte auf der anderen Seite wieder hoch, froh über jeden Meter Entfernung, den sie zwischen sich und die A 2 legte.

Ihr wurde warm; sie zog die Mütze vom Kopf und schob sie in eine Jackentasche. Bei Bad Nenndorf machte sie die erste Pause und sah auf der Karte nach. Die Hälfte der Strecke hatte sie geschafft. Sie trank Pfefferminztee aus der Thermoskanne und aß einen Riegel Schokolade, Leos Geheimwaffen gegen alles. Geballte Ladungen davon hatten ihr durch die harten Zeiten bei »Gartenbau-Meyer u. Sohn« geholfen.

Ihr letzter Job in Hamburg war ein ziemlicher Albtraum gewesen. Neugestaltung des Klinikparks am Eichfeld: Drei-Mann-Unternehmen zieht Großauftrag an Land! So hatte die Schlagzeile im Hamburger Abendblatt gelautet. Sie schufteten Tag für Tag, am Wochenende und auch in der Nacht. Während normale Menschen in ihren Betten schlummerten, rodete Leo im grellen Licht von Bauscheinwerfern Bäume, grub Wurzeln aus, schleppte Säcke voll mit Torfmull und musste nebenbei noch dumme Sprüche und peinliche Annäherungsversuche vom pickligen Meyer junior kontern. So etwas stand man nur mit Pfefferminztee und Schokolade |57|durch; sehr viel Schokolade. Und dem einen oder anderen Schuss Rum im Tee.

Es verschaffte Leo eine gewisse Genugtuung, Meyer junior eines Tages mit einer Ladung Hanfpflanzen zu erwischen. Sein Vater war zwar Chef, aber nur mangelhaft über die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Cannabis sativa informiert. Im Übrigen hätte er Hanf nicht von Gurkendill unterscheiden können. Sehr gut unterscheiden konnte er dagegen zwischen guter und schlechter Publicity, und ein Auftritt der örtlichen Polizei auf seinem Gelände hätte ihm mit Sicherheit keine Freude bereitet. Unter diesen Umständen fiel es Leo nach ihrer Kündigung (denn wie sich herausstellte, hatte Meyer sie nur angeheuert, um den Klinikpark zu bewältigen) relativ leicht, Senior zum Sponsoring der Fortbildung am Bodensee und Junior zur aktiven Umzugshilfe zu überreden. Mit dem »Heinz Meyer u. Sohn, Gartenbau«-Lieferwagen und einem in die Hanfsache verwickelten Kumpel erledigte Junior die Schlepperei an einem einzigen Tag.

Das war noch nicht einmal eine Woche her.

Und was tat sie hier jetzt? Radelte an einem lausig kalten Novembermorgen stundenlang durch die Gegend, um einen ominösen Treffpunkt aufzusuchen und Onkel Ludwigs Geheimnis zu lüften.

Falls er eines hatte.

Anscheinend brannte Kommissar Sandved darauf, ihrem Onkel irgendwelche kriminellen Verwicklungen nachzuweisen. Das würde Leo nicht zulassen.

Im Süden tauchten die Ausläufer des Bückebergs auf. Bei Beckedorf quälte sich Leo über die lange Steigung und schoss auf der anderen Seite wieder hinunter, wobei sie höllisch aufpassen musste, den Autos nicht zu nahe zu kommen. Seit zweieinhalb Stunden war sie nun unterwegs und wurde langsam müde.

Stadthagen. Endlich! Ab hier begann Wilhelm-Busch-Gebiet. Leo war sicher, dass ihr Onkel alles besichtigt hatte, was zum Umfeld seines Forschungsobjektes gehörte. Nur war er bestimmt nicht mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Sie hielt sich nordwestlich |58|und entdeckte bald die ersten Wegweiser nach Wiedensahl. Die Gegend wurde wieder ländlich, kleine Dörfer wechselten mit weiten Feldern und Wiesen. Auf einigen Weiden standen noch Kühe, ihr Atem dampfte in der schwachen Novembersonne.

