Der Glaselefant

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Wer die Pop Art bislang als rein kunstgeschichtliches Phänomen betrachtet hat, darf hier schon vermuten, dass der Rahmen der Bildenden Kunst gesprengt wird und dass die Fixierung auf die bestenfalls zwanzig Jahre Pop Art vielleicht eine willkürliche Verkürzung des Themas ist. Das Nomen „Pop" als Prädikativum oder Attribut gebraucht, gewinnt eine neutrale, d. h. nicht zeitlich gebundene Bedeutung. Nach Jencks´ Verständnis kann z. B. ägyptische oder römische Baukunst Pop sein. Wenn ein Begriff aber so großzügig benutzt wird, verliert er seine Präzision. In späteren n dieses Buches werden zwar Parallelen der Pop Art zu früheren Kunstepochen deutlich werden, aber zunächst soll Pop als eine Erfindung des 20. Jahrhunderts verstanden werden.


Mit der Zeitspanne 20. Jahrhundert ist schon ein genügend breites Spektrum vorgegeben, so dass selbst der Versuch einer angemessenen Darstellung bereits Lücken aufweisen wird.

Innerhalb dieses Zeitrahmens bieten sich zwei Epochen zu einem direkten Vergleich an. Die Pop Art der 60er Jahre setzte die banale Alltagsrealität gegen die rationalen ästhetischen Standards der bis dato vorherrschenden Kunstrichtungen. Diese Absicht und besonders die Radikalität, mit der sie vorgetragen wurde, macht die Pop Art mit der Dada-Bewegung der 20er Jahre verwandt. Die Dada-Bewegung war die Rebellion gegen die kulturellen Formen der fadenscheinig gewordenen künstlerischen und gesellschaftlichen Konvention. Sie stellte sich damit auch gegen die zeitgleichen Ismen (Konstruktivismus, Kubismus, Suprematismus), die sich auf abstrakte Ordnungsprinzipien beschränkten. Für die Architektur bedeutete das: mit dem Beginn der Architektur der Moderne, in der Funktionalität und Ökonomie beinahe zu ausschließlichen Maßstäben wurden, gab man die bis dahin in der Architektur gültige Auffassung auf, nach der populäre und „hohe Kunst" ein allgemein verständliches Ganzes waren. In der Zeit um den Ersten Weltkrieg wurde der Grundstock gelegt für eine Architektur, die aber dann erst bestimmend für die Stadtlandschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde, obwohl sie doch ganz wesentliche Bedürfnisse ihrer Nutzer vernachlässigte. Zuerst in der Bildenden Kunst und hier besonders in der Pop Art fand der Verdruss über diese emotionale Unzulänglichkeit der von den Menschen selbst geschaffenen Umgebung ihren Ausdruck. Die Postmoderne hat dabei auch von der Pop Art gelernt und formierte sich als Reaktion auf den internationalen Einheitsstil.

Jede Kunsterscheinung hat mehr oder weniger Wurzeln in der Vergangenheit; die Pop Art hat sie vor allem in der Dada-Bewegung und im Surrealismus. (Genauso wie Dada und Surrealismus niemals Stile waren, ist auch Pop kein Stil.) Man kann selbst Picasso und Fernand Leger als Vorläufer der Pop Art bezeichnen.

Mit den Ready-mades von Marcel Duchamp hatte man die bislang radikalsten künstlerischen Kreationen zum Vorbild. Duchamp malte gar nicht erst das Industrieprodukt, sondern er nahm einen fertigen Gegenstand und erhob ihn durch seine Signatur zum Kunstobjekt. Geschehen 1917 — und immer noch scheiden sich am Flaschentrockner und am simplen Urinal die Geister, können viele nicht begreifen, dass es sich dabei um Kunst handeln soll.

