Abenteuer des Glaubens

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Still werden

„Hörst du die Stille, / die dich ruft? / Sie wohnt / in einem fernen Licht. / (…) Der Gott, / der in der Stille wohnt, / tritt bei dir ein: / All Ein.“ Was scheint da nicht alles auf in diesen wenigen Gedichtzeilen! Sie stammen von Wolf Peter Schnetz, dessen Werke ich als Verleger viele Jahre betreuen durfte. Er hat eines der großen spirituellen Bücher des Ostens, das Tao Te King eines unbekannten Meisters (Lao Tse) aus der Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr., in einer lyrischen Sprache ins Deutsche übertragen.1

Die Stille suchen, still werden, das ist seit alters her ein Weg, um sich dem Jenseitigen zu öffnen, um das Göttliche, um Gott zu erfahren. Weg aus dem Trubel, weg aus dem Alltag. Wie ruft heute diese Stille! Millionen suchen sie, eine Massenbewegung ist dies geworden außerhalb und innerhalb der traditionellen Religionen. Meditation – mit diesem Begriff werden die verschiedensten Formen benannt: stilles Sitzen, Atemübungen und Achtsamkeitstraining, Zen und Gehmeditationen und vieles mehr. Auch Yoga und verwandte Körperübungen zielen – wenn sie nicht reines Gymnastik-, Fitness- und Körperoptimierungsprogramm bleiben – darauf, still zu werden. In der Stille in sich hineinzuhorchen, vielleicht sich zu finden.

Die Augen schließen, die Ohren, auch den Mund. Das Wort Mystik, das aus dem Griechischen kommt, bedeutet dies: schließen, sich abschließen. Und zum Schweigen gebracht werden sollen auch unsere Gedanken, das Gebabbel in unserem Hirn. Hirnschweigen ist vielleicht das Schwierigste von allem. Für mich persönlich auf jeden Fall. Die Gedanken loslassen, sie schweigen lassen, das ist schon eine höhere Stufe des Stillwerdens.

Ich weiß nicht mehr genau, warum: Meine Freundin und ich – wir lebten in Aschaffenburg – begannen 1975 oder 1976 in der Volkshochschule einen Yoga-Kurs. Das war recht exotisch damals, vor allem in der linken Lehrerszene, in der wir uns bewegten. Zum einen war es sicher Neugier. Welche Erfahrungen erwarteten uns? Neugier auf einen Bereich jenseits meiner sehr theoretischen Studien und auch jenseits unseres politischen Engagements. Gewiss auch unter einem psychotherapeutischen Aspekt fing ich die Übungen an: Wenn man allerhand Wunden mit sich trägt, kommt irgendwann der Punkt, die Erkenntnis: Du musst dich um Selbsterkenntnis und Heilung bemühen.

Diese erste Yoga-Phase dauerte nicht lange. Wir zogen in den Bayerischen Wald zurück, renovierten ein altes Bauernhaus, ich fing als Lehrer an zu arbeiten, unser erstes Kind wurde geboren. 1990 lernte ich einige Meditationsübungen und praktiziere diese – mit Unterbrechungen – bis heute. Eine ganz persönliche Übung hat sich in den letzten zehn Jahren entwickelt: Beginnend mit drei, vier leichten Yogaübungen setze ich mich nieder zum Meditieren, und meistens mündet es in ein stilles, meditatives Gebet. Ich bin kein Meister weder in Yoga noch im Meditieren, aber wenn ich zwei, drei Tage morgens nicht dazu komme, geht mir etwas ab.

