Der Glaselefant

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Der Glaselefant
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Der Glaselefant
Horst Rellecke
epubli GmbH Holtzbrinck Verlagsgruppe (2012)

Pop und Postmoderne auf dem Weg zu einer spielerischen Architektur. Überarbeitete und aktualisierte Fassung der Erstausgabe von 1986.

Horst Rellecke
DER GLASELEFANT

Horst Rellecke

Der Glaselefant

Überarbeitete 2. Ausgabe

(1. Ausgabe Bauverlag Wiesbaden 1986)

ISBN 978-3-8442-4254-6

Epubli Verlag Gmbh / Holtzbrinck Verlagsgruppe

©Horst Rellecke 2012

Vorwort zur überarbeiteten Ausgabe

Man könnte es ein aberwitziges Unterfangen nennen, nach 30 Jahren eine abgeschlossene Arbeit aus dem Regal der eigenen Meilensteine zu nehmen und diesem einen zunächst jedem realen Nutzen widersprechenden, aber ehrgeizigen Gedanken so viel Arbeitszeit zu widmen, nur um die damaligen Beobachtungen und Folgerungen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Haben sich die Erwartungen erfüllt? Hat die Architektur zu ihrer Ernsthaftigkeit auch Freiheit gewonnen? Wie vielleicht zu hoffen war, sind einige Wunschvorstellungen tatsächlich Realität geworden. Die große Architektur war noch nie so gut wie heute! Andererseits waren andere damalige Vorstellungen in ihrer naiven Romantik überzogen oder die Zeit hat sie einfach als verspielte Luftnummern beiseite gefegt. An manchen Stellen wird etwas Wehmut aufkommen, weil einige meiner schönsten Beispiele im ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen bereits aufgegangen sind. Dann habe ich aber wenigstens von ihrer Existenz berichtet.

Mehr noch als zuvor ist die Zeit der Ismen vorbei. Ein Streit über Moderne oder Postmoderne, Dekonstruktivismus oder sonstige Modeerscheinungen ist so überflüssig wie ein Loch im Kopf. Da ist die Architektur auch endlich da angekommen, wo die Bildende Kunst vielleicht schon etwas länger wohnt. Die Gegenwart beschert so viel gestalterische Freiheit wie es sie in der Baugeschichte noch niemals gab. Die Architektur ist zudem wirklich global geworden. Wenn man vor 30 Jahren auf die Weltarchitektur schaute, ging der Blick ja doch meistens nach Nordamerika, Europa und vielleicht auch mal auf die eine oder andere singuläre Erscheinung in anderen Regionen dieser Welt. Der Schwerpunkt hat sich aber mittlerweile verschoben. Die alte Tante New York hat eine Menge Konkurrenz bekommen: Hong Kong, Shanghai, Dubai oder Singapur sind die Tummelplätze der Global Players. Die kühnste Idee ist realisierbar und das mitunter da, wo vor dreißig Jahren noch architektonisches Niemandsland war.

Dafür hat die Baukunst aber auch ein paar neue Erfordernisse zu bedienen. Sie muss ökologisch sein und vor allem energieeffizient. Das hätte man vor 30 Jahren aber auch schon wissen müssen. Hingegen konnte man ein solches Attentat wie die Vernichtung der Zwillingstürme des World Trade Centers in New York nicht voraussehen. Deshalb hat die Planung nun auch noch die daraus abzuleitenden Sicherheitsanforderungen zu erfüllen.

Aber vor allen anderen Neuigkeiten hat nichts so sehr die Architektur revolutioniert wie der Computer. Nicht eines der Beispiele meiner ersten Ausgabe ist mit dem Rechner entworfen, weil es solche Werkzeuge überhaupt noch nicht gab. CAD (Computer Aided Design) ist die Zauberformel, mit der man jede Form in den Griff und in ein rechenbares Modell bekommt. Ich behaupte, dass man es einem Gebäude ansieht, ob der Rechner der wichtigste Partner bei der Gestaltung war. Eigentlich ist das heute eine Binsenweisheit, denn selbstverständlich nutzt auch das kleine Büro mit der Spezialität für Garagenanbauten den Computer. Der Anbau wird durch dessen Einsatz aber nicht besser. Gemeint ist hier viel mehr, die darstellbare Freiheit und Überprüfung der Machbarkeit extrem individueller Formgebung. Da kann man schon mal ins Schwärmen geraten angesichts der Eleganz des Santiago Calatrava, der Raffinesse der Zaha Hadid oder der beherrschten Komplexität des Norman Foster.

