Das Attentat auf die Berliner U-Bahn

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Die illegal gewordene Partei hatte sich schnell den neuen Bedingungen angepasst. Die Organisationspyramide war nur unsichtbar geworden, es gab sie aber dennoch. Man traf sich zumeist in den Hinterzimmern von Gaststätten, deren Wirte als zuverlässig galten.

»Das läuft alles bestens«, erklärte Theodor Blumenthal. »Schwierigkeiten haben wir nur, wenn eine Vollversammlung der Vertrauensleute ansteht, eine Corpora, wie wir das nennen, denn das sind zu viele Leute für ein Kaffeekränzchen oder eine Billardrunde.«

Ihr Dialog wurde abrupt unterbrochen, als im Wohnzimmer der Gong geschlagen wurde. Sie sprangen auf, denn Magdalena ließ nicht mit sich spaßen, wenn jemand zu spät zu einer Mahlzeit kam. Die drei Knaben saßen bereits ordentlich aufgereiht am Tisch, während die Köchin dabei war, die Suppe aus der Terrine zu schöpfen und auf die Teller zu verteilen. Das Baby lag in seinem Bettchen und schlief.

Magdalena sprach das Tischgebet, dann konnte munter drauflosgeplaudert werden, obwohl wegen der Kinder bestimmte Themen ausgeschlossen waren, etwa die Verhaftung einiger »lüderlicher Dirnen«, die bei der Ausübung ihres Gewerbes ihre Freier bestohlen hatten.

Theodor, der unverehelicht war, berichtete vom Schaufrisieren der Berliner Friseur- und Barbierinnung im Buggenhagener Kaisersaal. »So manche Barbierstube dient der Partei als geheimer Treffpunkt, und so ist es kein Wunder, dass ich eingeladen worden bin. Was mich aber am meisten begeistert hat, waren nicht die preisgekrönten Frisuren der Damen, sondern die Büste des Kaisers: Die war nämlich aus Seife geformt. Ich hatte die ganze Zeit gehofft, dass … Aber lassen wir das!« Mit Blick auf die Knaben und seine Schwägerin verbot er sich, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen.

Magdalena Blumenthal stieß dennoch ein warnendes Hüsteln hervor und zitierte aus dem Brief des Paulus an die Römer den Anfang des 13. Kapitels: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen.«

Theodor Blumenthal nickte. »Sicher, denn die herrschenden Werte sind immer die Werte der Herrschenden, da muss ich Karl Marx recht geben, und da die herrschende Klasse immer auch für die Götter zuständig ist, wird sie die von ihr erdachten Götter auch in ihrem Sinne handeln lassen.«

»Lieber Schwager, ich möchte dich doch ernsthaft bitten, die Harmonie unseres Gastgebots nicht in Gefahr zu bringen. Du weißt ja, ich sehe die Stachelschrift nicht gern in meinem Hause.«

»Bitte, Magdalena …«

»Nein, schweige bitte, wer politisiert, ist nur allzu leicht ein Haberecht. Und du verböserst die Sache nur noch.« Sie sah ihren Ältesten an. »Benedikt, erfreue du uns lieber mit den neuesten Hervorbringungen der Herzenszähmerin.«

»Mutter, darf ich vorher noch aufstehen und hofieren?«, fragte Benjamin, der dem Alter nach hinter Benedikt kam.

Theodor Blumenthal musste sich sehr beherrschen, nicht loszuprusten, glaubte er doch, aus den Worten seines Neffen einen leichten Spott an der altertümelnden Sprache seiner Mutter herauszuhören. Doch der Junge schien es ernst zu meinen und eilte, als er die Erlaubnis dazu bekam, auf die Toilette.

Magdalena Blumenthal gehörte einem Verein an, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dem Tod altdeutscher Wörter entgegenzutreten. Wörter wurden geboren, Wörter welkten dahin und starben – das aber wollten sie und ihre Mitstreiter verhindern. Das Gastgebot war ein feierlicher Schmaus, den man den Gästen bot. Ein Haberecht war ein Rechthaber und die Herzenszähmerin die Dichtkunst. Hofieren war deckungsgleich mit dem lateinischen Wort cacare und meinte: seine Notdurft verrichten.

»Gut, dass der Junge sich rechtzeitig gemeldet hat«, sagte Theodor Blumenthal, »denn Harnverhaltung ist eine schlimme Sache, der große Tycho Brahe ist sogar daran gestorben. Vielleicht wird Benjamin ja mal Harnprophet.« Das hatte er so ernsthaft gesagt, dass seine Schwägerin nicht verstimmt sein konnte. Er wusste, dass Harnprophet eigentlich ein Spottname für die Ärzte der alten Schule war, die angaben, in den meisten Fällen Krankheiten aus der Beschaffenheit des Harns erkennen zu können.