Vor Leo tauchte der Mittellandkanal auf. Von der Brücke aus sah sie den Wald, auf dessen anderer Seite Wiedensahl liegen sollte. Jede Müdigkeit war wie weggeblasen, als sie weiterfuhr. Nach ein paar hundert Metern nutzte sie einen Waldweg, um sich kurz in die Büsche zu schlagen. Als sie wieder aufsteigen wollte, fiel ihr Blick auf eine Vogelfeder im Farnkraut. Blauschwarz blitzte sie zwischen den verwelkten Farnwedeln hervor, in der Mitte hatte sie einen weißen Streifen. Leo hob sie auf. Ein Glücksbringer konnte nicht schaden, denn je näher sie ihrem Ziel kam, desto mulmiger wurde ihr.

Vielleicht hatte Jablonsky den Kurier für irgendeinen Verbrecher gespielt. Vielleicht hatte Onkel Ludwig wirklich mit Leuten zu tun gehabt, die sie lieber nicht kennenlernen wollte. Sie verwünschte Sandved, weil er ihr diese Gedanken in den Kopf gesetzt hatte.

Plötzlich stutzte sie. Etwas hatte sich verändert. Vor dem Wald war die Straße fast verlassen gewesen, hier und da mal ein Radfahrer, ein Auto oder ein Traktor, der zu den Feldern fuhr. Ihre Seite der Fahrbahn war immer noch leer. Aber in Gegenrichtung kam eine ganze Autoschlange auf sie zu. Es sah merkwürdig aus, wie eine Massenflucht. Wenn die alle aus Wiedensahl kamen, was war dann da los?

Der Wald lichtete sich, die Straße führte wieder ins Freie und auf einmal wusste Leo die Antwort.

Bis zum Waldrand parkten Autos, Stoßstange an Stoßstange. Vom Ortseingang Wiedensahls an war die Straße gesperrt. Noch immer wendeten Fahrzeuge und suchten Fahrer vergeblich nach Parkplätzen. Sie rumpelten über Feldwege und stießen hoffnungsvoll bis zur Absperrung vor, bis sie einsehen mussten, dass es keinen Sinn hatte. Dann machten sie kehrt, um sich auf einem anderen Weg anzupirschen. Leos Blick blieb an einer großen Plakatwand hängen:

|59|Willkommen zum Martini-Markt in Wiedensahl!

Menschenmassen schoben sich die mit Buden, Zelten und Verkaufsständen aller Art gesäumte Dorfstraße entlang. Leo stand da wie angewurzelt und hielt sich an der Lenkstange fest. Die Buchstaben auf der Notiz. Ma. Martini-Markt, ganz klar. Ein Dorffest, ein Bauernmarkt.

Und dafür hatte sie sich vier Stunden lang abgestrampelt? Das konnte doch nur ein Witz sein. Was hätte ihr Onkel auf einem ländlichen Marktfest gewollt? Leo dachte an den vermutlichen Treffpunkt, der ihm übermittelt worden war, die Backstube. Wie sollte sie in diesem Getümmel jemanden finden, von dem sie überhaupt nichts wusste, nicht einmal, wie er aussah? Wenn es diesen Jemand überhaupt gab. Es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass in dieser Backstube Punkt fünfzehn Uhr eine harmlose Veranstaltung begann, eine Festrede, eine Eröffnung von irgendwas.

Leo schloss das Rad an einen Laternenpfahl und schulterte den Rucksack. Nun war sie einmal hier, also würde sie sich auch umsehen. Elf Uhr. Noch vier Stunden Zeit bis zum Blind Date. Offenbar war sie zur beliebtesten Zeit angekommen, der Markt ging gerade so richtig los. Ein geschwätziges Summen lag in der Luft, und Leo ließ sich von der Menschenmenge mitziehen.

Wiedensahl war ein lang gestrecktes Dorf, das im Wesentlichen aus der Hauptstraße zu bestehen schien, auf der das Fest stattfand. Zu beiden Seiten der Straße lagen große Bauernhöfe. Ab und zu erhaschte Leo zwischen den Ständen hindurch einen Blick auf altes Fachwerk, blank gefegte Höfe und aufgeräumte Vorgärten. Das Dorf hatte sich herausgeputzt.