Das Hauptaugenmerk der ersten Ausgabe galt jedoch weniger der großen Architektur, sondern vielmehr den gebauten Witzen am Straßenrand und den abenteuerlichen Grenzüberschreitungen der Architektur. Manche von ihnen haben die drei Dekaden nicht überstanden, andere kamen zu neuer Blüte. Da, wo es sinnvoll ist, sind ihre schönsten Beispiele in der Dokumentation geblieben. Wo ein neuer Zeitbezug notwendig war, wurde die Brücke geschlagen oder auch mal korrigiert, neue Beispiele wurden ergänzt, wenn die Entwicklung interessante Fortschritte zeitigte. Vielleicht hätte ich auch alles neu machen können, aber dann wäre mir mein Leitgedanke abhanden gekommen und es wäre ein völlig anderes Buch geworden.

Horst Rellecke, Möhnesee 2012

Geleitwort zur Ausgabe von 1986

Der beeindruckendste Aspekt dieser Arbeit über phantastische und mit populärer Phantasie erfüllte (populistischer oder Pop-) Architektur ist der hohe Grad ihrer Ernsthaftigkeit — und gerade jetzt scheint es an der Zeit zu sein für eine ernsthafte Arbeit über die Bedeutung populären Ausdrucks und der darauf basierenden Kunst. Diese Ernsthaftigkeit ist nicht zu verwechseln mit derjenigen der würdevollen Versuche spätmarxistischer Kritiker, welche alle Überreste populärer Begeisterung verbannen wollen aus einer Art gereinigten, "rationalen" Kunst und Architektur für das Volk, aber natürlich nicht durch das Volk.

Die Architekturbeispiele in dieser Arbeit scheinen mir einer solchen Kunst diametral entgegenzustehen. Sie zeigen den Aufwand enthusiastischer Energie, der zum „Überleben" einer Leistung notwendig ist — was die rein „rationale" Leistung nicht vermag. Was die Beispiele Horst Relleckes anscheinend gemein haben, ist das Vergnügen, das der jeweilige Autor in ihrer Realisation fand. Natürlich ist es einfacher und effektiver, Energie in eine Aufgabe zu investieren, wenn der Investor daran Spaß hat, schwerer, wenn er damit gelangweilt ist. Vergnügen schließt jedoch nicht Ernsthaftigkeit aus, wie uns Mozart hätte sagen können. Wohl setzt es uns der Möglichkeit des Kitsches aus, was denselben Rationalisten einen richtigen Schrecken versetzt. Es ist schwer für mich, einzusehen, warum: Wenn man Kitsch ansieht als populäre „Kunst", in der der Aufwand menschlicher Energie nicht ausreicht, um das Ergebnis lebendig werden zu lassen, so dass dabei schließlich eine Gattung des Schwindels herauskommt, dann gibt es sicherlich ein paralleles Phänomen unter den reinen unpop(ulären) Bauten, den endlosen Wiederholungen dieser leblosen, energielosen, uninteressanten Gebäude. Mit anderen Worten: Kitschgebäude genauso wie die öden Bauten aus mehr „rationalistischer" Überzeugung sind, wie in der Tat die meisten Gebäude auf unserem Planeten, Versager. Sie sind Versager, nicht weil sie versuchen, menschliche Gefühle zu berühren, sondern weil sie es daran fehlen lassen.

Fast alle Exempel Horst Relleckes hingegen (obwohl natürlich jeder von uns die Linie zwischen Versagen und Erfolg leicht verschieben würde) erfreuen uns durch ihren Erfolg. Das Vergnügen wird sogar noch gesteigert, gerade weil diese Beispiele auf eine gefährliche Weise erfolgreich sind, indem sie manchmal am Abgrund trüber Sentimentalität tanzen, manchmal des Chaos, der kurzlebigen Kunst des Augenblicks und des Spaßes aus den Klauen des Kitschs. Dies ist reife und ernsthafte Materie.

