Abenteuer des Glaubens

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Abenteuer des Glaubens
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Hubert Ettl

Abenteuer des Glaubens

Erkundungen in unwegsamem Gelände


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg

Tel. 0941/920220 | verlag@pustet.de

ISBN 978-3-7917-3190-2

Einbandgestaltung: Martin Veicht, Regensburg

Satz: Hubert Ettl, Viechtach

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2020

eISBN 978-3-7917-6191-6 (epub)

Unser gesamtes Programm finden Sie im Webshop unter

www.verlag-pustet.de

Für Paula und Vinzent, Fanny und Alma

Inhalt

Wege in die Zukunft

Staunen und glauben

Erfahrungen, die hinüberweisen

Still werden

Die Auseinandersetzung suchen

Das Sinn-Tier als Ebenbild

Ein altes Bild Gottes

Die Frohbotschaft Jesu

Eine unheile Interpretation

Weder Scheiterhaufen noch Galgen

Aufbruch ins Heute

Das mechanische Weltbild

Am Scheideweg

Die Freiheit zum Overkill

Ein christlicher Aufruf

Hoffnung und Verantwortung

Neuer Mensch und neue Religion?

Fingerzeige

Urknall ohne Schöpfergeist?

Gott suchen und von Gott reden

Der Tod und danach

Beten – sich einlassen

Ach, die Kirchen!

Das Abenteuer des Glaubens

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Der Autor

Wege in die Zukunft

„Mögen hät’ ich schon wollen, aber dürfen hab’ ich mich nicht getraut.“ Diese „Sprachpraline“ stammt von Karl Valentin (1882–1948), dem unvergessenen Münchner Volkssänger, Schauspieler, grotesken Clown und Sprachakrobaten. Mit dem Satz hatte Valentin nicht die katholische Kirche im Blick, aber seine Diagnose der Mitmenschen und seiner selbst gilt so treffend auch für meine Kirche. Endlich herauskommen aus der Krise, notwendige Reformen wagen, umfassend gesunden – mögen und wollen, ja das schon, aber wie wenig traut man sich. Und dies schon seit vielen Jahren.

Die Krise sitzt tief. Nicht nur in der katholischen Kirche, auch in der evangelischen. Von welchem Gott reden sie denn eigentlich? Schleppen sie nicht einen Ballast mit, der die Leute heute mehr abstößt als einlädt, ihre Sinnsuche und ihr Bedürfnis nach Spiritualität in den christlichen Kirchen zu leben? In der angeblich wissenschaftlich entzauberten, extrem technisierten Welt hat ein Glaube an einen jenseitigen Geist, an etwas Göttliches, an einen Gott von Haus aus einen schweren Stand. Aber wenn die Kirche festhält an Dogmen und Lehren, die in den zurückliegenden Jahrhunderten der Auseinandersetzung mit vielfältigen Meinungen einmal festgezurrt wurden, schaut es nicht gut aus für die Zukunft.

„Die Zukunft war früher auch besser“, noch ein Bonmot Karl Valentins. Ob freilich die früheren „Zukünfte“ besser waren als die heutige, möchte ich, zumindest was Religion und Glauben betrifft, bezweifeln. Die Macht der Kirche, der Kirchen war groß. Gut für die da oben, den Glauben als Gehorsamsglauben zu verkünden, den Gläubigen mit Hölle, Fegfeuer und ewigem Verderben zu drohen, die Angst vor einem strafenden Gott zu verbreiten. Ein Glaube in Freiheit war es nicht. Den Glauben als alleinseligmachenden Besitz zu verkünden, dieser Glaube der Vergangenheit hat heute keine Zukunft.

Ich muss gestehen: Wenn ich mich als Laie in die Debatte um die Zukunft des religiösen Glaubens und einer zeitgenössischen Spiritualität einmische, habe ich nicht so sehr die Kirchen im Auge, auch wenn mir ihre Zukunftsfähigkeit am Herzen liegt. In erster Linie wenden sich meine kleinen Erkundungen an die Suchenden und Gläubigen, auch an die Pfarrer und Seelsorger und Seelsorgerinnen in den Gemeinden. Sie zielen nicht auf theologisch-akademische Debatten im Elfenbeinturm. Was meine Kirche betrifft, ihr sich Nicht-trauen, bin ich oft der Resignation nahe. Eine Zuhörerin bei einer meiner Lesungen brachte ihr Verhältnis von persönlichem Glauben und Krise der Kirchen auf den Punkt: „Ich lasse mir meinen Glauben von dieser Krise nicht kaputt machen.“ Ja, das muss man wohl lernen: diesen Spagat aushalten als Element des katholischen Christseins heute.