Neben dem Dorfweiher bot ein Korbflechter lautstark seine Waren an. Ein paar Meter weiter pries ein Mann seine frischen Walnüsse. Leo kaufte eine Tüte voll. Nebenan präsentierten zwei junge Frauen ihre Töpferwaren, und es duftete nach gebrannten Mandeln. Leo schaute, hörte, schnupperte und versuchte, sich Onkel |60|Ludwig inmitten des Trubels vorzustellen. Hätte er es genossen?– Ihr gefiel es.

Die Dorfstraße war so vollgestopft, dass sie nur flüchtige Blicke auf die Gebäude zu beiden Seiten werfen konnte. Ein Ort namens Backstube war nirgends in Sicht. Leo ließ sich bis zum Ende des Marktabschnitts treiben und nutzte die Gelegenheit, um unter der Absperrung hindurchzuschlüpfen. Hinter den Höfen zu beiden Seiten der Dorfstraße verlief jeweils ein schmaler Fahrweg. Leo beschloss, auf beiden Wegen einmal entlangzugehen.

Das erste, was sie zu sehen bekam, war Land. Und das zweite: noch mehr Land. Auf der einen Seite des Weges lagen die Felder, auf der anderen die Gärten; sehr groß, sehr ordentlich und schon für den Winter vorbereitet. Nichts, was sie unbedingt hätte fotografieren wollen. Hinter einer Abzäunung erregte sich eine Gänseherde über ihr Kommen. Martinsgänse; in ein paar Wochen würden sie schon in einer Tiefkühltruhe liegen und auf Weihnachten warten. Leo machte ein Foto von ihnen auf ihrer Gänsewiese und ging schnell weiter, um sie nicht noch mehr zu ärgern.

Immer noch kamen Autos, Motorräder und Traktoren über die Feldwege heran und parkten auf dem abgeernteten Land. Ein uralter hellblauer VW-Käfer mühte sich durch die Schlaglöcher und tiefen Traktorspuren. Drinnen saß ein älteres Ehepaar. Die Frau nickte Leo zu, der Fahrer blickte starr geradeaus.

Im Weitergehen bemerkte Leo eine Lücke zwischen den großen Höfen. Zwischen Kastanienbäumen stand eine kleine Kate, ein hübsches Fachwerkhaus mit einem großen Garten. Offenbar war das Gebäude erst vor kurzem saniert worden, ein beträchtlicher Teil des Gartens war den Baumaßnahmen und Erdräumarbeiten zum Opfer gefallen. Das Gras war zerwalzt, tiefe Furchen eines Kettenfahrzeugs durchzogen das Land und herausgerissene Büsche lagen auf einem traurigen Haufen.

Aber der Rest! Und das Haus!

Versonnen stand Leo da. Der alte Apfelbaum im Zentrum musste bleiben, die Kastanien, die das Haus bewachten, natürlich auch. |61|Dort drüben, bei den Kirschbäumen, gehörte ein Teich hin, ein Naturteich mit Schilfgürtel und Sumpfzone. Und dahinter, wo die Heckenrosen standen, da konnte der Gemüsegarten beginnen. Sie würde einen schmalen Weg anlegen, er würde von der Terrasse in den Garten führen und den Wohnbereich mit dem Freibereich verbinden. Natursteine müssten es sein, im Halbrund gelegt und …

Blödsinn. Wach auf, Leo. – Aber sie konnte ja wenigstens ein paar Bilder mitnehmen. Leo fotografierte die Kate und den Garten von allen Seiten, ehe sie sich endlich losreißen konnte.