Nein, ich bin kein großer Meister. Aber manchmal leuchtet etwas auf, zuweilen bedächtig langsam, ein anderes Mal urplötzlich: eine Einsicht, eine Erkenntnis, ein Angewehtsein, ein Berührtsein. „Der Gott, / der in der Stille wohnt, / tritt bei dir ein: / All Ein.“ Wolf Peter Schnetz hat es in diese poetischen Worte gefasst. Das All-Eine ist im Taoismus die unbenennbare Kraft, das Tao, der Weg, der große Sinn. Schnetz nennt dieses All-Eine Gott, aber es ist nicht ein personaler Gott. Das Tao, der Weg sei „unergründbar“, „aufgehoben ist er im Schweigen.“2

Man muss sich nicht vornehmen, der große Mystiker, die große Mystikerin zu werden. Es wäre wohl eher der falsche Weg, sich unter Druck zu setzen, etwas erzwingen zu wollen. Bescheiden und bedachtsam, geduldig und offen abwarten, das kann man von den alten Meistern sowohl des Ostens wie auch des Westens lernen, von den östlichen Religionen des Taoismus, Hinduismus und Buddhismus wie auch von den christlichen Traditionen. Die Schule der Stille und Achtsamkeit ist keine des Egotrips.

Schon im Alten Testament lesen wir, dass Menschen in die Wüste gegangen sind, um Gott zu erfahren. Auch Jesus hat sich immer wieder zurückgezogen. Zuletzt auf dem Ölberg vor seiner Gefangennahme und der Kreuzigung: allein mit sich in Zwiesprache mit seinem Gott, dem Vater. Stille und Schweigen, das stille Gebet – das Christentum hat darin eine lange Tradition, vor allem in den Klöstern. Hier lebten große Mystiker und Mystikerinnen wie Meister Eckhart und Johannes von Kreuz, Teresa von Avila und Hildegard von Bingen, Menschen, die die Geschichte des Christentums prägten, die versuchten, das Christentum immer wieder zu erneuern.

Mystiker sind keine Dogmatiker oder Fundamentalisten. Das gilt auch im Islam: Die Anhänger des Sufismus, wie eine der alten mystisch-spirituellen Bewegungen dort heißt, eignen sich nicht für den menschenverachtenden politischen Islamismus. Menschen, die auf die Stille und das Schweigen setzen, sind oft Erneuerer, die die Machtzentren der Religionen und die dogmatischen Verkrustungen herausfordern. Persönliche Erfahrungen und Einsichten waren und sind bei den Glaubenswächtern nicht sehr willkommen. Den einen oder anderen wirft man auch heute noch hinaus wie z.B. den Benediktinerpater Willigis Jäger. Als Franz von Assisi Anfang des 13. Jahrhunderts seinem verschwenderischen Leben abschwor und aus der Stille, in die er sich zurückgezogen hatte, eine christliche Armutsbewegung begründete, da jubilierten sie im Vatikan gewiss nicht und in den luxuriösen italienischen Bischofspalästen schrien sie nicht Hurra.

Ein Fehler ist – und bei Gesprächen und Diskussionen höre ich das immer wieder heraus – Mystiker als weltfremde Menschen, als weltabgewandte Frömmler zu betrachten. Vielleicht wäre es heute besser, statt von Mystik von Spiritualität zu sprechen, von Spiritualität, der es auf persönliche Erfahrung ankommt, erwachsen aus Einkehr, Stille, Schweigen und Innehalten.

Dag Hammarskjöld, der schwedische Diplomat und Politiker, war 1953 zum Generalsekretär der Vereinten Nationen gewählt worden. Unermüdlich setzte er sich für den Abbau der politischen Spannungen und für den Frieden ein – in Zeiten des Kalten Kriegs zwischen Ost und West, der blutigen Konflikte in Afrika und des Koreakriegs. Als er im September 1961 aus dem Kongo nach Sambia flog, stürzte die Maschine ab und Dag Hammarskjöld starb wie alle Begleiter und Besatzungsmitglieder. Es konnte nie geklärt werden, was die Ursachen des Absturzes waren. Posthum erhielt Dag Hammarskjöld den Friedensnobelpreis.