Karl Valentin, der bald nach dem 2. Weltkrieg verarmt starb, konnte nicht ahnen, welche Zukunft sich bahnbrechen würde, eine Zukunft, welche das Überleben der Menschheit infrage stellt. Eine Situation, wie es sie bisher in der Menschheitsgeschichte nie gab. Die Menschen haben sich viel zu viel getraut. Das haben wir uns lange nicht eingestanden, und als es warnende Stimmen gab vor vierzig Jahren, hat man sie kaum ernstgenommen. Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut: Das trifft auf viele halbherzige politische und wirtschaftliche Entscheidungen und Maßnahmen zu, um der Menschheit am Scheideweg eine menschenwürdige Zukunft zu sichern. Aber das Nicht-trauen kennzeichnet auch das Bewusstsein und Handeln jedes Einzelnen von uns.

Das Christentum hat bei dieser Entwicklung kaum eine mäßigende Rolle gespielt. Manche Historiker und Gesellschaftsforscher sind sogar der Meinung, das Christentum sei der Nährboden für diesen Hochmut, diese menschliche Hybris gewesen. Die heutige Krise der Menschheit muss das Christentum ins Mark treffen: Inwieweit macht das Ebenbild Gottes, der Mensch, in seiner Freiheit der Schöpfung den Garaus?

Du Messias, dichtet Kurt Marti, der langjährige evangelische Pfarrer und einer der bedeutendsten Lyriker der Schweiz, „sollen wir die letzten / oder die vorletzten menschen gewesen sein / auf diesem planeten? // wozu dann aber / willst du noch wieder kommen? / wozu – wenn dein reich der freiheit der liebe / keine menschen vorfinden wird?“ Willst du dann ein Messias sein „der gebirge der meere der winde nur noch? / archäologe des himmels vielleicht / auf zu später suche / nach spuren / des dann erloschenen ebenbilds gottes?“ Kurt Marti (1921–2017) war ein empfindsamer Seismograph unserer Zeit, besinnlich und kämpferisch zugleich, ein Warner. Ein Christ, der seinen Glauben, seine Spiritualität immer wieder befragte vor dem Hintergrund schreiender Ungerechtigkeiten in unserer Welt des Unfriedens, der Gewalt und vor allem auch der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. In einem an das große christliche Gebet, dem „Vater unser“, angelehnten Gedicht bittet er: „und führe uns nicht / wohin wir wie blind / uns drängen / in die do-it-your-self-apokalypse / sondern erlöse uns / von fatalität und sachzwang / damit das leben / das du geschaffen / bleibe auf diesem kleinen / bisher unbegreiflich erwählten / planeten“.1

Ob die Christen nicht nur als Einzelne, sondern in ihrer Mehrheit und vielleicht sogar als große Institutionen, also als Kirchen, dieser notwendigen Wende Antrieb und Hilfe, Denkanstoß und Licht sein können, wird sich zeigen müssen. Ich hoffe es. Aber wegen dieser Aufgabe, wegen dieser gesellschaftlichen Funktion allein werden die Wenigsten das Abenteuer des Glaubens eingehen. Für die Erhaltung der Lebensgrundlagen kann man sich auch als säkularer Humanist engagieren.

Im Kern sind es zwei andere Gründe, Erfahrungen, Motivationen, die einen bestärken, weiter oder wieder an eine geistige Kraft jenseits der materiellen Welt zu glauben. Neben den persönlichen Erfahrungen und mit ihnen verbunden ist die Gottsuche eine Sinn- und Wahrheitssuche, die einen immer wieder packt und nicht mehr loslässt.

 

Erkundungen zum Glauben sind heute Erkundungen in unwegsamem Gelände. Stolpern und Innehalten gehören zum Weg des Glaubens. Und immer wieder der Mut zu diesem Abenteuer in unserer modernen, säkularen Welt, so dass man seinen Glauben mit Humor bekennen kann: Aber dürfen haben wir uns schon getraut.