Ein Querweg führte vom Fahrweg weg zurück zur Dorfstraße. Unvermittelt stieß Leo auf das nächste Kleinod, eine weitere kleine Kate mit winzigen Fenstern und tief hängendem Dach, dahinter ein Miniaturgarten mit niedrigen Buchsbaumhecken. Vor dem Haus eine hohe Birke, deren Blätter golden schimmerten. Neben der grün gestrichenen Eingangstür eine grüne Bank und an der Hauswand ein schmiedeeisernes Schild mit den Figuren von Max und Moritz, die durch den Schornstein der Witwe Brathähnchen vom Herd angelten. Leo las die Inschrift: Wilhelm-Busch-Museum. Das Geburtshaus.

Sie drückte die Klinke herunter. Das Museum war geschlossen. Enttäuscht spähte sie durch die Scheiben und legte die Hände an die Augen, um besser sehen zu können.

»Können Sie sich vorstellen, in diesen winzigen Kämmerchen zu leben?«, fragte plötzlich eine Stimme. Leo fuhr zusammen.

Neben ihr stand die Frau aus dem hellblauen Käfer. Sie war blond und pummelig, trug einen großen Korb am Arm, der schon gut gefüllt war, und schwatzte drauflos, als wären sie gute Bekannte, die sich einmal im Jahr auf dem Markt trafen.

»An diesen niedrigen Türen stößt man sich doch dauernd den Kopf! Früher müssen die Menschen wohl kleiner gewesen sein. Waren Sie schon mal da drin? Nein? Oh, Sie sind doch hoffentlich nicht extra wegen des Museums hergekommen?«, fragte sie besorgt. »Wenn Martini-Markt ist, ist es immer geschlossen. Das Heimatmuseum bei der Kirche übrigens auch.«

|62|Ihre Fröhlichkeit wirkte aufgesetzt, wie ein Programm zur Selbstberuhigung.

»Mein Mann und ich kommen jedes Jahr hierher«, schwatzte die Frau weiter. »Das darf man sich einfach nicht entgehen lassen! Und immer kaufe ich mehr, als ich eigentlich vorhatte.«

Nervös rückte sie den Korb an ihrem Arm zurecht.

»Lina! Wo steckst du wieder?«

Der Fahrer des Käfers trat aus einer hinter Büschen versteckten Toilettenanlage und wurde ungeduldig, als er seine Frau neben Leo stehen sah.

»Lass uns was essen gehen, ich habe Hunger.«

Lina verabschiedete sich hastig. Leo sah den beiden nach. Essen war eine gute Idee. Aber erst musste sie diese Backstube finden. Sie machte noch ein paar Fotos vom Wilhelm-Busch-Haus, ging dann zur Dorfstraße zurück und schlenderte auf beiden Seiten die Gassen hinter den Ständen entlang. Mit Gasthäusern war Wiedensahl jedenfalls gut versorgt. Busch-Keller, Boltes Deele, Steubers Gasthaus, Dörp Kaffee, Gaststätte Ronnenberg, überall drängten Leute hinein und quollen wieder hinaus. Nur eine Backstube war nicht dabei.

Am unteren Ende der Dorfstraße angekommen, entschied Leo sich für das Zelt eines Bio-Bauern. Drinnen war es warm, und es duftete nach Kaffee, Brot und Gebratenem. An einem der langen Tische, vor denen schlichte Holzbänke standen, saß das ungleiche Paar. Die Frau winkte:

»Hier ist noch Platz!«

Ihr Mann erhob keine Einwände, das Essen wirkte offenbar beruhigend auf die beiden. Was sie auf den Tellern hatten, sah gut aus.

»Frische Grütze mit Brot«, erklärte ihre Bekannte, als sie Leos hungrigen Blick sah. »Köstlich!«

Leo holte sich eine Portion und setzte sich zu ihnen. Sie stellten einander vor: Lina … Kurt. – Leo. – Sehr erfreut.

Was eine Lüge war, denn zumindest Kurt schien nicht unbedingt |63|entzückt über ihre Anwesenheit. Er schwieg und aß. Lina war wesentlich mitteilsamer als ihr Mann, vielleicht auch einfach nur froh über die Ablenkung. Sie weihte Leo ohne Umschweife in ihre Lebensumstände ein.