Berthold Blumenthal hatte das Geplänkel zwischen seinem Bruder und Magdalena ziemlich genossen, fürchtete aber, dass seine Frau langsam doch zornig werden würde, und ergriff daher selber das Wort, um das Gespräch auf Themen zu lenken, die weniger verfänglich waren.

»Weil wir uns in der Kanzlei immer wegen der Rechtschreibung streiten, habe ich mir bei meinem Buchhändler das Vollständige Orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache von Konrad Duden bestellt.«

»Ja, ich habe mich gerade mit meinem Chefredakteur gestritten, ob man nun Satire oder Satyre schreibt«, fügte Theodor Blumenthal hinzu.

»Der Deutsche schreibt am besten Stachelschrift«, merkte Magdalena Blumenthal an.

»Diesmal muss ich dir recht geben, liebe Schwägerin. Das mit den Stacheln ist nicht schlecht, und wenn ich einmal eine Satire-Zeitschrift gründe, dann nenne ich sie Stachelschwein

In diesem Augenblick kam die Köchin herein und hielt einen Gegenstand in der Hand, von dem sie offensichtlich annahm, dass er jeden Augenblick explodieren könne. »Wat solln die hier: ’ne Kartätsche bei mir inne Küche? Wer hat ’n die einjeschleppt?«

»Ich, werte Dame.« Theodor Blumenthal deutete eine leichte Verbeugung an. »Für die gnädige Frau. Statt Blumen.«

»Wolln Se ma vergackeiern?«

»Nein, um Gottes willen. Dies ist eine ganz neue Erfindung: die Konservenbüchse. In ihr kann man Fleisch und Gemüse über lange Zeit hinweg frisch und genießbar halten. Probieren Sie es morgen bitte einmal aus!«

»Gott, wenn das unsere Künftigkeit sein soll!« Die Hausfrau rang die Hände. »Nicht mehr auf den Markt gehen, nicht mehr selber kochen … Mit diesem Geschenk beleidigst du mich, lieber Theodor.«

»Das lag mir wirklich fern, liebe Magdalena. Ich weiß doch, wie köstlich du selber kochen kannst.«

»Du Federleser, du!«

»Ich – und ein Schmeichler? Oh, wenn ich das nur besser könnte!« Theodor Blumenthal legte seinen Löffel in den Teller und wischte sich den Mund ab. »Wisst ihr, wen ich gestern zufällig auf der Schlossbrücke getroffen habe?«

»Nein.« Seine Schwägerin sah ihn hochachtungsvoll an.

»Doch nicht etwa Seine Majestät?«

»Nein, nur den Grasmuck. Den kennt ihr auch, der hat ein Fuhrgeschäft in Rixdorf, züchtet aber vor allem Pferde für unsere Droschken und Pferdebahnen. Und der sagt, dass die Droschken billiger werden, weil es immer mehr Pferdebahnen gibt.«

Berthold Blumenthal lachte. »In einigen Jahren wird es den Pferdebahnen genauso ergehen: Da werden auch die billiger werden müssen, weil die Leute mit den elektrischen Bahnen fahren.«

»Das möge unser Herrgott verhindern!«, rief Magdalena Blumenthal. »Denn die Elektrizität ist vom Valant.«

»Wovon?«, fragte ihr Schwager.

»Vom Teufel.«

»Warum denn das? Der Blitz ist doch auch ein Stück Natur.«

Magdalena Blumenthal ließ sich nicht beirren. »Aber nicht die Ströme, die der Mensch selbst erzeugt. Mein Arzt hat mir erklärt, dass sie in das Hirn des Menschen eindringen und uns krank machen. Darum flehe ich dich an, Berthold, des Glückes unserer Kinder wegen: Nutze deine Stellung bei Baurat Hobrecht, und tue alles, um diese elektrischen Bahnen, dieses Teufelszeug, zu verhindern, ob sie nun auf, über oder unter der Straße fahren sollen!«

Was blieb Berthold Blumenthal anderes übrig, als zu nicken und ihr zu versprechen, sein Bestes zu tun. Um seine Frau von diesem heiklen Thema abzulenken, kam er auf das zu sprechen, was die Berliner Verwaltung derzeit stark beschäftigte: unter anderem, dass die Charlottenburger sich mit Händen und Füßen dagegen wehrten, eingemeindet, also vom Moloch Berlin verschluckt zu werden.

Theodor Blumenthal lachte. »Sind wir ja selber schuld dran«, sagte er.

In diesem Augenblick fing im Nebenzimmer ihre Jüngste an, fürchterlich zu schreien, und Magdalena ging auf ihren Mann los. »Siehst du, Berthold, ich hab dir ja gleich gesagt, dass sie davon krank werden wird.«

»Wovon denn krank?« Berthold Blumenthal konnte sich keinen rechten Reim auf alles machen.