Charles Moore, Sea Ranch 1981

1. Eine Anekdote

Vor 30 Jahren war meine Frage: Kann die Pop-Art positiven Einfluss auf die Architektur der Gegenwart au¬üben? Obwohl die bekanntesten Objekte bis dato wohl eher in den Vereinigten Staaten anzutreffen waren, fanden sich auch in der Bundesrepublik Deutschland und im europäischen Ausland vielfältige Beispiele der Pop-und postmodernen Architektur. Auf den folgenden Seiten möchte ich anhand eines 1984 in Hamm in Westfalen verwirklichten Glaselefanten, der als Museum und Ausstellungsgebäude genutzt wird, auf eine Architektur aufmerksam machen, die unserer gebauten Umwelt erneuernde Anregungen vermitteln kann, einfach weil sie der Phantasie und den Gefühlen von Erbauern und Nutzern einen größeren Spielraum lässt.

Es würde mir schwerfallen, diese nüchternen, programmatischen Sätze an den Anfang dieses Buchs zu stellen, ohne etwas von der Freude darüber vermitteln zu wollen, dass es gelungen ist, Erkenntnisse aus meiner theoretischen Vorarbeit gleich im Anschluss in der Praxis erproben zu können. Wie viel Aussicht mag generell jemand haben, der über Kunst und Architektur philosophiert, dass er seine Schlussfolgerungen anhand eines eigenen Bauwerks überprüfen lassen kann? Ich selbst hielt diese Aussicht für so unwahrscheinlich, dass ich meine Entwürfe wohl auf immer für die Leinwand oder den Zeichenkarton reserviert glaubte. Man muss es wohl eine besonders glückliche Fügung nennen, dass ich tatsächlich eine für meine Absichten maßgeschneiderte Situation vorfand.

Im Jahre 1980 erhielt die Stadt Hamm den Zuschlag für die erste Landesgartenschau von Nordrhein-Westfalen. Ein seit 1920 aufgelassenes Zechengelände im Osten der Stadt sollte in einen blühenden Park verwandelt werden. Das ursprüngliche Konzept der Planer ging davon aus, dass die Überreste der ehemaligen Zechengebäude beseitigt und durch Grünanlagen ersetzt werden sollten.

Durch das Engagement einer kleinen Künstlergruppe um den Galeristen Werner Kley aus Hamm wurde eine heftige Diskussion um den Erhalt dieser frühen Industriearchitektur angeregt, die schließlich zu ihrer Integration in die Gartenschau führte.

 

Während man über die Verwendung der historischen Backsteinhallen schnell einen Konsens zwischen Planern und Politikern herbeiführen konnte, schieden sich an der ehemaligen Kohlenwäsche, die schon früher mal als das hässlichste Gebäude Europas bezeichnet wurde, die Geister. Dieses Betonmonster bestand aus einem ca. 30 Meter hohen Westteil und einem niedrigeren Ostteil. In seinem Innern befanden und befinden sich z. T. heute noch gewaltige Trichter, in denen die geförderte Kohle mit Wasser von unbrauchbarem Abraummaterial getrennt wurde.

Die Zeche Maximilian stand jedoch von Anfang an unter einem schlechten Stern, seit 1902 mit den Zechenarbeiten begonnen worden war. Schon 1943, nach drei vergeblichen Anläufen der Kohleförderung, kam das endgültige Aus für den Bergbau auf Maximilian.

Die Gebäude jedoch blieben. Die Kohlenwäsche wurde als Getreidesilo benutzt. Auf dem Gelände, das nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise als militärischer Übungsplatz verwendet wurde, herrschte in der Folge über 15 Jahre lang Totenstille. Die Natur begann, sich Stück für Stück der Industrielandschaft zurückzuerobern.

1968 wurden zwei Betonriesen, ein zweiunddreißig Meter und ein vierundzwanzig Meter hoher Kohlebunker, gesprengt. Die Kohlenwäsche blieb aus unerfindlichen Gründen verschont. Ihr Ende schien besiegelt zur ersten Nordrhein-Westfälischen Landesgartenschau 1984 in Hamm – bis zu einem Tage im Juni 1981:

An diesem Tag wurde eine Ortsbegehung auf dem zukünftigen Landesgartenschau-Gelände abgehalten, um mit Hilfe der Presse der Allgemeinheit und den Verantwortlichen den Gedanken nahe zu bringen, auch den Betonkoloss Kohlenwäsche als Erinnerung an die Geschichte des Orts mit in das Gartenschaukonzept einzubeziehen und somit beispielhaft die Möglichkeit zur Wiederbelebung von Industriebrachen aufzuzeigen.