In dem alltäglichen, lediglich ausgewählten Gegenstand Flaschentrockner manifestiert sich eine Idee: Das Ordinäre wird zur Kunst erklärt. Nicht der Gegenstand selbst ist Kunst und schon gar nicht die Signatur. Duchamp fasste es so: „Ich bin an Ideen interessiert, nicht in erster Linie an visuellen Produkten." Wie wenig sein Interesse an ein bestimmtes Objekt gebunden war, beweist die Tatsache, dass einige Ready-mades verlorengingen und Duchamp sie einfach durch neue ersetzte oder er die Erlaubnis gab, sie in kleinen Auflagen zu reproduzieren. Hier bereits eine Parallele zu Andy Warhols Kunstwerk-Massenproduktion.

Als ein weiteres Beispiel früher Vor-Pop-Art darf man das berühmte Pelzgeschirr von Meret Oppenheim betrachten. Da wurden so banale Gegenstände wie Teller, Tasse und Löffel mittels des sicher zur Nahrungsaufnahme untauglichen Materials Fell ähnlich verfremdet, wie später die weichen Toiletten und Zahnpastatuben von Claes Oldenburg mittels ungewöhnlichen Materials von der einfachen Verständnisebene ihrer Muster gelöst wurden. Eine Toilette aus weichem Stoff ist eben keine eindeutige Darstellung einer Toilette mehr, sondern ein eigenständiges, künstlerisches Objekt.

Es hat keinen Beginn der Pop Art in Form einer Initialzündung gegeben. Die Jahre der Pop Art, vornehmlich die 60er, waren den 20ern in Vielem ähnlich. Beide Dekaden waren einerseits Perioden der Unruhe und des Widerstandes gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, andererseits waren sie Jahrzehnte reicher Kreativität. Das eine sah die Russische Revolution noch am Anfang, eine starke sozialistische Bewegung in Deutschland der Weimarer Republik und in ganz Europa eine aktive nonkonformistische Intelligenz. Die Jugend in den 60er Jahren stellte in einer weltweiten kulturkritischen Revolte die bürgerlichen Werte des „Establishments" in Frage. Das neue Selbstverständnis äußerte sich in Kleidung, Haartracht, sexueller Liberalität und gesellschaftskritischen Bewegungen wie der „neuen Linken".

Die Selbstbefreiung hatte jedoch ihre tragischen Seiten: In Berkeley, Kalifornien, wurde ein Student erschossen und über hundert weitere verletzt. In Kent, Ohio, gab es bei Ausschreitungen und Demonstrationen 1969 vier Tote. In Deutschland wurde der Tod des Studenten Benno Ohnesorg zum Beginn blutiger Straßenschlachten. Trotz brutaler Spätfolgen in Deutschland, Frankreich und Italien war der Geist der 60er Jahre im Kern auf friedliche gesellschaftliche Veränderung ausgerichtet, was die APO (außerparlamentarische Opposition) den „langen Marsch" durch die Institutionen nannte. Durch Überreaktion und gegenseitige Provokation eskalierte die Entwicklung.

Ein Element internationaler Kommunikation der protestierenden Jugend war die Rock-und Pop-Musik der Beatles, der Rolling Stones, der Doors, von Bob Dylan, Jimmy Hendrix, Janis Joplin, Frank Zappa und vielen anderen, die damit im Gegensatz zu den meisten anderen zeitgenössischen Musikrichtungen eine wirkliche gesellschaftliche Relevanz besaß. Die Schlüsselsätze „Give peace a Chance" und „Life is very short and there is no time for fuzzing and fighting" stammen von John Lennon. Die Pop-Musik war eine emotionale Entladung ähnlich wie die Pop Art in der Bildenden Kunst.

Ohne die Einbeziehung der Rahmenbedingungen der späten kapitalistischen Gesellschaft, besonders in den USA, ist Pop nicht zu erklären.

Vorwiegend der Besitz bestimmt hier den gesellschaftlichen Status eines Menschen, die Umwelt erlebt man durch die Windschutzscheibe seines Autos, der Fernseher wird zum Fetisch. Wer nicht konsumiert, hat nicht wirklich Anteil am Leben. Ohne ständig steigenden Konsum und phasenverschoben steigende Investitionen kann eine kapitalistische Gesellschaft nicht existieren. Deshalb wird der Konsument mit Werbereizen überflutet; es gibt keine Möglichkeit, sich dem „Big Brother" zu entziehen. Die „Coca-Colarisierung" ist total. Die permanente Aufforderung zum Konsum geht durch alle Medien. Die Reklametafeln prägen das Stadtbild. Sie sind so groß geworden, dass man das dazugehörende Gebäude kaum noch sieht.