Die Verwunderung war groß, als man in seiner New Yorker Wohnung Tagebuchnotizen und Texte fand, die zeigten, welch intensive, in sich gekehrte Spiritualität er praktiziert hatte. „Die Erklärung, wie ein Mensch ein Leben aktiven gesellschaftlichen Dienens in vollkommener Übereinstimmung mit sich selbst als Mitglied der Gemeinschaft des Geistes leben soll, habe ich in den Schriften der großen mittelalterlichen Mystiker gefunden“. Der Politiker schreibt dies 1954 in „Zeichen am Weg“, Aufzeichnungen, die von 1925 bis zu den Tagen vor seinem Tod reichen.3 In einem anderen Eintrag spricht er von der längsten Reise als derjenigen, die nach innen führe. An Pfingsten 1961, also ein paar Monate vor seinem Tod, notiert er in „Zeichen am Weg“: „Ich weiß nicht, wer – oder was – die Frage stellte. Ich weiß nicht, wann sie gestellt wurde. Ich weiß nicht, ob ich antwortete. Aber einmal antwortete ich ja zu jemandem oder zu etwas. – Von dieser Stunde her rührt die Gewissheit, dass das Dasein sinnvoll ist“.

In der Stille kann etwas eintreten, das in einem fernen Licht wohnt, wie Wolf Peter Schnetz dichtet. Die Stille kann zu einem sprechen. Diese Art der spirituellen Suche sollte man nicht als modischen Zeitgeist abtun. Und es wird auch nicht mehr getan in den christlichen Kirchen und Einrichtungen.

Der Religiosität, die auf persönlichen Erfahrungen gründet, damit auf der Freiheit und Verantwortung des Einzelnen, dieser Spiritualität wird die Zukunft gehören, innerhalb und außerhalb der Kirchen. Vom katholischen Theologen Karl Rahner (1904–1984), einem der deutschen Berater beim II. Vatikanischen Konzil, stammt der bekannte Satz: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“4

Im Stillwerden verbindet sich das In-sich-hinein-Horchen, die Selbsterkenntnis, die Heilung von eigenen Wunden und das Erfahren des Jenseitigen, des All-Einen, des Göttlichen, des Geheimnisses Gottes. Die evangelische Theologin, Frauen-, Umwelt-, Friedensaktivistin und Dichterin Dorothee Sölle (1929–2003) fasst dies so zusammen: „Der individuelle Wunsch, selber ein Ganzes zu sein, verbindet sich mit dem Wunsch, das Ganze zu erfahren, seiner ansichtig zu werden“.5 Die Hoffnung nistet darin, im Stillwerden das eigene Zerstückelte, Verwundete zu erkennen und zu heilen und im Schweigen den unergründbaren, vollkommenen Einen zu erfahren.

Die Auseinandersetzung suchen

Genügt hätte mir das alles nicht – still werden, staunen, persönliche, spirituelle Erfahrungen machen. Für mich war da etwas, das mir mindestens genauso wichtig war und ist, nämlich die geistige Auseinandersetzung mit Gott und der Welt. Kann es sein, dass neben der materiellen Wirklichkeit eine geistige Wirklichkeit existiert, eine geistige Welt, die wir Gott nennen? Und von welchem jenseitigen Geist reden die Religionen? Von welcher Gottesvorstellung lesen wir in der Bibel? Wie reden die heutigen christlichen Theologen von Gott? Fragen über Fragen.

Das Denken, das Nachdenken, das Nachfragen geschieht für mich vor allem durch Lesen. Seit zwanzig Jahren ziehe ich meine lesenden Kreise um Welt, Mensch, Gott, Christentum, Kirche. Nicht enge Kreise, sondern weite: Plötzlich lande ich in der Physik und Psychologie, in den Neurowissenschaften oder immer wieder in der Geschichte. Bei dieser lesenden Erkundung der Welt tappt man leicht in eine Falle, wenn man nur das liest, was einem die eigene Meinung bestätigen soll.

 

Manchmal treffe ich auch Menschen, bei denen man die Angst spürt: Ja nichts lesen, was den Zweifel schüren könnte. Man hat Angst um seine Weltanschauung. Schade, wenn eine solche Angst die offene Auseinandersetzung verhindert, denn gerade dieser Lese-Dialog vertieft den Glauben, gibt ihm ein Fundament. Zumindest ist das meine Erfahrung. Mich treibt da immer wieder eine große Neugier, ein Feuer, eine Leidenschaft.