Staunen und glauben

„Einer jener Donnerstage gegen Einbruch der Dunkelheit / in der Josephskirche mit 59 Registern der Orgel, // der Alte mit dem langen weißen Bart, der Alte mit / dem böhmischen Akzent übt seine D-Moll-Fuge, / (…) an einem jener Donnerstage, die Leere im Raum, der / Resonanzkörper, Leib Josephs, Weihrauch, verstehst // du die entzündeten Kerzen unter dem Seitenaltar Marias / mit dem wachsschimmernden Gesicht, als wolle sie schmelzen, / (…) da ist es wieder, das verloren geglaubte Staunen“.1

Der Münchner Dichter Jürgen Bulla fängt jenen Augenblick seines Staunens poetisch ein, von dem er glaubt, es sei ihm verloren gegangen. Ja, haben wir Heutigen es mit dem religiösen Glauben nicht deswegen oft so schwer, weil wir uns zu wenig auf das Staunen als einen Kern des Glaubens einlassen?

Wir wollen alles mit dem Verstand erklären. Wir wollen die Welt mit genauen Begriffen erfassen. Messbar, berechenbar soll unsere Welt sein. Dieser moderne Blick und Umgang mit der Welt ist uns schon in Fleisch und Blut übergegangen. Zugreifen, eingreifen, herstellen, beherrschen – wir sind fasziniert vom technischen Zugriff auf die Welt. Fortschritt und Wohlstand hat dieser neue Blick seit den Zeiten eines Kepler, Kopernikus und Galilei der Menschheit gebracht. Zu diesem modernen Weltbezug gehört die Frage nach dem Nutzen. Was nützt es uns? Was bringt es mir? Und wenn der Nutzen nicht auszumachen ist, ist es dann wertlos?2

Dieses Zugreifen und Vermessen, dieses Begreifen und Erklären, verbunden mit der Frage nach dem Nutzen, würden wir allzu gern auch auf den Glauben anwenden. Ist da noch etwas Geistiges als Allererstes und Allerletztes neben und vor der materiellen Welt? Ein Jenseits hinter dem Diesseits der Materie? Etwas Göttliches? Ein Gott?

Aber unser moderner Zugriff muss hier scheitern. Ob Gott existiert, lässt sich wissenschaftlich nicht beweisen. Gott ist unserem besitzergreifenden, wissenden Zugriff entzogen. Er bleibt ein Geheimnis. Um an ihn glauben zu können, müssen wir aus unserem modernen Weltsicht-Käfig herausfliegen. Aber wie? Und wohin?

Das Staunen kann uns helfen. Natürlich kann auch jemand staunen, der sich nicht als religiöser Mensch versteht. Es ist eine menschliche Grundhaltung. Wir staunen über die Natur, z.B. wenn wir hoch oben auf einem Gipfel in den Alpen stehen – diese Weite, diese Erhabenheit der Berge! Wir staunen über technische Erfindungen. Wir staunen über unsere Mitmenschen, und oft auch über uns selbst.

Wir staunen, wenn wir Musik hören, Bücher lesen, wenn wir Kunstwerke betrachten. Es sind Bereiche, in denen der einfache Weltzugriff des Vermessens und Erklärens nicht funktioniert. Da ist man gezwungen, diesen Käfig des technischen Weltzugriffs zu verlassen. Es ist eine andere Weltsicht, als diejenige, die ich vorher als unsere moderne, zugreifende, zupackende kurz beschrieben habe, die immer auch gleich nach dem Nutzen fragt.

In der Kunst, ob Literatur, Malerei, Film oder Musik, sind wir zuerst passiv: Wir werden angesprochen, lassen uns mitnehmen, lassen uns hineinziehen. Wir öffnen uns und lassen etwas auf uns wirken, lassen uns berühren und ergreifen. Nicht wir ergreifen etwas, sondern wir werden ergriffen. Und in diesem sich Öffnen erfahren wir Neues und Schönes. Ein tiefes Gefühl von Schönheit, Harmonie, Frieden, von Liebe, von Sehnsucht und Hoffnung? Wir ahnen und staunen. „Da ist es wieder, das verloren geglaubte Staunen“.