Die Straßen von Los Angeles, der in diesem Sinne „amerikanischsten“ Stadt der USA (L. A. ist America's America) verlaufen zwischen einem Spalier von Werbetafeln (Abb. 2.4); diese „Außenmarkierungen" der Freeways sind oft aufwendig konstruiert und haben nichts als Werbung zu tragen. Die Regeln, nach denen die Tafeln gestaltet werden, sind einfach: je größer, desto besser, je knalliger die Farben, um so effektvoller, je mehr Bewegung und Geflacker, um so auffälliger. Die Welt der Reklame bestimmt die Stadtlandschaft des amerikanischen Westens oft mehr, als es die Architektur im eigentlichen Sinne vermag. Wie ein Vexierbild scheinen sich die Zeichen zur Erfüllung ihrer kommerziellen Aufgaben immer größer und aggressiver gebärden zu müssen. Ihrer Allgegenwart zu entfliehen, scheint unmöglich, solange das Auto die Stadtbild von Los Angeles so eindeutig bestimmt, solange ihm alle Opfer an verfügbarem Land, Energiereserven und der Gesundheit der Bewohner gebracht werden.


Der Gesamteindruck hat die Säuberungswelle des „Highway Beautification Act" aus dem Jahre 1965 überlebt. Damals wurde man sich der Umweltverschandelung durch die Bill Boards bewusst und im Verlaufe der Aktion wurden etwa 500 000 Reklametafeln entfernt. Ausgerechnet zu dieser Zeit verlangte der Architekt Robert Venturi, wenn überhaupt etwas vergrößert werden sollte, dann die Bill Boards. Venturi sieht in ihnen ein vitales Element der Stadtgestaltung. Der Literat Tom Wolfe drängt noch stärker in diese Richtung, indem er behauptet, die Werbedesigner seien den ernsten Künstlern um wenigstens eine Dekade voraus. Er empfiehlt letzteren, ein Jahr bei Raymond Loewy, dem bekanntesten Commercial Designer Amerikas, in die Lehre zu gehen.

Ein weiteres Paradebeispiel einer Stadt, deren Stadtbild durch Werbung bestimmt wird, ist das amerikanische Spielerparadies Las Vegas. Die populären Symbole des „Commercial Strip" (auf kommerziellen Gewinn ausgerichtete und dementsprechend gestaltete Straßenlandschaft) prägen diese Stadt wie keinen anderen Ort dieser Welt. Nach dem Motto „If you can't beat 'em, join 'em" (wenn du nicht dagegen ankommst – mach halt mit) haben die Pop-Künstler die so erfolgreichen Symbole der Bill Boards aufgenommen: das Markenprodukt, die Film-und Musikstars, Schrift und Zahl. Nur werden in der Pop Art die banalen Gegenstände oder menschlichen Gestalten in ihren Proportionen verzerrt oder das Material verändert oder sie in einen ungewöhnlichen Zusammenhang gestellt, um auf diese Weise einen Bewusstseinsprozess anzuregen. Pop Art ahmt nicht die Werbung nach, sondern benutzt ihre Ikonographie in neuen Arrangements, um zu Aussagen zu gelangen, die von naiver Verherrlichung bis zu beißender Satire reichen können. Weil hier ein typisch amerikanischer Wesenszug zu Tage tritt, lehnt Lucy Lippard den früher für Pop Art synonym gebrauchten europäischen Terminus „Neo-Dada" zu Recht ab.

 

Einer der ersten der amerikanischen Kulturszene, der die Kraft der Vulgär-Kunst akzeptierte, war der Komponist John Cage. Sein Einfluss auf die New Yorker Pop-Artisten ist nicht zu unterschätzen. Cage war mit einigen von ihnen befreundet, die sein Übernehmen von schlichten Geräuschen in die Musik in gedanklich parallele bildnerische Darstellung umsetzten.