Gewiss wird dies nicht bei Jeder oder Jedem der Fall sein. Manche besuchen eher Vorträge. Bei meinen Lesungen in den letzten Jahren habe ich Menschen kennengelernt, die sich seit vielen Jahren wöchentlich zu Bibel- und Gesprächskreisen treffen. Für diese Menschen ist dies eine wichtiger Dialog auf ihrem spirituellen Weg. Die Form selbst ist nicht entscheidend, jeder hat da seine Vorlieben. Aber entscheidend scheint mir, dass ein Dialog, eine Auseinandersetzung über religiöse Fragen stattfindet.

Die Erfahrungen, die jeder macht, brauchen den Austausch. Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken können ja nicht als solche stehenbleiben. Wir interpretieren sie und fragen: Was bedeuten sie? Welchen Sinn haben sie? Glaube ich gar, es sei eine Erfahrung des Ganzen, des Einen? Natürlich besteht die Gefahr, dass man sich etwas zusammenreimt. Bescheidenheit ist hier eine gute Orientierungshilfe, und der andere große Wegweiser wäre die Vernunft. Zwei bedeutenden deutschen Theologen war es ein großes Anliegen, Glaube und Vernunft zusammenzubringen: Hans Küng und Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., haben beide gut fünfzig Jahre die christliche Theologie weltweit geprägt. Beide sind sich in diesem Anliegen der Verbindung von Glaube und Vernunft sehr verwandt, auch wenn sie oft miteinander in Streit gerieten.

Joseph Ratzinger schreibt 1968 in „Einführung in das Christentum“, einem Buch, in dem er seine Vorlesungen an der Universität Tübingen aus dem Sommer 1967 zusammenfasst und das ein Jahr später schon als Bestseller in die 10. Auflage geht: Der Glaube solle „keine Häufung unverstehbarer Paradoxien“ sein. Und die Rede vom Geheimnis Gottes dürfe nicht als Ausflucht genommen werden, den Glauben verstehen zu wollen. Theologie sei als eine „verstehende“, „rationale“, „vernünftig-verstehende“ „Rede von Gott eine Uraufgabe christlichen Glaubens“. Gut 30 Jahre später sagt er im Interviewband „Gott und die Welt“ mit dem Journalisten Peter Seewald kurz und prägnant: „Insofern ist ein christlicher Glaube ohne Verstand kein richtiger christlicher Glaube.“1

Zunächst erschien mir Ratzinger bei meiner Suche und Auseinandersetzung als der erzkonservative Kirchenmann, den ich rechts liegen ließ. Erst nach seinem Aufsehen erregenden Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Habermas im Jahr 2004 war ich neugierig geworden auf ihn und lernte nun seine offene und große Theologie kennen. Dass er als Kardinal und Papst manches sagte und tat, wollte für mich freilich nicht zu seiner sonstigen theologischen Rede passen.

Hans Küngs große Werke „Existiert Gott?“ und „Das Christentum“ hatte ich da schon gelesen und sie begleiteten mich auf meinem Weg zurück ins Christentum. Einen Leitfaden von Küngs Lebenswerk kann man wohl in der Frage zusammenfassen: Wie lässt sich mein Glaube vor der Vernunft verantworten? Dabei ist die Vernunft selbst nichts absolut Feststehendes, nichts sonnenklar Umrissenes, sie ist selbst immer wieder infrage gestellt. Ein vor der Vernunft verantwortbarer Glaube muss das, was er behauptet, immer wieder Argumenten und Erfahrungen aussetzen. Einem Dialog aussetzen, bei dem mit Worten gestritten und versucht wird, Worte und Begriffe zu klären. Der Dialog setzt sich der Kritik aus, er ist vernünftige Rede und Gegenrede. Und diesem Dialog, dieser Auseinandersetzung kann nicht, darf nicht durch dogmatisches, besserwisserisches Dazwischengehen und Entscheiden ein Ende gesetzt werden, schon gar nicht durch hierarchisch verstandene, autoritäre Machtausübung. Wahrheitssuche – und spirituelle Suche ist Wahrheitssuche – kann nicht dogmatisch von oben herab entschieden werden.