»Na, gestern im Rathaus, als ich dich besucht habe.«

»Was war denn da?«

»Da habe ich mit dem Kind eine Weile unter den Sedan-Birnen gestanden.« Das war die volkstümliche Bezeichnung für die elektrische Beleuchtung, die man 1878 zur Erinnerung an die glorreiche Schlacht von Sedan, die auf den 1. und 2. September des Jahres 1870 datierte, im Berliner Rathaus installiert hatte. »Zehn Minuten nur – und das hat schon gereicht, das Kind … Meine arme Betti!« Sie stürzte aus dem Zimmer.

Formal lag die Entscheidung, ob eine Hoch- oder Untergrundbahn gebaut werden durfte, bei der Baupolizei, die streng über die Einhaltung aller Vorschriften und Bauordnungen wachte, aber natürlich verständigte sich der Polizeipräsident vorher mit dem Magistrat, so dass Baurat Hobrecht sofort in Rage geriet, als Werner Siemens den ersten Entwurf einer elektrischen Schnellbahn vorgelegt hatte.

»Ich lasse mir doch von diesem Elektrotechniker mein schönes Stadtbild nicht verschandeln!«

»Sehr wohl …« Berthold Blumenthal konnte nicht anders, als seinem Vorgesetzten grundsätzlich recht zu geben, aber er wagte auch, ein klein wenig zu räsonieren. »Andererseits wäre es nicht schlecht, ein Pendant zur Stadtbahn zu schaffen. Wenn die in zwei Jahren eröffnet wird, haben wir in Ost-West-Richtung eine ausgezeichnete Bahnverbindung und können die Menschenmassen mühelos vom Schlesischen Bahnhof nach Charlottenburg befördern, in Nord-Süd-Richtung aber verbleiben wir auf dem Stande der Droschken und Pferdebahnen.«

 

James Hobrecht reagierte unwirsch. »Blumenthal, das ist doch ein unzulässiger Vergleich! Die Stadtbahn hat eine eigene Trasse, ihre Züge dampfen nicht durch enge und belebte Straßen.«

»Darum will Siemens ja auch in die Höhe gehen.«

Das Konstruktionsbureau von Siemens & Halske hatte eine sogenannte Pfeilerbahn geplant, die vom Weddingplatz über Chaussee- und Friedrichstraße zum Belle-Alliance-Platz führen sollte. Nach dem Vorbild New Yorks sollte die Bahn nach Richtungen getrennt rechts und links des Fahrdamms angelegt werden, und zwar an der »Trittoirkante«. Der Bahnkörper ruhte dabei auf 4,50 Meter hohen Pfeilern, einstieligen Stützen.

»Durch eine Plattform sollen diese Stützen zu einem durchgehenden Schienenstrang verbunden werden«, erläuterte Blumenthal den Entwurf.

»Und wenn ein Wagen entgleist?«, fragte Hobrecht, um gleich selbst die Antwort zu geben. »Dann stürzt der ganze Zug auf die Straße, und wir haben Dutzende von Toten, Fußgänger wie Fahrgäste. Alle zerquetscht und verstümmelt.«

»Auch Schiffe können untergehen – und trotzdem wagen sich die Leute mit ihnen auf die Ozeane hinaus«, wagte Blumenthal einzuwenden. »Und für die Sicherheit ist gesorgt, denn der gesamte Unterbau wird aus Eisen gefertigt. Die Stützen werden aus Gusseisen sein und mit Blütenkapitellen verziert. Alles aus der Schinkel-Bötticher-Schule.«

»Schön und gut, aber …« James Hobrecht zeigte sich von alldem wenig beeindruckt. »Die Pfeilerbahn nimmt den Geschäftsleuten das Licht und ihren Läden jede Wirkung. Jeder blickt nur nach oben, wo die Bahn dahinzieht, und nicht mehr in ihre Schaufenster. Schlimmer noch: Sie müssen unter Umständen ihre Ladenlokale aufgeben, wie auch die Mieter in den ersten Etagen ihre Wohnungen.«

Das bezog sich auf die Angaben, die Siemens im Hinblick auf die Gestaltung der Haltestellen gemacht hatte: Was das Aufsteigen an den Stationen betrifft, so würde es wohl das Beste sein, dass man an den geeigneten Stellen einen Laden in erster oder zweiter Etage mietete. Dieser würde ein Wartezimmer bilden und durch eine Brücke mit der Bahn verbunden werden. Da nicht mehr als fünfzehn Personen in einem Wagen Platz haben sollten, sei mit größeren Publikumsansammlungen nicht zu rechnen. Deshalb bräuchten keine großen Warteräume eingerichtet zu werden. Auf freien Plätzen würde man in leichter Eisenkonstruktion eine Treppe oder Galerie anlegen können, die als Perron diene.