Nachdem ich festgestellt hatte, dass gerade diese frühe Industriearchitektur ihren Reiz haben kann, kam dann zwangsläufig die Frage: Was kann man aus einem solchen Betonkasten noch machen?


Zwischen dieser Frage und meiner Antwort war etwa soviel Zeit, wie man für einen schweifenden Blick über ein Gebäude von siebzig Metern Länge benötigt.

„Man könnte einen riesigen Elefanten daraus machen!" Meine Gesprächspartner schienen gar nicht einmal sehr verblüfft zu sein, denn als sie wie zur Kontrolle meinen Augenschwenk nachvollzogen, haben sie vielleicht auch sofort empfunden, dass dieses langgestreckte graue Ungetüm sich für eine solche Verfremdung geradezu anbot. Ich wurde aufgefordert, diesen Vorschlag doch schnell zu Papier zu bringen. Das geschah am folgenden Tag. Mit der Zeitungsveröffentlichung am dritten Tag begann eine hitzige Debatte, die nach über einem Jahr mit einem Bauauftrag enden sollte.

War der Weg von der Idee zur Tat wirklich so unkompliziert, wird der Leser sich fragen. Denn selten liegen die Dinge doch so einfach! Soweit war dies auch nur Anekdote. Doch der Elefant war eben nicht nur ein Gedankenblitz. Dahinter verbarg sich jahrelange Auseinandersetzung mit dem Thema Pop-Architektur. Welchen Stellenwert Pop-Art und postmoderne Architektur für mich besitzt und wie sie den Weg zu einer Architekturauffassung ebneten, die dem Nutzer vielfältige Nutzungsmöglichkeiten und Identifikationsangebote macht und die zu einem aus Beton, Stahl und Glas gebauten Elefanten führte, soll im folgenden dargestellt werden



2. Pop Art, Post-und Spätmoderne

„Einige vitale Lektionen der Pop-Art hätten die Architekten aus ihren gekünstelten Träumen von der reinen Ordnung aufwecken sollen." Robert Venturi [52]

Die konventionelle und „konfektionierte" Architektur unserer Städte lag über Jahrzehnte in Dauerfehde mit der Gesellschaft und bisweilen muss man mit Verdruss feststellen, das sie das meistens immer noch tut. Die Realisierung der großen Utopie der Megastrukturen und der Space-Architektur, die in einem gigantischen Maßstab die flächenbezogene Stadtplanung tatsächlich in die dritte Dimension führen, also ganze Städte in geschlossene Körper auf Erden und im Weltenraum zwängen wollen (z. B. Le Corbusier, Paolo Soleri), muss weiterhin verschoben werden.

Die Architektur der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war im Widerspruch zur großen Utopie wieder überschaubar geworden. Dieser Trend arbeitete mit dem Versatzstück aus der Baugeschichte und mit bodenständigen Bautraditionen: Metaphorisches und kommunikatives Bauen, sprechende Architektur, die mehr zu sagen scheint und verständlicher sein soll als ihre Vorgängerin.

Wie in der Pop Art der 60er Jahre wurden dabei die Unordnung und die Widersprüche in unserer Alltagsrealität akzeptiert und ihr Jargon in Architektur übersetzt. Was in der Architektur der 60er und frühen 70er Jahre allenfalls eine kaum beachtete Randerscheinung war, war plötzlich aktuell geworden. Die Fachliteratur dieser Jahrgänge hat den eigentlich für die Bildende Kunst reservierten Begriff „Pop" auch für die Architektur übernommen.

Pop Art war nicht nur der Oberbegriff für die vorherrschende Kunstrichtung der 60er Jahre, sondern „Pop" wurde über die Bildende Kunst hinaus zum Schlagwort, das wie kaum ein anderer Begriff der Kunstgeschichte in alle Bereiche drang und Eingang in die Umgangssprache fand: Pop-Musik, Pop-Literatur, Pop-Farben, Pop-Corn, Superflower-Pop-Op-Cola, poppig, Schocker-Pop, Op-Pop, Agit-Prop-Pop usw. Alles, was etwas bunt war, sich einen jugendlichen Appeal zulegte, sich nonkonformistisch gerierte, machte Anleihe bei diesen drei Buchstaben und das ist im allgemeinen Sprachgebrauch auch bis heute so geblieben. Für die Entwicklung der Kunst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts war die Pop Art von ausschlaggebender Bedeutung. Die Folgezeit kennt eine Vielzahl von Kunstrichtungen, die teilweise direkte Bezüge zur Pop Art aufweisen: Op Art, Land Art, Eat-Art, Multimedia, Concept Art, Minimal Art, Happening, Fluxus usw.