Robert Venturi hat ähnliche Gedanken auf die Architektur übertragen. Er war der erste zeitgenössische Architekt, der bewusst Ansätze der Pop Art übernahm und in seiner Theorie des Bauens berücksichtigte.

Pop-Architektur hingegen gab es schon viel früher. Der Anfang liegt bereits im ersten Viertel dieses Jahrhunderts, und damit gleicht die zeitliche Distanz der, die zwischen den Pop-Artisten und dem Dadaisten Marcel Duchamp liegt. Der gleiche Zeitabstand ist wohl mehr Zufall, weil der qualitative Abstand von einer kalifornischen Würstchenbude zur Duchampschen Urinschüssel doch recht beträchtlich ist. Es soll hier keine künstlerische Querverbindung zwischen solch verschiedenen Beispielen konstruiert werden, aber im größeren Zusammenhang (s. 8: Das Symbol in der Architektur) wird das übereinstimmende Moment doch recht interessant.

Als ein weiteres wichtiges Element der Entwicklung hin zur Pop Art wird neben Dada, populärer Subkultur und der Ikonographie der Reklame eine geistige Orientierung der jungen Intellektuellen in den 50er Jahren in Amerika angesehen, die mit dem Namen „Camp" bezeichnet wird ein Begriff der amerikanischen Gesellschaftskritik, der im Deutschen keine Parallele kennt. Der Begriff lässt sich einerseits aus dem allgemeinen Sprachgebrauch des englischen Wortes „camp" herleiten: Einerseits Lager, zeitweiliger Aufenthalt einer Gruppe. Andererseits geht der Ausdruck im speziellen Sinne auf „Campus" zurück, den geschlossenen Bereich der amerikanischen Universitäten. Der „Campus“ umschließt nicht nur Gebäude, Grünanlagen und Zuwege, sondern ist auch ein Ort für sämtliche studentischen Aktivitäten und gemeinschaftlichen Belange. Man studiert nicht nur auf dem Campus, man wohnt und lebt dort. Dieses Klima hat insofern einen Einfluss auf das Allgemeinverhalten der Studentenschaft, als tradierte Werte generell in Frage gestellt und für eine gewisse Zeit durch gemeinsam erlebte Moden und Launen neu bestimmt werden.

Zitat C. Ray Smith: „,Camp' bedeutet eine grundsätzliche Verhaltensweise und einen einzigartigen Humor in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Als losgelöste ästhetische Vision erlaubt Camp Umkehrungen der Beurteilung – von schlecht zu gut, von traurig zu lustig, von ernst zu heiter – und andere Grenzüberschreitungen. Respektlos verdreht Camp die Dinge zu einem humorvollen Ausgang."

In Bezug auf die Architektur bezeichnet Smith folglich die Verschmelzung der American Roadside-Pop-Architektur mit dem Impuls der kommerziellen Symbole der 60er Jahre als „Campopop" [47].

Als Abschluss meiner Erörterung des Begriffes Pop will ich eine Definition wagen:

Pop Art ist die Verschmelzung des geistigen Potentials von Dada und Surrealismus mit den Methoden des Industriedesigns und der Reklame unter dem Einfluss der besonderen sozialen Verhältnisse und der daraus resultierenden Verhaltensweisen der modernen Konsumgesellschaft. Mit den in dieser Gesellschaft üblichen Symbolen und Methoden versucht die Pop Art, einen zunächst wertungsfreien Sensibilisierungsprozess anzuregen, der bei Erfolg eine bewusstere Ablehnung, Toleranz oder Begeisterung für die Erscheinungsformen der Konsumgesellschaft bewirken kann.