Wer religiös sucht, wen die ersten und letzten Fragen interessieren, der wird immer wieder hineinlesen, hineinsteigen in die großen Geschichten der Menschheit, die von Gott, dem Ursprung der Welt und des Menschen erzählen, von den Jenseits- und Gotteserfahrungen in den verschiedenen Epochen und Kulturen. Der Mensch, der sich gerade als Geschichtenerzähler von den Tieren unterscheidet, hat in den letzten drei Jahrtausenden einen reichen Erzählschatz hinterlassen. Die große Erzähltradition ist aber immer auch eine Interpretationsgeschichte gewesen, eine Auseinandersetzung, wie diese Geschichten zu verstehen sind.

Das Sinn-Tier als Ebenbild

„Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn.“1 Welch ein Satz! Ein Satz, der Ungeheuerliches ausspricht. Eines seiner Geschöpfe ist ihm, dem großen Gott, dem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, dem absolut Vollkommenen, dem Heiligen ähnlich. Der Mensch, dieses besondere Tier, sei ein Bild von ihm. Kann man sich eine größere Aussage über uns Menschen vorstellen? Nein, im Grunde nicht.

Menschen schreiben sie nieder vor gut zweieinhalbtausend Jahren, im ersten Buch der hebräischen Bibel, der Genesis. Die meisten Völker und Kulturen haben Mythenerzählungen über den Anfang der Welt, über den Anfang des Lebens auf der Erde, über die Anfänge der Menschheit. Selbstverständlich wissen wir heute, dass diese Erzählungen nicht wörtlich zu nehmen sind. Und selbstverständlich wissen wir, dass Gott Adam, den ersten Menschen, nicht aus Lehm oder einer Ackerkrume zusammengeknetet hat. Gottes Schöpfertätigkeit war und ist keine handwerkliche Bastelei.

Die große Erkenntnis Charles Darwins, dass die Lebewesen voneinander abstammen, schließt den Menschen in diese Reihe als Tier mit ein. Es war lange und z.T. auch heute noch eine atheistische Kampfansage: Der Mensch stammt vom Affen ab! Nun gut, von den heutigen Affenarten, den Gorillas, Orang-Utans, Schimpansen nicht, aber der Mensch und diese Menschenaffen haben gemeinsame Vorfahren. Diese wissenschaftliche Erkenntnis nimmt dem Satz vom menschlich-göttlichen Ebenbild nichts weg. Sie führt ihn nicht ad absurdum, macht ihn nicht zum Unsinn. Wunderbar erscheint es mir im Gegenteil: Da liegt in der Einheit der Natur etwas eingebettet, eine Möglichkeit der Entwicklung, die ein Tier entstehen lässt, das Gott ähnlich sein soll.

Wie kommen Menschen auf diese Idee vor gut zweitausend, vielleicht auch dreitausend Jahren, wenn man die Vorformen des Mythos, die Erzählungen, die vorausgingen, mit einbezieht? Die Menschen werden sich bewusst, dass und wie sie sich von den Tieren unterscheiden. Eine sehr, sehr lange Entwicklung haben die Menschen nach dem Tier-Mensch-Übergangsfeld schon hinter sich, vielleicht zwei, drei Millionen Jahre.

Am Ende der Altsteinzeit vor 30 000 bis 20 000 Jahren bis zum Ende der Jungsteinzeit erfinden sie nicht nur eine Reihe von Werkzeugen und Geräten wie Messer, Klinge, Pfeil und Bogen, den Einbaum. Die Höhlenmalereien und Frauenfiguren wie die „Venus vom Hohen Fels“, gefunden in der Schwäbischen Alb, oder die „Venus von Willendorf“ in Österreich künden von der Religiosität der damaligen Menschen. In der Jungsteinzeit, beginnend 9 000 v. Chr., werden unsere Vorfahren sesshaft, leben von Ackerbau und Viehzucht, sind handwerklich tätig – mauern, zimmern, töpfern, Körbe werden geflochten. Es entstehen Siedlungen mit großen Kultstätten, in denen Gottheiten verehrt werden. Am Ende der Kupfer- und Bronzezeit vor etwa fünftausend Jahren bilden sich die frühen Hochkulturen, wie wir sie kennen in Griechenland, Kleinasien, Mesopotamien, Palästina und Ägypten. Die gesellschaftliche Differenzierung ist weit fortgeschritten im Vergleich zu den Jägern und Sammlern der Anfänge. Die Sprachen blühen auf, es werden große Geschichten erzählt und nun schriftlich festgehalten. Soweit in ein paar Strichen die Entwicklung skizziert bis zu der Zeit, als man sich die Geschichte erzählt, Gott habe den Menschen als sein Ebenbild erschaffen.