In seinem Buch „Die vergeudete Moderne" schreibt der Bauhistoriker Frank Werner, dass das Thema „Pop-Architektur" zuallererst „terminologischen Verdruss" bereite [56]. Bei der Untersuchung des Begriffs erkennt man schnell, dass Pop anscheinend in jeder gewünschten Richtung deutbar ist.

Der Ursprung des Wortes „Pop" in der heutigen Bedeutung ist strittig. Pop wird entweder für eine Abkürzung von populär oder für eine englische Übersetzung des Wortes „Knall" gehalten. Für die zweite Version spricht eine frühe bildnerische Darstellung des Wortes Pop auf einem übergroßen Lutscher – einem Lolli-Pop – in einer Collage des Briten Richard Hamilton aus dem Jahre 1956, einem Schlüsselwerk der Pop-Art: „Was macht heute eigentlich unser Zuhause so anders, so anziehend?" (Abb. 2.1)


Anfang der 60er Jahre tauchten neue Bildsymbole in der Kunst auf: CocaCola-Flaschen, Campbell-Suppendosen, Marilyn Monroe und Elvis Presley neben Comic-Helden und anderem „Allerweltskram". Der Jargon der Straße, die Dinge des alltäglichen Lebens, die zu Kunstobjekten erhoben wurden, verdrängte die Ästhetik der bisher vorherrschenden Kunstrichtungen. Wer sah sich nicht irritiert von echten oder abgebildeten Plastikeimern, Eiscreme, Brillo-Kartons oder aufgehängten Besen, an denen auch noch geschrieben stand, dass sie nichts anderes als Besen seien (Jasper Johns)?

Eine neue Künstlergeneration hatte auf ihre Fahnen geschrieben, dass sie mit der Ästhetik im alten Sinne nichts mehr zu tun habe, dass jetzt Schluss sei mit der „edlen" Kunst, dass wirkliche Kunst vielmehr all das sei, mit dem uns die Realität umgebe, und wenn überhaupt, dann sei diese Warenwelt, das Industrieprodukt ästhetisch – also genau das Gegenteil von dem, was dem Kunstfreund lieb und teuer war. Indes – der Schock wurde überwunden. Die Pop Art wurde zu einem gewaltigen, auch geschäftlichen Erfolg. Hätte auch ein so wichtiges amerikanisches Institut wie das Museum of Modern Art diesen neuen Trend beinahe verpasst, so sorgten doch einflussreiche Kunsthändler dafür, allen voran Sidney Janis und Leo Castelli, dass die Pop Art zur bedeutendsten Kunstrichtung der Nachkriegszeit wurde. Andy Warhol, Roy Lichtenstein oder Claes Oldenburg, so lauten die zugkräftigen Namen in der Kunst der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Andy Warhol allein war von offensichtlich so großer gesellschaftlicher Bedeutung, dass die Gründerin der „Society for Cutting up Men (SCUM)", Valerie Solanas, ihn als Repräsentanten der Männer-Erfolgsgesellschaft im Jahre 1968 zu erschießen versuchte und dabei schwer verletzte (verfilmt als „I shot Andy Warhol“). Es ist durchaus möglich, dass die Spätfolgen der Schussverletzung seinen Tod nach einer Gallenblasenoperation 1987 mit verursachten.

Mit der Pop Art wird oft nur das amerikanische Kunstgeschehen dieser Zeit gleichgesetzt. Obwohl Pop Art in den Vereinigten Staaten eine weitaus stärkere Durchschlagskraft hatte, stammt der Begriff selbst ursprünglich aus England. Nach Du Monts Lexikon der Pop Art soll der Kritiker Lawrence Alloway 1954 als erster den Ausdruck Pop im Sinne von Pop Culture benutzt haben [38]. In seinem Beitrag zum Buch „Pop Art" von Lucy Lippard sagte Alloway selbst dazu: „Der Begriff Pop Art' wird mir zugeschrieben, aber ich weiß nicht genau, wann er zuerst benutzt wurde. Ein Autor hat behauptet: Lawrence Alloway prägte als erster den Begriff Pop Art 1954. — Das ist zu früh" [30].