An dieser Stelle lässt sich die Frage als Fazit aus meinen Überlegungen stellen: Erschöpft sich die Bedeutung des Pop für die Architektur darin, nur eine Vorstufe im Entwicklungsprozess oder Ideenreservoir der Postmoderne zu sein? Ich denke, es ist genauso legitim, den Pop aus diesem Kontext herauszulösen, ihn auf seine eigene Tradition zu untersuchen und seine Möglichkeiten zu diskutieren, und umgekehrt die Postmoderne ebenso wie andere Entwicklungen der Architektur auf ihre Bezüge zum Pop hin zu befragen.

Nachdem nun die wichtigsten Begriffe erörtert sind, könnte der Leser der Vollständigkeit halber auch noch eine Definition des Grundbegriffs „Architektur“ verlangen. Das ist jedoch ein äußerst diffiziles Problem – ganz ähnlich der kaum möglichen Eingrenzung des Begriffsinhalts von „Kunst“. In den Bibliotheken sind ganze Festmeter bedruckten Papieres dieser Aufgabe gewidmet. Dazu sei mir lediglich eine Anmerkung erlaubt, die mir zum weiteren Verständnis notwendig erscheint. Die Aufgabe der Architektur geht über das Erstellen von Gebäuden hinaus. Als räumliches Gestalten überschneidet sie sich mit der bildenden Kunst und mit dem Produktdesign. In diesem Sinne hoffe ich auch, dass mein Buch eine größere Aufgeschlossenheit der Architektur für die ihr doch in vielem verwandten Künste wecken kann.


3. Erscheinungsformen der Pop-Architektur

Populäre Architektur

Unter dieser Überschrift ist die Architektur zusammengefasst, die sich dem Betrachter auf einfache Weise vermittelt, weil sie entweder nur deshalb geschaffen wurde, um Touristen, Besucher oder Kunden zu faszinieren bzw. zu verführen, oder weil sie aus dem unkomplizierten Folk-Art-Bereich entstanden ist, der eine für jedermann verständliche symbolhaltige Sprache benutzt. Ein Architektur, die häufig abseits der klassischen Baugeschichte entstand, sich nicht um deren Regeln kümmerte und folglich auch nicht mit ihren Maßstäben gemessen werden kann..

Postmoderne Architektur

Die Postmoderne ist in diesem Zusammenhang zweifelsohne der Anteil mit der größten Bedeutung für die Architekturszene und die Weiterentwicklung nachfolgender Tendenzen. Der Sammelbegriff ist immer wieder angegriffen worden, dennoch bestimmt er trotz seiner Ungenauigkeit immer noch die Diskussion, weil sich bis heute kein genauerer Begriff anbietet. Die darunter grob summierten Erscheinungen sind so vielfältig, dass sich einige der in diesem Zusammenhang besprochenen Architekten gegen ihre Zuordnung zur Postmodernen gewehrt haben. Der nun größere zeitliche Abstand zeigt, dass meine Einteilung durchaus nicht ungerecht war. Die solchermaßen kategorisierten Architekten verstehen sich als in der Tradition der Architekturgeschichte stehend. Ihre Methode, sich von der Baugeschichte anregen zu lassen, ist berechtigt, solange diese mit zeitgenössischen Impulsen glaubhaft verwoben wird. Einer dieser Impulse stammte aus dem Pop. In die postmoderne Architektur sind bereits einige Elemente der Pop Art eingeflossen, nachdem man sich mit zuvor disqualifizierten Phänomenen wie zum Beispiel der Trivialarchitektur oder der kommerziellen Architektur der Geschäftsstraßen und Vergnügungsparks auseinandergesetzt hatte.

Experimentelle Architektur

Die Überschrift dieser Rubrik ist in Anlehnung an das Buch von Peter Cook „Experimental Architecture" [6] gewählt. Es handelt sich hier um einen Mischbereich. Bindungen zu den anderen Richtungen der Pop-Architektur sind vorhanden, d. h. die gefundenen Beispiele können sowohl postmoderne Aspekte aufweisen als auch experimentell-künstlerische. Besonders interessant ist die Verbindung, die diese Architektur häufig mit architekturfremden Phänomenen eingegangen ist, beispielsweise mit Comic, Science Fiction und der neuen Medienwelt.