»Es ist ein Glück, sage ich immer, dass wir nicht mehr arbeiten müssen. Diesen Markttag kann man sich doch einfach nicht entgehen lassen. Früher, als wir noch zur Schule mussten – wir sind Lehrer, wissen Sie – da …«

»Wir waren Lehrer«, korrigierte Kurt, ohne aufzublicken.

»Ich habe Geografie und Geschichte unterrichtet«, fuhr Lina hastig fort, »und Kurt, mein Mann, Deutsch und Kunsterziehung. Am Wilhelm-Busch-Gymnasium. Kennen Sie Stadthagen?«

»Ich bin heute Morgen an Ihrer Stadt vorbeigeradelt, auf dem Weg von Hannover.«

Lina bekam große Augen.

»Mit dem Fahrrad? Sie sind mit dem Fahrrad gefahren? Den ganzen Weg bis hierher?« Sie konnte sich gar nicht beruhigen.

Mit einem Teller warmer Grütze im Bauch war Kurt imstande, dünn zu lächeln. Wie seine Frau war er ziemlich rundlich. Die randlose Brille rutschte ihm ständig von der Nase; mit einem energischen Zeigefinger schob er sie wieder zurück. Sein sandfarbenes Haar hatte er akkurat gescheitelt, die Fingernägel sorgfältig manikürt. Wenn er sprach, dann zwar leise, aber schneidend. Und seine Augen … Leo stellte sich vor, wie er eine renitente Klasse von pubertierenden Halbwüchsigen mit einem einzigen Blick zum Schweigen brachte.

Lina sah sich um. »Ist es nicht einfach nett hier? So dörflich. So locker und ungezwungen. Und dieses Gemeinschaftsgefühl! Wie früher! Als wäre die Zeit stehen geblieben, finden Sie nicht auch?«

Der verächtliche Blick, mit dem Kurt seine Frau bedachte, ließ Leo frösteln.

»Seit wann gibt es diesen Markt?«, erkundigte sie sich, ohne auf Linas Frage einzugehen. »Stammt der noch aus der Zeit von Wilhelm Busch?«

|64|»In der Tat«, sagte Kurt, zwang seine Brille auf die Nasenwurzel zurück und begann zu dozieren. »Er war schon zu Buschs Zeiten überregional bekannt als Heiratsmarkt. Nach getaner Arbeit hatten die Leute endlich Zeit, sich nach einem geeigneten Partner umzusehen. Hier in Wiedensahl traf sich das heiratswillige Jungvolk.«

Herrje, wie aufregend. In der nächsten halben Stunde wurde Leo lückenlos über die Geschichte Wiedensahls im Allgemeinen und Ursprung und Tradition des Martini-Marktes im Besonderen aufgeklärt. Nichts davon schien in irgendeinem Zusammenhang mit Onkel Ludwig und dem mysteriösen Treffpunkt zu stehen. Und dass ihr Onkel hier ein Rendezvous gehabt hatte, konnte sich Leo nur schwer vorstellen.

»Was ebenfalls zum Markt gehört«, schloss Kurt, »und zum Abschluss dieses Essens keinesfalls fehlen darf, ist ein ordentlicher Grüner.«

Er ging zur Theke und kam mit einem Tablett zurück, auf dem drei Schnapsgläser standen. Eine dunkelgrüne Flüssigkeit schwappte darin.

»Ein echter Bitter, Markenzeichen der Region«, erklärte er und stellte ein Glas vor Leo hin.

»Luft anhalten und austrinken.«

Leo kippte das Gebräu gehorsam hinunter.

Brrrr. Teufel auch! Was für ein Zeug. Sie musste unbedingt eine Flasche davon kaufen.

»Stammt aus Stadthagen. Hat schon der alte Busch getrunken«, behauptete Kurt, leerte sein Glas und bleckte die Zähne.

Leo sah auf die Uhr. Sie hatte nur noch eine Viertelstunde Zeit.

»Kennen Sie zufällig die Backstube? Die soll hier im Ort sein.«

Da war er wieder, der eiskalte Blick. Kurt schwieg, und Lina antwortete an seiner Stelle.