Nach Alloway ist diese Bezeichnung irgendwann zwischen 1955 und 1957 im Gespräch über die Arbeiten der Independent Group entstanden. Alloway selbst war Mitglied dieser Gruppe von Künstlern, Architekten und Kritikern, zu der unter anderen auch Eduardo Paolozzi und Reyner Banham gehörten. Die Independent Group repräsentierte sozusagen die erste Generation britischer Pop-Art-Künstler. Weitere Namen der britischen Szene sind Richard Hamilton, Allen Jones oder David Hockney. Ein Bindeglied zwischen der britischen und der amerikanischen Richtung der Pop Art ist die gemeinsame Begeisterung für die amerikanische populäre Kultur, die sie als Quelle der Inspiration benutzten. Einige britische Künstler, wie z. B. David Hockney, übersiedelten in die USA, wodurch die britische Szene an Bedeutung verlor und die amerikanische sich stärker entwickelte.

Erst 1962 taucht der Terminus „Pop" in den Vereinigten Staaten auf. Lucy Lippard stellt fest: „Pop Art ist ein amerikanisches Phänomen. Es wurde zweimal geboren, zuerst in England und dann wieder unabhängig in New York" [30]. Die wirklichen Pop-Künstler sind für sie lediglich die New Yorker Fünf: Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Tom Wesselmann, James Rosenquist und Claes Oldenburg. Alle anderen, sogar die West-Coast-Künstler, wie z. B. Mel Ramos, haben für sie nur mehr oder weniger stark ausgeprägte Bindungen zum Hauptgedanken des Pop. Bis auf England gebe es in Europa gleich gar keine Pop Art, auch wenn einige Künstler Parallelen zeigten. Eine prononciert amerikanische Sicht der Dinge, die aber der Vielfältigkeit der Pop-Szene nicht gerecht wird. Jede Diskussion über Pop muss zunächst von zumindest zwei verschiedenen Begriffsdefinitionen ausgehen. Der eigene Standort wird dadurch bestimmt, welche Definition man sich zu eigen macht. Nähert man sich dem Begriff über den Aspekt „populär", so ist er zweifellos überzeitlich und lässt sich für andere Epochen genauso gut anwenden. Pop und Pop Art meinen demnach nicht grundsätzlich immer das Gleiche. Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass der Begriff für diese Kunst in ihrer Zeit geprägt wurde, es deshalb dem Verständnis dient, wenn die Pop Art eine zeitlich begrenzbare Periode zeitgenössischer Kunst kennzeichnet.

Zwei unterschiedliche Begriffsdefinitionen deuten nur an, wie komplex das Phänomen Pop tatsächlich ist. In seinem Buch „Pop International" hat Germanist Jost Hermand den Versuch unternommen, das Phänomen kulturgeschichtlich umfassend zu deuten. Nach anfänglich sachlicher Strenge gerät das Werk zu einem Sittengemälde der späten 60er und frühen 70er Jahre. Im Nachwort distanziert er sich eigentlich von der ganzen Erscheinung des Pop; die Abhandlung ist eine vernichtende Analyse, wie es der Untertitel des Buches auch bereits einräumt.

 

Zitat Hermand: „Schließlich fordern wir ja auch auf anderen Gebieten, wenn man sich um etwas wirklich bemüht und es zu einer gewissen Vollendung bringen will, eine ästhetische Perfektion. Warum nicht auch eine Kunst der Kunst? Mit Non-Art oder Un-Art sind wir in letzter Zeit wahrlich genug versorgt worden" [18].

Dieses harte Urteil kann wohl nur im Hinblick auf extreme Folgeerscheinungen des Kunstbetriebes verstanden werden. Was ist nicht alles im Namen der Kunst geschehen: Schlachten von Schweinen mit anschließender Verricht der Notdurft auf nackten Frauenleibern durch Otto Muehl, Flugzeugabsturz über New Yorker Müll mit HA Schult, Brotstraßen, Fettecken, Honigpumpen, mit Leukoplast beklebte Badewannen von Joseph Beuys oder sukzessive Selbstverstümmelung mit anschließendem Selbstmord des Rudolf Schwarzkogler, (1969). Solche Extreme lassen sich nicht ohne komplizierte Herleitungen unter Kunst und schon gar nicht unter dem Begriff Pop-Art vereinen.