Architekturbezogene Kunst

Die vorausgegangenen Kategorien betreffen eine Architektur, die bisweilen auch Anregungen aus den verschiedenen Bereichen der Kunst übernimmt. Dieses ist Künstlern und deren Werken gewidmet, die Aussagen zur „Architektur“ treffen. Häufig werden auf diesem Feld extreme Positionen bezogen und vielleicht auch beim Betrachter die stärksten Gefühlswallungen erzeugt — aber das ist im Allgemeinen Sinn und Zweck künstlerischn Arbeit und hier im Besonderen.

4. Populäre Architektur
4.1 American Roadside Pop, Los Angeles

Gemeinsam ist allen Erscheinungsformen der Populären Architektur die Unbefangenheit, solche trivialen Gestaltungsformen der Alltagswelt zu entwenden, die auf besondere Weise die bisweilen sentimentalen Wünsche und schlichten Harmonisierungsphantasien ihrer Benutzer ansprechen.

Es gibt in vielen Kulturkreisen Gebäude, deren äußere Hülle gleichzeitig eindeutige Signale senden wollen. Auffallend viele Beispiele solcher „sprechenden" Architektur kann man in den USA finden, häufig im Südwesten und ganz besonders in Los Angeles. Deshalb sind die Begriffe American Roadside und Los Angeles-Pop bereits in die amerikanische Fachliteratur eingegangen, um die skurrilen Gebilde dieser Region zu würdigen. In der Dokumentation „California Crazy" sind über sechzig Beispiele nur aus dem Raum Los Angeles abgebildet: Gebäude als Frosch, Ente, Schwein, Suppenschüssel, Teekessel, Zitrone, Kürbis, Flugzeug, Zeppelin gestaltet und vieles mehr. Viele davon sind leider schon der Spitzhacke zum Opfer gefallen. Wenn auch die Anzahl beträchtlich geringer geworden ist, bietet Los Angeles immer noch eine breite Palette. Die letzten Überlebenden haben gute Chancen, richtig alt zu werden, weil vielerorts ein Bewusstsein entstanden ist, dass gerade die skurrilen Bauwerke ein Teil der amerikanischen Identität sind.


Viele Beispiele dieser Jargon-oder Trivial-Architektur (englisch vernacular, vgl. Kap. 4.4 Hausboote, Handmade Houses, Truckitecture) sind lange Zeit vor der Pop Art entstanden. In den 20er, 30er und 40er Jahren erfüllten sie in der Aufbruchssituation des „American way of life" eine Funktion: lautmalerisches Anpreisen der eigenen Ware. Es handelt sich in den meisten Fällen um kleinere Geschäfte, Imbißstände (fast food) oder Tankstellen. Fortsetzung des Hot-Dog-Standes von 1938 (Abb. 4.3) sind heute die McDonalds, Kentucky Fried Chicken und Burger Kings. Letztere leiden allerdings nicht nur an mangelnder Originalität, sondern sind auch nicht mehr Gebäude mit symbolischer Gestalt. Ihre Verkaufsstätten sind in aller Regel Standardbauten, die mit den entsprechenden Firmenzeichen dekoriert werden. Im weiteren Text wird noch von diesen Dekorierten Schuppen berichtet werden.

Für jedermann verständliche Symbole – mal für schnelles und preisgünstiges Essen oder mal für die ersehnte Zapfsäule (Abb. 4.11, Abb. 4.12) – wurden viel früher benutzt als sie die Pop Art für sich entdeckte. Da viele Beispiele also älter als die Pop Art und unabhängig von ihr entstanden sind, kann ein Einfluss bestenfalls in umgekehrter Richtung erfolgt sein. So haben die Pop-Künstler der 60er Jahre denn auch zum Teil die Ikonographie des früheren Roadside-Pop übernommen.