»Ich weiß nicht … ich glaube nicht.« Sie klang unsicher.

»Meine Liebe, denk doch einmal nach, bevor du redest«, sagte ihr Mann in einem Tonfall, der alle Pluspunkte, die er sich in Leos |65|Augen in den letzten dreißig Minuten verdient hatte, wieder löschte.

»Leo meint natürlich die Backstube, nicht wahr?«

Lina wirkte eher überrascht als gekränkt. Sie sagte nichts mehr.

»Der Bäcker neben der Kirche«, erläuterte Kurt. »Wenn Markt ist, wird das ganze Haus zum Café umgewandelt – der Laden, der Flur, das Wohnzimmer. Sogar in der Backstube haben sie Tische und Stühle aufgestellt, daher der Name. Wirklich urig, ein echter Geheimtipp.«

Also stand das C auf dem Zettel tatsächlich für ein Café. Leo war sehr gespannt, was sie dort erwartete.

»Bestimmt laufen wir uns noch ein Dutzend Mal über den Weg«, sagte Lina hoffnungsvoll, als Leo sich verabschiedete. Es war deutlich, dass sie mit ihrem Mann heute nicht gern allein sein wollte.

Draußen war es noch kühler geworden, die Sonne hatte sich hinter einem Wolkenschleier verborgen. Leo schlenderte die Dorfstraße in der von Kurt angegebenen Richtung hinunter. Es waren immer noch unzählige Menschen unterwegs, aber die Atmosphäre hatte sich geändert. Das lag nicht nur daran, dass der Himmel nun fahlgrau war. Leo hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Sie zwang sich, noch einige Schritte ruhig weiterzugehen und drehte sich dann rasch um. Vergeblich durchbohrte sie die Menge mit ihren Blicken. Waren vielleicht bloß Lina und Kurt hinter ihr? Aber sie konnte sie nicht entdecken.

Dann hatte sie die Backstube erreicht. Leo sah sich das Haus an: kein ehemaliger Bauernhof, sondern ein einfaches zweistöckiges Backsteinhaus. Unten befand sich das Bäckereigeschäft mit Stehcafé. Keine Galerie, kein Museum, keine Veranstaltungseröffnung. Hierher war Ludwig bestellt worden?

Entschlossen drückte sie die Tür auf und prallte erst einmal zurück.

Gleich der erste Raum war gesteckt voll. Vor dem Verkaufstresen des Ladens drängten sich die Kunden. Leo quetschte sich an der Schlange vorbei und warf einen flüchtigen Blick nach links in |66|einen altmodisch eingerichteten Raum mit Plüschsesseln und runden Tischchen, die voll besetzt waren. Das musste das Wohnzimmer der Familie sein, ganz so, wie Kurt es beschrieben hatte. Leo schaffte es mit Sturheit und Ellbogeneinsatz auf den Flur hinter dem Laden, der ebenfalls als Bewirtungsmöglichkeit genutzt wurde. Eine Seitentür stand offen und gab den Blick auf den Hof frei, über den von einer unsichtbaren Quelle aus emsig neue Kuchenbleche und Kaffeekannen herbeigeschafft wurden. Unmittelbar vor Leo schrammten zwei Frauen und ein Mann dicht an der Wand entlang, um keine Tassen und Teller umzureißen oder Tische umzustoßen. Sie folgte ihrem Beispiel und erreichte schließlich glücklich das Herz des Ganzen, die berühmte Backstube.

Leo erkannte einen gekachelten Arbeitsraum mit gewaltigen Maschinen wie einem überdimensionalen Rührgerät, einen riesigen Ofen und etwas, das aussah wie ein Kessel, in dem man locker zwanzig Kilo Wäsche hätte kochen können. Überall dazwischen standen Bänke, Stühle und Tische. Die frisch gestärkten weißen Laken darauf lenkten nur wenig von den zweifelhaften braungelben Flecken an der Decke, dem ungekachelten Teil der Wände und in den Ritzen und Fugen rings um die Fenster ab.