Vor einiger Zeit bin ich abends mit einem Freund zusammengesessen. Er ist Musiker und ein Liebhaber klassischer Musik. Da sagt er zu mir: „Weißt Du, wenn ich spät abends noch eine Beethoven-Symphonie höre oder Klaviersonaten von Mozart, dann kann es geschehen, dass ich mich wie im Himmel fühle.“ Was ist das, sich wie im Himmel fühlen? Ganz erfüllt von der Schönheit der Musik und von den Tiefen der Musik? Hineingehoben in eine andere Welt? Glücklich?

Die beiden Politiker Peter Ramsauer von der CSU und Otto Schily, zuerst bei den GRÜNEN, dann bei der SPD haben sich vor einiger Zeit für das SZ-Magazin über ihre Liebe zur Musik unterhalten. „Sie können Musik nicht erklären“, so der ehemalige Bundesinnenminister Schily, und er fährt fort: „Genau wie man ein Bild nicht erklären kann. Musik ist auch die spirituellste aller Künste. Wenn Sie den Himmel erreichen wollen, kommen Sie ihm mit der Musik am nächsten.“3 Was wären die Gottesdienste ohne Musik? Die Musik bringt uns dem Himmel näher, sie öffnet uns selbst und auch den Himmel.

Die Natur, die Welt, die Menschen lassen uns staunen wie auch die Musik, die Künste und die Poesie. Diese menschliche Erfahrung ist eine Grundfeste unserer Spiritualität, vielleicht heute mehr als früher. Man hat einerseits in den herrlichen Kirchenräumen, bei der Kirchenmusik, in den Liturgien auf Sinnlichkeit und Schönheit gesetzt, aber waren und sind die Kirchen nicht oft der Gefahr erlegen, den Glauben als einen Besitz anzubieten, den man nur gehorsam übernehmen müsse? Zumindest war dies in meiner Kinder- und Jugendzeit so. Ist die Frage nach dem Jenseitigen, dem Heiligen, dem Letzten, also dem Göttlichen nicht allzu sehr zementiert in ein Gebäude von Glaubensinhalten, Lehrsätzen und Dogmen? Tritt da nicht das Staunen, Ahnen und Suchen weit zurück hinter das Bekennen von Glaubenssätzen?

Aber der Glaube ist kein Besitz. Der Glaube ist eher ein Weg, den wir ahnend und staunend, fragend und suchend gehen. Wo uns auch der Zweifel immer wieder packt.

Wer an einen göttlichen Geist, an Gott jenseits der Materie glaubt, der ist sich – auch wenn es ein suchender und zweifelnder Glaube ist – doch sicher, dass ihn eine jenseitige Kraft anweht, berührt. Dass wir berührt werden, manchmal auch ergriffen. Dass dieser Gott ein Gegenüber ist, mit dem wir in Beziehung stehen.

Ich selbst habe mich in den letzten zwanzig Jahren beim Zurückkommen in den christlichen Glauben oft gewundert über mich selbst, wie mich der Gottesdienst oder andere Liturgien berührt und ergriffen haben – ein Lied, ein Gebet, ein Satz im Evangelium, ein Gedanke in einer Predigt. Und ich habe mich gefragt: Wie kann das mir, einem kritischnachdenklichen Menschen, passieren? Es sind Erfahrungen, die man, wenn man nicht ganz Herz und Seele verschließt, nicht überspringen kann. Diese Erfahrungen des Staunens und Ahnens werden immer wieder zum Antrieb für neues Suchen und Nachdenken.

„Das verloren geglaubte Staunen“ ist auch da, wenn man sich wieder ins Gebet einlassen kann. „Stammeln auch wir, die die Erde gebar“, wie es in einem meiner Lieblingskirchenlieder heißt. Es ist das „Ehre, Ehre sei Gott in der Höhe!“, komponiert 1827 von Franz Schubert, getextet von Johann Philipp Neumann. So wird unser Staunen zur Quelle des Lobpreises Gottes: „Staunen nur kann ich und staunend mich freun, Vater der Welten, doch stimm ich mit ein: ‚Ehre sei Gott in der Höhe!‘“

Erfahrungen, die hinüberweisen

Man muss nicht vom Pferd fallen. Nein, wirklich nicht. Oft bin ich in den letzten Jahren bei Gesprächen gefragt worden, ob ich denn ein Saulus-Paulus-Erlebnis gehabt hätte, das mich zum christlichen Glauben bekehrt habe. Es ist dann vermutlich etwas enttäuschend für die Fragenden, wenn ich es verneine und erkläre, es sei ein langer Prozess gewesen, ein allmähliches Löchrigwerden der säkularen Weltanschauung, eines Glaubens ohne Gott. Also kein radikales, einmaliges Erlebnis, kein Schlag, der einen niederwirft und bekehrt wieder aufstehen lässt. Also keine Sensation. Schade, wird sich dann der Eine oder die Andere denken.