Die Trivialarchitektur des American Roadside-Pop entsprang allgemein einfachem Gemüt, während in der Pop Art Ironie und Spott mit deutlich gesellschaftskritischer Zielrichtung zum Einsatz kamen. Auch wenn das eine oder andere Beispiel noch zeitgleich oder später als die Höhepunkte der Pop entstanden ist, so ist die Trivialarchitektur nicht abhängig von der Pop Art. Mit einiger Berechtigung darf man die These wagen, dass die Pop Art ohne anonyme Architektur nicht denkbar wäre. Der Architekturkritiker David Gebhard bezieht in seinem Begleittext zur Ausstellung „Onehundred Years of Architecture in California" eindeutig Stellung. Danach wäre der Hamburger-Stand der 20er Jahre die „Original Pop Art".

Die Pop-Architektur von Los Angeles hat ihre phantasievolle und kommunikative Seite. Der gewohnte Maßstab und Kontext wird gewaltsam verändert, so dass das gewöhnliche Objekt eine ganz neue Aufgabe übernimmt, nämlich die Aufmerksamkeit der vorbeifahrenden Autoinsassen mit einem schnell verständlichen Signal zu erregen. Hier zeigt sich also ein elementares Prinzip des Pop in reiner Form: ein gewöhnlicher Gegenstand, in Größe, Material oder Farbe verzerrt, in einer ungewöhnlichen Situation.

 

Los Angeles hat viele Gesichter: Los Angeles hat die Hot Dogs, die Donuts (Abb. 4.6, 4.7) und Bauten in Tierform zugelassen; es hat sein Disneyland, und es hat die Watts Towers (Abb. 4.10). Der vulgäre Aspekt der Stadtlandschaft hat Los Angeles das Attribut „Plastic City" oder „Junk Place" eingebracht. Das Los Angeles weit mehr zu bieten hat, beweisen die vielen Zeugnisse berühmter Architekten: Frank Lloyd Wright, Charles Eames, die Wiener Schindler und Neutra, die Greene-Brüder. Die Architektur der nächsten Generation ist mit Pelli, Peireira, Johnson, Portman, Beckett und Moore gut vertreten. Eine umfassende Würdigung erfährt Los Angeles in Reyner Banhams Buch „Los Angeles. The Architecture of four Ecologies", in dem er auch einen gewichtigen Anteil der schillernden Phantasie der Pop-Architektur widmet. Seiner Ansicht nach gibt es wohl keine amerikanische Stadt, mit Ausnahme von Chicago vielleicht, die mehr interessante Architektur zu bieten hat. Dass so viele verschiedene Dinge gleichzeitig möglich sind, verleiht dieser Region ihre Einzigartigkeit. Bei solcher Vielseitigkeit ist natürlich jede „Geschmacksverirrung" und jede Notlösung möglich. Louis Kahn hat einmal gesagt: „Los Angeles ist die Wahrheit, ob man sie mag oder nicht" — was in der Konsequenz heißt, dass in solch tolerantem Klima die Phantasie nicht nur zum Höhenflug ansetzt, sondern auch nach unten mehr Spielraum hat.

Die Offenheit und Toleranz in Los Angeles ist natürlich ein Ergebnis der spezifischen Stadtentwicklung. Man möchte fragen, ob Los Angeles erst gestern gegründet wurde, so jugendlich mutet seine Vitalität an. In der Tat feierte die Stadt aber auch schon ihr Bicentennial (200-Jahrfeier 1981), das die ganze Nation erst 5 Jahre zuvor hinter sich gebracht hatte. Was Los Angeles vor dem Sprung ins 20. Jahrhundert war, kann man in Gwen Bristows Roman „Kalifornische Sinfonie" nachlesen: Um 1850 war Los Angeles eine Provinzstadt ohne nennenswerte Bedeutung. Mit nur 102 000 Einwohnern begann diese Stadt das 20. Jahrhundert. Heute leben in Los Angeles und seinen ca. 80 Satellitenstädten über 10 Millionen Menschen. Niemand kann eine genaue Einwohnerzahl nennen, weil man über die Menge der illegalen Einwanderer, besonders aus Mexico, keine Zahlen hat. (Man sagt, dass in Los Angeles nach Mexico City und Guadalajara die meisten Mexikaner leben. Somit wird Kalifornien wieder das, das es einmal war – spanischsprechend.)