Jetzt, in diesen Hochkulturen, nimmt sich der Mensch als Erfinder und Gestalter wahr, als kreativen Schöpfer, herausgetreten aus der Natur. Er sieht sich nicht mehr allein von der Natur gezwungen zu seinem Tun, sein Dasein und Handeln ist offener, freier. Er ist sich seiner Gedanken bewusst, die zum Willen werden und in Handeln münden. Er ist sich seiner Existenz bewusst, und dies alles in Gemeinschaft, in Absprache und Austausch untereinander. Dieses Denken, Wollen und Handeln, diese Kommunikation mit anderen, dieses Erzählen von Geschichten, die in gemeinsamen Kulten und Riten ihren Ausdruck finden, lässt dies alles ihn auf die Idee kommen, er sei ein Ebenbild Gottes?

Aber da ist noch etwas: Der Einzelne ist nicht nur Mitglied einer Gemeinschaft, sondern er wird sich in dieser Gemeinschaft als ein Besonderer gewahr, der einen Namen hat und mit seinem Namen gerufen wird. Er wird sich dessen bewusst, gerade im Zusammenleben mit Anderen. Wir wissen heute aus der Völkerkunde, der vergleichenden Psychologie und Soziologie, dass dieses Ich-Bewusstsein unterschiedlich stark in den verschiedenen Gesellschaften und Kulturen ausgeprägt ist. Unterschiedlich stark, aber der Einzelne erkennt sich als ein Ich, ein Ich gegenüber dem Du und dem Wir. Es ist das, was die Wissenschaften vom Menschen als Identität bezeichnen. Der Mensch wird sich seiner selbst bewusst, seines Person-Seins.

So wird die Welt des besonderen Tieres Mensch eine ganz eigene Welt, eine Welt, die sich von denen der anderen Tiere fundamental unterscheidet. Die Welt des Menschen ist eine Sinn-Welt. Schöpferisch schafft er seine Welt durch Arbeit, ausgehend von seinem Denken. Er gestaltet seine Umwelt. Aber nicht nur zielgerichtet durch Arbeit und Technik, sondern auch spielerisch und künstlerisch – Musik, Tanz, Kult, Theater, große Erzählungen, Bauwerke, Statuen und Malereien –, nicht einfach nur Nützliches, nein, Schönes will er schaffen. Absicht und Bedeutung, die weit über den konkreten Gegenstand hinausgehen, legt dieses Sinn-Tier in sein Schaffen. Sein ganzes Weltbild fließt ein: wie es sich die Natur vorstellt und was es hinter der sichtbaren Welt vermutet – Naturgottheiten, Götter oder den großen, einzigen Gott. Wie der Mensch sich sieht in diesem Kosmos der sichtbaren und unsichtbaren Welt, mit seiner Gemeinschaft in diesem Ganzen, wie immer er sich das vorzustellen vermag in seiner Zeit und Kultur.

Das Weltbild dieses Homo Sapiens, der von Affenartigen abstammt, ist aber zu allen Zeiten nicht nur eine Zustandsbeschreibung. Auch in der heutigen verwissenschaftlichten Welt nicht. Verwoben ist der Blick auf die Welt und die Mitmenschen immer mit einem Geflecht von Regeln, Geboten, von Werten und Normen, an die sich der Einzelne in der Gemeinschaft halten soll. Halten will. Es entsteht etwas in ihm, das wir Gewissen nennen, das ihm sagt, was gut und böse ist.