Saulus aus Tarsus in Kleinasien war ein frommer Jude, der seine religiöse Bildung zum Pharisäer in Jerusalem erfuhr, vielleicht schon in den Jahren, als Jesus öffentlich auftrat und dann am Kreuz hingerichtet wurde. Saulus hasste die ersten Christen, die zunächst als jüdische Sekte angesehen wurden, und er bekämpfte sie bis aufs Blut. Dies darf man wörtlich verstehen. Saulus fand die Rollkommandos gut und war dabei, wenn sie die gotteslästerlichen Jesusanhänger verprügelten und auspeitschten. Saulus soll auch dabei gewesen sein, als Stephanus, einer aus der christlichen Urgemeinde, von rechtgläubigen Juden – sie hielten sich zumindest für solche – gesteinigt wurde.

Eines Tages brach er – möglicherweise als Anführer – mit ein paar Gleichgesinnten von Jerusalem nach Damaskus auf, wo sich auch so eine Gruppe von Jesusleuten anschickte, den alten Glauben infrage zu stellen. Sie zogen los, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Da passiert es: Ein gleißend helles Licht blendet ihn, er fällt vom Pferd. Eine Stimme fragt ihn, warum er, Paulus, ihn verfolge. Geblendet, fast erschlagen ist er. Seine Freunde müssen ihn stützen. Saulus, der sich von nun an Paulus nennt, ist überzeugt, dass Jesus ihn angesprochen hat. Paulus wird zum „ersten Christen“ (Alois Prinz), der die Botschaft Jesu mit Leidenschaft im damaligen römischen Reich verkündet.

Vermutlich trifft es auch heute immer wieder Menschen urplötzlich und vehement. Man hört und liest von Erlebnissen, die dem Leben dieser Menschen schlagartig eine Wende geben, eine Wende hin zum religiösen Glauben. Aber wie gesagt, man muss nicht vom Pferd fallen. Es können viele kleinere Erlebnisse sein, die – verbunden mit Nachdenken, Lesen und Auseinandersetzung – mehr und mehr zu der Überzeugung führen, dass neben der sichtbaren, greifbaren Welt eine unsichtbare, geheimnisvolle Kraft existiert. Ein göttlicher Geist, ein Gott.

Ich erinnere mich noch gut an den Hl. Abend 1984. Ein ganz schwieriges Jahr ging zu Ende: Meine Eltern waren beide im Frühsommer schwer krank geworden. Sie lagen im Krankenhaus unseres Heimatortes Nittenau, zusammen in einem Zimmer, und man wusste nicht, wer zuerst sterben würde. Zur gleichen Zeit war meine Frau hochschwanger. Die Mutter starb zuerst. Knapp vier Wochen später wurde unsere zweite Tochter geboren. Wir waren froh, sie war gesund. Die letzten Wochen der Schwangerschaft waren nicht einfach gewesen für meine Frau – und wohl auch für die Kleine – in diesem ganzen Durcheinander der Gefühle und Anforderungen. Ich holte zusammen mit der fünfjährigen Tochter meine Frau und unser Baby aus dem Krankenhaus heim. Am nächsten Tag brachte meine Schwester den schwer krebskranken Vater, um die letzten Wochen bei uns zu verbringen. Wir hatten in unserem neuen Haus, das noch nicht ganz fertig war, eine Einliegerwohnung für meine Eltern gebaut und ich hatte nach dem Tod der Mutter dem Vater auf seine Bitte hin versprochen, ihn aus dem Krankenhaus zu holen. Er starb zwei Monate später bei uns daheim.

Als es dunkel geworden war an jenem Hl. Abend 1984, machte ich mit der älteren Tochter noch einen Spaziergang, so dass meine Frau den Christbaum schmücken konnte. Ich führte sie an der Hand. Es war ein klarer Winterabend, der Himmel voller Sterne. Plötzlich fragte sie mich: „Papa, wo sind denn jetzt Oma und Opa?“ Da brachte ich es nicht übers Herz, ihr meine materialistische Weltanschauung als Antwort zu geben. „Ich weiß es nicht. Aber vielleicht sind sie dort oben im Himmel, bei den leuchtenden Sternen.“ Und wir blickten beide hinauf. „Und sie sehen uns“, meinte sie, hoffte sie. Dann kehrten wir um und gingen nach Hause. Das Christkind konnte kommen.