Von einer nachdrängenden Gruppe wurde Leo weiter in den Raum geschoben. Auch hier war jeder Tisch umlagert. Die Neuangekommenen beharrten auf ihrem Standrecht und warteten auf freie Plätze.

Leo spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Und dafür war nur zum Teil die stickige Hitze verantwortlich, die in der Backstube herrschte. Die heimlichen Augen waren wieder da. Irgendwo hinter ihr.

Leo verrenkte sich den Hals, um etwas sehen zu können. Sie war so eingekeilt, dass sie sich nicht umdrehen konnte. Eine Frau tippte ihr auf die Schulter.

»Ihr Rucksack erdrückt mich.«

Leo murmelte eine Entschuldigung, schaffte es, das Ding abzusetzen |67|und sich vor den Bauch zu pressen und ließ sich dann schnell auf einen Stuhl fallen, der neben ihr frei wurde.

Da saß sie nun, umklammerte den Rucksack, musterte die anderen, wartete auf einen Hinweis, ein Erkennungszeichen, irgendwas, und kam sich idiotisch vor.

»Kaffee und Kuchen?« Ein junges Mädchen mit weißer Schürze stand plötzlich neben ihr.

Leo bestellte Kaffee. Die Bedienung brachte eine neue Thermoskanne und eine Tasse und leerte den Tonbecher, der auf dem Tisch stand, in ihre Tasche.

»Pro Tasse fünfzig Cent, in den Becher bitte«, sagte sie und stellte ihn zurück auf den Tisch. Dann verschwand sie wieder in der Menge.

Die Leute glaubten hier tatsächlich noch an das Gute im Menschen. Offenbar funktionierte es. Leo ließ Kleingeld in den Becher fallen und spannte sich dann unwillkürlich an.

Da! – War das nicht …? Zwischen den vielen Köpfen schwebte ein Gesicht, das sie kannte.

»Katie!« Sie stand auf und winkte. »Hallo!«

Die Frau sah Katie ziemlich ähnlich, blickte auch in ihre Richtung, zeigte aber keine Reaktion – ganz im Gegensatz zu Leos näherer Umgebung, in der sich alle Köpfe umgewandt hatten. Einige lachten, die meisten musterten sie neugierig. Leo spürte, wie sie errötete, und setzte sich rasch. Die Frau war verschwunden.

Nachdenklich nippte Leo an ihrem Kaffee. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. Sie hatte die Katie von damals in Erinnerung, mit blonden Locken und modisch gekleidet. Die Frau, die sie im ersten Moment für ihre Freundin gehalten hatte, musste viel älter sein. Ihr Haar war im Nacken zu einem strengen Knoten geschlungen. Alles in allem hatte Leo sie viel zu flüchtig wahrgenommen. Vielleicht hatte sie sich von einer vagen Ähnlichkeit in der Körperhaltung narren lassen oder von der leuchtenden Haarfarbe.

Sie versuchte sich wieder darauf zu konzentrieren, weshalb sie eigentlich hier war. Ludwig und die Notiz des toten Antiquars. |68|Wen sollte Onkel Ludwig hier treffen? Oder: Wer wollte ihn treffen? Eindringlich musterte Leo die Gesichter der Leute um sie herum und trank in ihrer Nervosität eine Tasse Kaffee nach der anderen, was nicht dazu beitrug, dass sie sich besser fühlte.

Eine Stunde später gab sie auf. Was für ein Blödsinn, hier zu hocken und auf den großen Unbekannten zu warten! Sie warf noch ein paar Münzen in den Becher, nahm ihren Rucksack und kämpfte sich wieder nach draußen.

Im Laden hatte die schlimmste Drängelei nachgelassen. Eine Bedienung kam erschöpft durch einen Hintereingang; sie trug einen großen Kasten mit Rosinenbrötchen vor sich her, kollidierte beinahe mit Leo und schimpfte laut.