Welchen Raum hat der Einzelne in dieser gemeinsamen Lebenswelt? Welche Freiheit, welche Achtung? Welche Chancen stehen ihm offen? Zum Leben gehört auch das Hoffen. Wollen und hoffen, dass das Leben besser wird. Hoffen, dass Krankheit, Unglück, Leid überwunden und geheilt werden. Zur Sinnwelt dieses besonderen Tieres gehört die Sehnsucht, das Träumen. Verbunden mit der Sehnsucht, dem Träumen und Hoffen ist das Suchen nach dem Sinn dieser Welt und seines Lebens, eine Suche nach dem, was hinter der sichtbaren Welt sein könnte, was kommen könnte nach dem Leben hier. Der Homo sapiens war immer ein Sinn-Sucher. Und damit auch ein Gott-Sucher, ein Sucher nach dem, dessen Ebenbild er nach unserer großen Geschichte der Genesis sein soll.

Das Großartige dieser Idee, dieses Satzes, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf, vervollständigt sich, wenn einem klar wird, dass Gott diese Ebenbildlichkeit seit den ersten Anfängen dem Menschen ganz allgemein zuspricht. Nicht nur den Königen und Reichen, nicht nur den Priestern und Frommen. Nein, jedem. Es hat gut zweitausend Jahre gedauert, bis dieser religiöse Glaube zum Kernstück der politischen Verfassungen unserer Neuzeit wurde. Zweifellos ist die jüdische und christliche Rede vom Ebenbild eine der Grundlagen für die Rede von den Menschenrechten, deren Kern die Würde jedes Menschen ist. Jürgen Habermas, einer der großen Philosophen unserer Zeit, einer der Köpfe der gesellschaftskritischen Frankfurter Schule, ein säkularer Denker, der von sich sagt, dass er nicht religiös sei, er spricht bei der „Übersetzung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen“ von einer „rettende(n) Übersetzung“ aus dem jüdischen und christlichen Glauben.

 

Viele unserer Zeitgenossen, die noch immer auf das Absterben der Religionen in den modernen Gesellschaften warten und dies lieber heute als morgen sähen, möchten diese Wurzeln gern ausblenden, die Wurzeln der Menschenrechte abschneiden. Geschichtsvergessen ist dies. Sie treibt nicht die Sorge um wie den Philosophen und Wissenschaftler Habermas: Was wird sein, wenn dieses Erbe nicht mehr verstanden wird? Wenn die Bilder und Geschichten nicht mehr helfen, den Werten unserer Gesellschaft ein Fundament zu geben?

Der wunderbaren Geschichte vom Ebenbild wird heute oft eine resignative Frage entgegen gehalten: Was muss das denn für ein Gott sein, wenn wir Menschen sein Ebenbild sind? Wir Menschen, die dem anderen nachstellen, ihn unterdrücken, ihn ausbeuten, ihn töten? Wir, die aus Gier und Hybris schreiende Ungerechtigkeiten schaffen, ermöglichen und zulassen? Wir, die unsere natürlichen Lebensgrundlagen mehr und mehr vernichten und unsere Mitgeschöpfe ausrotten? Es ist ein verzweifelter, oft zynischer Rückschluss auf den, dessen Ebenbild wir sein sollen. Nein, wenn der Mensch das Böse und Unzureichende tut, wenn er Wunden schlägt, wirft das kein schlechtes Licht auf Gott. Er hat sein Ebenbild als ein freies Wesen geschaffen, das neben Gutem auch Schlechtes tun kann. Der Mensch kann nur in Freiheit schöpferisch und kreativ tätig sein. Nur in Freiheit kann er lieben, den Sinn des Lebens und der Welt, sich selbst und Gott suchen. Das Böse ist das Risiko der Freiheit, das Risiko des freien Ebenbildes. Ein Risiko, das Gott mit seinem freien Sinn-Tier eingegangen ist und eingeht.