Lucy Lippards Buch „Pop Art" gilt als erstes Standardwerk über diese Kunstrichtung. Ihre Arbeit befasst sich wie die meisten vorwiegend mit dem Kerngebiet des Pop, der Bildenden Kunst. Vielfältige Publikationen sind seitdem über die Pop Art geschrieben worden. Besonders in den Vereinigten Staaten findet man viele kleine Bildbände, Paperbacks über bizarre Volkskunst, Handmade Houses, Hausboote, Supergrafiken, Wandmalereien, Auto-und Motorradschmuck und dergleichen mehr, die sich gerne an den Begriff „Pop“ anlehnen. So gibt es natürlich auch Architekturbücher, die die Pop Art zu den Einflussquellen der Architektur zählen, z. B. „Supermannerism" von C. Ray Smith [47] oder „Die Sprache der Postmodernen Architektur" von Charles Jencks [20]. Gemeinsame Aussage dieser Bücher: Der Jargon des Pop wird als ein lebendiges Element einer damals neuen Architekturrichtung verstanden, der sogenannten „postmodernen" Architektur.

Der Begriff „postmodern" stammt ursprünglich aus der amerikanischen Literatur. Charles Jencks verweist im Vorspann seines Buches „Die Sprache Postmodernen Architektur" auf eine Anzahl von Literaturquellen, beginnend mit einer Datierung von 1949. Im Gegensatz zur Moderne versteht man unter Postmoderne zweierlei: einerseits modern, andererseits der Tradition verpflichtet. Die Postmoderne ist eklektisch, d. h. sie arbeitet nach der Methode des Historismus, reproduziert Elemente früherer Stile und zitiert frühere Kunstepochen, sie belebt bodenständige Architektur wieder, schließt Adhocismus ein, d.h. man baut ohne exakte Vorplanung mit dem Material, das man gerade zur Hand hat. Im Gegensatz zur Architektur der Moderne verwendet sie Zeichen und Symbole aus der kommerziellen Welt und solche von Subkulturen. Die Postmoderne repräsentiert aber in Wirklichkeit nur einen kleinen Teil der Architekturszene und ist zudem nur ein Sammelbegriff für verschiedene Bestrebungen, keinesfalls die Bezeichnung eines Stils.

Als Gegenpol zur Postmoderne gilt die „Spätmoderne" oder wie manche Begriffe heißen: „High Tech" und „Slick Tech" (die Bedeutung slick reicht von spiegelglatt bis schlüpfrig, von großartig bis trügerisch). Der Begriff „Spätmoderne" ist nach Jencks angeblich 1977 entstanden, um diese Architektur von der Postmodernen zu unterscheiden. Sie steht noch in der Tradition des sog. International Style, indem sie die Ideen und Formen der Moderne übernimmt und zu extremer technischer Eleganz und Raffinesse steigert. Ein bekanntes Beispiel: die Hyatt-Hotels des John Portman (Abb. 2.2). In einem Artikel des „New York Art Examiner" von C. K. Laine wird Portman als Johnny Rotten (der verruchte John, Punkrocker der Sex Pistols) der Architektur bezeichnet und seine Bauten als „hässlich und kriegerisch wie todbringende Raumschiffe" qualifiziert. Man mag dieses Wortspiel wenig angemessen finden, aber ein Problem dieser Architektur wird angesprochen. Der Anblick des Bonaventure Hotels in Los Angeles oder des Renaissance Centers in Detroit ist zwar faszinierend, das Gebäudeinnere aber bereitet oft Orientierungsprobleme, und in all dem feudalen Komfort ist es nahezu unmöglich, einen Platz zu finden, den man mit dem urdeutschen Wort „gemütlich" bezeichnen könnte. Wenn man die Besucher in der Hotel-Lobby beobachtet, sei es beim Essen, beim Drink, beim Gespräch, fallen jene verräterischen Blicke nach rechts und links auf, die die Verhaltensforscher „Sichern“ nennen.