»Das ist das letzte Mal, dass ich hier mitmache. Was für eine Hexenküche! Den ganzen Tag auf den Beinen, nur Hetzerei, und das alles für ein paar lausige Euro.«

Die Frau musterte Leo abschätzend und kam offenbar zu dem Schluss, dass sie einen Platz suchte. »Da drinnen ist unter Garantie alles voll. Es gäbe allerdings noch ein Plätzchen draußen im Hof, in der Laube …«, sagte sie mit vertraulich gesenkter Stimme. »Gegen ein kleines Entgelt natürlich, die Chefin sieht es nicht gerne, wenn Fremde da rumlaufen.«

»Oh, ich war schon in der Backstube und wollte gerade gehen.«

Die Frau zuckte die Achseln. »Wie Sie meinen. Es gibt genug Leute, die sich um den Logenplatz reißen.«

»Wieso Logenplatz?« Leo versuchte an ihr vorbei durch die offene Hintertür zu sehen.

»Man blickt direkt durch die Fenster in die Backstube und sitzt dabei lauschig unter Efeugestrüpp. Wollen Sie nicht doch …?«

Richtig, da war eine Laube, efeuumrankt und ziemlich dicht an der Hauswand. Auf dem Tisch stand eine halb geleerte Kaffeetasse. Wenn Onkel Ludwigs Verabredung in der Laube gewartet hatte, dann war sie nun fort. Leo ersparte sich eine Antwort und drängte sich auf die Straße hinaus. Der Himmel hatte inzwischen einen kränklichen Grauton angenommen. Die Marktbesucher kümmerte |69|das nicht, sie machten die zusätzlichen Kältegrade durch Wärme von innen wett. Alle Glühweinstände waren dicht umlagert.

Leo fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Enttäuschung und Erleichterung. Sie war ganz dicht dran gewesen und hatte den mysteriösen Unbekannten knapp verpasst. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte er in der Laube gesessen. Und nun?

Nichts zu wissen, bedeutete auch, sich keine Sorgen machen oder mit möglicherweise unangenehmen Zeitgenossen auseinandersetzen zu müssen. Sie hatte es versucht, immerhin. Jetzt konnte sie nach Hause fahren, die ganze Sache vergessen und endlich mal die Umzugskartons auspacken. Sie schlenderte zurück und suchte sich bei den beiden Töpferfrauen eine schöne Tonschale mit blauem Zickzackrand aus. Am Ende der Straße entdeckte sie den berühmten Bitterschnaps. Der musste auch mit, unbedingt. Sorgfältig verstaute sie ihre Schätze in den Packtaschen und warf noch einen Blick zurück. Es dämmerte, aber das kleine Dorf feierte unter der nebligen Haube munter weiter.

Leo würde noch einmal wiederkommen und sich das Museum ansehen. Schon allein, um diesem Kommissar keinen Anlass mehr zu abfälligen Bemerkungen über ihren Wissensstand zu geben. Und tiefer in ihr, mehr Ahnung als Wissen, gab es noch einen anderen Beweggrund. Irgendetwas war an Ludwigs letztem Abend vorgefallen, etwas, das ihn veranlasst hatte, sich zu betrinken. Leo hatte die Spur aufgenommen und würde keine Ruhe geben, bis sie Antworten auf ihre Fragen bekam.

Sie warf einen Blick auf ihre Karte. Sollte sie jetzt noch einen Abstecher zu dieser Seniorenresidenz machen oder nicht? Die Straße führte auf der anderen Seite aus Wiedensahl heraus, über die Felder zur Straße, die aus Münchehagen kam. Anschließend ging es wieder ein Stück durch den Wald. Dann müsste sie nur noch einen kleinen Weiler namens Kreuzhorst passieren und wäre schon so gut wie am Ziel.

Leo wusste nicht, ob es klug war, aber sie hatte Lust, Katie wiederzusehen. Sie malte sich aus, wie sie zusammen lachen würden, |70|wenn sie ihr die verrückte Geschichte von Jablonsky und ihrem Undercovereinsatz in der Backstube erzählte. Waren die Ereignisse, die in der Vergangenheit zwischen ihnen gestanden hatten, nicht längst zu unwichtigen kleinen Schatten verblasst?

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