Wozu andere Millionenstädte, sogar die US-amerikanischen, mindestens zwei Jahrhunderte benötigten, genügten Los Angeles wenige Jahrzehnte. Die explosive Stadtentwicklung ging einher mit der Aktivität der Film-und Flugzeugindustrie, der wachsenden Bedeutung als Hafen und Rüstungskammer im zweiten Weltkrieg, dem Autoboom. Das einzigartige Klima und die Aussicht auf den „fast buck" (schnellen Dollar) hat Kalifornien zum „instant paradise" gemacht, zum einwohnerstärksten Bundesstaat der USA und Los Angeles zu einer der flächengrößten Städte der Welt. Diese Dynamik ließ keine Zeit für einen Verschmelzungsprozess. Die aus aller Welt importierten ästhetischen Standards fanden beinahe gleichzeitig und unmittelbar nebeneinandergestellt Berücksichtigung: spätklassizistischer Herrensitz neben spanisch-mexikanischer Villa, Streamline-Kino neben ZigZag-Bürohaus und eben auch der triviale Hot-Dog-Stand neben dem International-Style-Kaufhaus – es gibt bis heute keinen Kontext, der städtebauliche Normen gesetzt hätte.

Das Fehlen verbindlicher Muster hat sowohl Vielfältigkeit bewirkt als auch Toleranz gegenüber den Extremen. Dazu muss man wohl in gewissem Sinne auch die frühe Pop-Architektur zählen. Als Randerscheinung bleibt sie oft anonyme Architektur, d. h.: sofern ein Architekt beteiligt war, ist er namentlich nicht bekannt. In vielen Fällen war der Ideenlieferant, der Ausführende und spätere Besitzer ein und dieselbe Person.

Die „Watts Towers" (Abb. 4.10) vermitteln dem Betrachter ein Gefühl reiner Freude, wie etwa auch der Anblick von Jean Tinguelys Nonsense-Maschinen im Brunnen vor dem Neuen Baseler Theater oder Christos Running Fence (Abb. 7.3). Damit ist fast das erreicht, was der Maler und Plastiker Georg Pfahler einmal so ausdrückte, als er gefragt wurde, was Kunst sei: „Eine Treppe in einen Regenbogen meißeln."

Die Unbefangenheit und die Sicherheit, von strengerer Kultur der alten Welt und der als vornehmer geltenden Ostküste wenig gehemmt zu sein, waren wohl auch unerlässliche Grundbedingung — deshalb wird diese Architektur aus akademischer Sicht oft heute noch abgelehnt. Was die Geringschätzung anbelangt, waren Künstler der modernen europäischen Kultur flexibler. Unter der Bezeichnung „Heroismus des Alltagslebens" teilten schon in den 20er Jahren Picasso, Leger, und Le Corbusier die Vorstellung, dass die banalen Objekte des gemeinsamen Lebens durchaus kunstwürdig seien, was Marcel Duchamp dann mit der ihm eigenen Radikalität in Form seiner Ready-mades manifestierte.

In der Tradition einer Architektur ohne Vorurteile stehen auch die „handmade houses" (Selbstbauhäuser) oder die verrückten Hausboote von Sausalito — oft skurrile Gebilde, die den Watts Towers verwandter sind als den stereotypen „1-3 Bedroom"-Einfamilienhäusern, mit denen ansonsten die Riesenflächen in und um Los Angeles überbaut sind.

Die Hausboote und „handmade houses" sind im wesentlichen kleinen Maßstabs. Dennoch gibt es einige Beispiele, bei denen man die Popularität der kleinen phantasievollen Gebilde auf größere Objekte zu übertragen versucht hat. Gleichzeitig müssen andere Funktionen erfüllt werden, wenn wie bei der Assyrischen Reifenfabrik (Abb. 4.26) oder der Coca-Cola-Fabrik (Abb. 4.24) eine ansonsten öde Produktionsstätte getarnt werden soll.











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