Ich habe später oft über diesen unseren Spaziergang nachgedacht, vor allem auch über meine Antwort. Gewiss, meinen kämpferischen Atheismus hatte ich da schon hinter mir gelassen, aber religiös-gläubig war ich noch lange nicht. Ganz materialistisch hätte ich antworten können: Sie verfaulen in ihrem Grab, das du mir vor kurzem so schön gemalt hast. Die Würmer fressen sie auf. Da hätte sie sicherlich geweint. Oder etwas mitfühlender: Sie gehen wieder in die Natur ein und dann wächst etwas Neues daraus, schöne Blumen, Sträucher, ein großer Baum. Oder: Sie sind nicht tot, denn wir denken an sie. Denn wir haben sie noch gern. Du erinnerst dich an sie, wie sie ausgesehen haben, vielleicht auch, was sie zu dir gesagt haben. Sie sind nicht ganz tot, solange wir uns an sie erinnern. Aber ich war darüber hinausgegangen, ich hatte ihr meinen alten Glauben angeboten. Als Hoffnung und Trost.

 

Geburt und Tod sind seit Alters die Ereignisse im menschlichen Leben, die auf Jenseitiges verweisen. Dort, wo die Wissenschaftler vom Homo sapiens sprechen, also dem Menschen, der sich schon deutlich von seinen menschenaffenartigen Vorfahren unterscheidet, findet man z.B. die Aufbewahrung von Schädeln Verstorbener, also schon vor 500 000 Jahren. Bei Ausgrabungen in Israel wurde eines der ältesten Gräber überhaupt entdeckt, es soll über 150 000 Jahre alt sein. Die Angst vor und die Verehrung der verstorbenen Ahnen, die weit in die Menschheitsgeschichte zurückreichen, wären unsinnig, wenn man nicht an ein Weiterleben geglaubt hätte. Bestattungsriten und -zeremonien gehören zum ältesten Kult der Menschheit.1

Tod und Geburt sind auch heute radikale Erlebnisse. Erlebnisse, die an die Wurzel unseres Seins gehen, an unsere Existenz rühren. Diese Erfahrungen können uns erschüttern und sprengen das Alltagsdasein wie auch andere starke, außergewöhnliche Erlebnisse, z.B. Krankheiten oder das Überleben großer Gefahren. Philosophen, Theologen und Wissenschaftler sprechen von transzendenten Erfahrungen.2 Erfahrungen, die den Alltag mehr oder weniger überschreiten und auf ein Jenseitiges, Heiliges, Göttliches verweisen. Verweisen können, oder Fragen danach aufwerfen. Es können kleine und große Erfahrungen des Hinüber sein, kleine und große Transzendenzen. Tod und Geburt in familiärer Nähe gehören gewiss zu den großen Hinüber-Erfahrungen.

Welche Gefühle, wenn ein Kind zur Welt kommt! Nicht nur für die Mütter, auch die Väter, denn sie sind heute meist bei der Entbindung dabei. Die Schmerzen, die Dramatik, und dann ist es da. Dieses Glück! Bei mir war dieses Glücksgefühl beide Male mit einem Gefühl großer Dankbarkeit verbunden. Dankbarkeit gegenüber meiner Frau, der Hebamme, dem Arzt. Aber es war eine größere, umfassendere Dankbarkeit. Irgendwie unbestimmbar. Glück gehabt, alles gut gegangen. Dankbar dem Schicksal? Aber was soll das Schicksal sein? Alle großen und kleinen Ursachen, Lebensumstände, die zusammenwirken? Irgendwie fehlte etwas, dem ich dankbar sein wollte. Der große Adressat fehlte mir damals. Eines ist mir heute ganz gewiss: Diese großen Erfahrungen haben meine Zweifel am Unglauben befeuert. Von heute aus gesehen: Tod und Geburt waren und sind große Wegweiser in den Glauben. Aber auch kleine Erfahrungen wie das Staunen können aufs Hinüber verweisen. Man muss nicht gleich vom Pferd fallen.