Aber warum ist dieses besondere Tier Mensch zu dies allem fähig? Welche biologische Ausstattung, in der Evolution entstanden, ließ unsere Vorfahren vor knapp dreitausend Jahren vom Ebenbild Gottes reden? Heute sind die Erbanlagen, die Gene in den für ein Lebewesen typischen Chromosomen, den Zellkernschleifen, bei Pflanzen, Tieren und dem Menschen z.T. gut erforscht. Das menschliche Genom ist weitgehend entschlüsselt. Der Mensch hat mit den heute lebenden Orang-Utans gut 96 Prozent des Genmaterials gemeinsam, mit den Schimpansen sogar 99,4 Prozent. Aber warum hat die menschliche Geschichte einen so anderen Verlauf genommen als die der Schimpansen? Die genetischen Vergleiche bringen in der Frage wenig.

Wenn man das Gehirn des Menschen mit dem der Tiere vergleicht, kommt man dem biologischen Unterschied schon näher: Menschen haben ein rund dreifach größeres Hirnvolumen als die nahe verwandten Menschenaffen. Zudem ist das Gehirn des Menschen durch angeborene Reiz-Reaktionsschemata weit weniger instinktbestimmt. Das macht den Menschen offener, sein Gehirn, sein Verhalten ist mehr formbar. Was ihm an angeborener Festgelegtheit abgeht, muss in einem langen Lernprozess ausgeglichen werden. Der „Nesthocker“, so der Zoologe Adolf Portmann, hat ein sehr langes Lernen vor sich, das ihn erst zu einer Person werden lässt. Er wächst hinein in die von Menschen gestaltete Welt, in seine Lebenswelt, in eine Sinnwelt, die sich ihm nach und nach erschließt.

Ein zweites wichtiges biologisches Merkmal des Homo sapiens sei hier angesprochen, das beiträgt, ihn zu dem besonderen Tier zu machen. In einer langen evolutionären Entwicklungsgeschichte setzen sich diese Affen- und zugleich Menschenartigen durch, die aufrecht gehen können. Die besondere Beschaffenheit der Wirbelsäule und der Beine ermöglicht den aufrechten Gang. Der Daumen wird zudem länger und kräftiger, so dass die Vordergliedmaßen und Hände zu einem starken und zugleich sehr feingliedrigen Werkzeug werden. Die Hände werden zum ausgezeichneten Arbeitswerkzeug und durch dieses Begreifen der Dinge und ihre Wahrnehmung durch Tastsinn und Auge zum außerordentlichen Wahrnehmungsorgan. Das deutsche Wort „begreifen“ drückt dies bestens aus: Vom Greifen und Begreifen mit der Hand ausgehend wird es ein im Denken und in der Sprache Begriffenes. Der aufrechte Gang und die Beschaffenheit der Hände ermöglichen eine ungeahnte schöpferische Tätigkeit. Die Evolution hat ein Tier hervorgebracht, das sich als Ebenbild Gottes versteht.

Für mich stellt – jenseits aller Worte – ein Bild, das vor fünfhundert Jahren geschaffen wurde, die Idee von der Ebenbildlichkeit des Menschen am schönsten dar. Michelangelo, der große italienische Renaissancekünstler, hat es an die Decke der Sixtinischen Kapelle im Vatikan in den Jahren 1508–1512 gemalt, als Teil des gewaltigen Deckenfreskos: Gott erschafft Adam, er beseelt ihn. Adam liegt nackt auf der Erde, den Oberkörper etwas aufgerichtet, er stützt sich auf den rechten Arm, den linken streckt er nach Gott aus. Und er, der Alte mit langem grauen Haar und Bart, umgeben von einer Engelschar, schwebt fast spiegelbildlich zur Haltung Adams. Gott streckt seinen rechten Arm nach Adam aus, fast berühren sich die Zeigefinger. Dazu der Blickwechsel: Sie schauen sich in die Augen. Adam blickt Gott erwartungsvoll, ja sehnsüchtig an, insgesamt passiv in Körperhaltung und Blick. Er erwartet etwas. Der große Gott wirkt entschieden, kraftvoll; er ist der aktive, aber in seinem Blick und seiner Geste liegt fürsorgliche Liebe. Adam, du sollst teilhaben an meinem Wesen, an meiner Göttlichkeit. Mein Geist, mein Odem soll dich beseelen. Ein wunderbares, ein geniales Bild. „Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich!“

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