Da in beiden Fällen dem Namen nach schon direkte Beziehungen zur „Modernen Architektur" bestehen, muss dieser Schlüsselbegriff ebenfalls definiert werden. „Moderne Architektur" ist die globale Bezeichnung für die Baukunst von ca. 1914 bis 1972. Sie hat sich aus den Prinzipien des Internationalen Stils entwickelt. So nannten 1932 Henry Russel Hitchkock und Philip Johnson die neue Architektur der 20er Jahre. Innerhalb der Modernen lassen sich zwei Tendenzen erkennen: zum einen eine Linie der Rationalität und Funktionalität beginnend mit der Schule von Chicago, Wright, Perret, Loos, Behrens, Gropius bis Mies van der Rohe, zum anderen eine Linie expressionistischer Tendenz über den Jugendstil und den Expressionismus bis zu Scharoun, Saarinnen und Niemeyer. Der wohl bedeutendste Architekt der Moderne, Le Corbusier hat sich in beide Richtungen bewegt. Die Endphase wird je nach Standort unterschiedlich gesehen. Jencks diagnostiziert das Ende der Moderne auf das Jahr 1972, in dem der Gebäudekomplex Pruitt Igoe in St. Louis, zwischen 1952 und 1955 von Minoru Yamasaki gebaut, gesprengt wurde.

Die Nachfolger der Architektur der Moderne haben sich also in zwei Lager gespalten. Die Postmodernen werfen den späten Jüngern Mies van der Rohes vor, dass sie immer noch Baukunst auf Funktionalität und Ökonomie reduzieren. In umgekehrter Richtung wird den Vertretern der Postmodernen ihr Eklektizismus, also der bewusste Rückgriff auf bekannte Elemente der Baugeschichte, als Bankrotterklärung ihrer Kreativität ausgelegt. Man beruft sich dabei auf Frank Lloyd Wright und Walter Gropius, die im Stilzitat, der Übernahme historischer Elemente, einen elementaren Mangel an Kreativität sahen. Da dieser Vorwurf vor der Entwicklung der Postmodernen formuliert wurde, kann er sich wohl zunächst nur auf den Eklektizismus und Historismus des 19. Jahrhunderts beziehen. Der Vorwurf trifft jedoch damals wie heute zu, wenn lediglich eine Replik entsteht, wie z. B. das Getty-Museum als detailgetreue Nachbildung einer römischen Villa im kalifornischen Malibu (1970-75, Abb. 2.3). Weil eine reine Nachahmung ohne Überdenken der Inhalte sich nicht mit dem Popgedanken vereinbaren lässt, ist in der Jenks'schen Betrachtung der Postmoderne die Bezeichnung „Popkreation" für diese zwar aufwendige, aber ohne geistige Reflexion gebaute Imitation in Malibu nicht korrekt.

Man kann sich der Pop Art also nicht nur von der Bildenden Kunst, sondern auch von der Architekturgeschichte nähern. Unter dem Titel „Pop-Architektur“ haben Wolf Vostell und Dick Higgins als Herausgeber ein Buch veröffentlicht, das bereits eine Synthese beider Kräfte verspricht [54]. Die Autoren sind allesamt Künstler, die sich über Architektur äußern: Beispielsweise Joseph Beuys, der die Berliner Mauer mit einem fünf Zentimeter hohen Aufsatz versehen will, um ihr dadurch eine bessere Proportion zu geben, oder Wolf Vostell, der den Aachener Dom zu verschönern gedenkt, indem er ein überdimensionales Bügeleisen darauf placiert (Abb. 7.14).

Das Buch von Vostell und Higgins bietet keine konstruktiven Vorschläge für ein neues Bauen, sondern kommentiert in erster Linie bestehende Architektur, wobei es zwar einerseits soziales Engagement verspricht gegen eine "luxuriöse Repressionsarchitektur, in der man nichts anfassen, nicht spucken, nicht lachen, nicht rauchen, nicht denken und nicht leben darf" (Vostell), andererseits aber nichts zur Lösung konkreter sozialer Fragen beiträgt. Dieser Vorwurf wird allerdings regelmäßig immer dann erhoben, wenn sich engagierte Künstler gesellschaftskritisch äußern, weil das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft kompliziert und der Nutzwert seines Beitrages nicht objektiv messbar ist.