»Und alles versperrt einem die Sicht!«, rief Hobrecht. »Und wenn man flaniert, leidet man unter dem Höllenlärm, den die Züge machen. Nein, mein Lieber, diese Pfeilerbahn ist reine Narretei. Und wozu all dieser Aufwand und all diese Beeinträchtigungen, wenn ein Wagen nur fünfzehn Menschen aufnehmen kann! Das ist doch absoluter Unsinn, das schafft man doch auch mit dem Pferdebus und der Pferdebahn.«

»Zu wenige Passagiere, sagen Sie …« Berthold Blumenthal reizte es, seinen Vorgesetzten ein wenig aus der Fassung zu bringen – und das gelang ihm immer am besten, wenn er Hobrechts heilige Kuh, seine Kanalisation, ins Spiel brachte. »Wesentlich mehr Menschen kann man natürlich befördern, wenn man lange Züge unter der Erde fahren lässt, wie man das in London seit Jahren praktiziert.«

Da schlug James Hobrecht mit der flachen Hand auf den Tisch. »Nur über meine Leiche! Ich lasse mir doch meine ganze herrliche Kanalisation nicht durch diese Röhrenbahnen verderben!«

»Soll also der Antrag der Firma Siemens & Halske abschlägig beschieden werden?«, fragte Blumenthal routinemäßig, obwohl das völlig unnötig war.

»Selbstverständlich. Und wenn ich den Namen Siemens aus Ihrem Mund noch einmal höre, sind Sie in den nächsten zehn Jahren von jeglicher Beförderung ausgeschlossen.«

Fünf
1881

Hermann Mahlgast trug den Anzug, den ihm seine Eltern im letzten Jahr zur Einsegnung geschenkt hatten, und war von seiner Tante so hergerichtet worden, dass er älter als fünfzehn aussah. Liesbeth Cammer saß für ihr Leben gern in einem Café, doch Damen war es generell verboten, ohne Männerbegleitung ein solches zu betreten. Um diese Vorschrift zu umgehen, hatte sich ein besonderer Berufsstand herausgebildet: der des Damenbegleiters, auch »Bärenführer« genannt. Der bezahlte Begleiter erhielt fünfzig Pfennige und einen Kaffee. Dieses Honorar wollte sich Liesbeth Cammer ersparen, indem sie sich, wann immer es ging, ihren Neffen ausborgte.

Für Hermann Mahlgast waren diese Ausflüge einerseits immer eine fürchterliche Pein, andererseits jedoch genoss er durchaus den erotischen Kitzel, sich an der Seite einer schönen Frau zu bewegen und für deren Gigolo gehalten zu werden. Natürlich verbot er sich, an das zu denken, was ein Gigolo seiner Dame ganz speziell zu bieten hatte, doch je strenger er mit sich verfuhr, desto weniger ließen sich seine Regungen unterdrücken. Besonders heftig errötete er, wenn seine Tante sagte, er sehe ihrem verschwundenen Mann Germanus Cammer immer ähnlicher.

So geschah es auch im Café Bauer. »Ganz der Germanus, wie ich ihn als jungen Mann kennengelernt habe.«

Hermann Mahlgast versuchte, sich hinter der riesigen Getränkekarte zu verstecken. »Drei Jahre ist es nun schon her, dass er …«

»Er wird nach Amerika gegangen sein und dort sein Glück versucht haben.« Für Liesbeth Cammer war diese Annahme das beste Mittel, um über ihre Depressionen hinwegzukommen.

Hermann Mahlgast suchte nach Gesprächsthemen, die unverfänglicher waren. »Hast du von dem hungrigen Mann gelesen, der einem Ziehhund das Futter aus dem Napf gestohlen und aufgegessen hat?«

»Ja. Es ist schon ein Elend. Ich schreibe gerade an einem Artikel über Mütter, die Anzeigen aufgeben, um ihre Kinder zu verkaufen. Gestern habe ich mit einer Witwe gesprochen, die gleich vier ihrer sieben Kinder abgeben wollte – die Wohnung war viel zu klein für alle.« Sie musterte ihren Neffen. »Liest du eigentlich auch Heidi

»Nein, das ist doch nur was für Mädchen.«

»Schade. Gerade hat Johanna Spyri ihren neuen Roman veröffentlicht: Heidis Lehr- und Wanderjahre. Wie willst du denn deine Lehr- und Wanderjahre verbringen?«

»Ach …« Hermann Mahlgast senkte den Kopf.

Seine Tante lachte. »Ich weiß schon: in die Fußstapfen meines Germanus treten und bei Siemens Hochbahnen bauen.«

»Erst muss ich ja mal zum Militär und dann studieren.«

»Wie kommst du denn mit der Schule zurecht?«

»Danke, gut.« Das war leicht untertrieben, denn Hermann Mahlgast galt in seinem Gymnasium geradezu als Musterschüler. Er wusste, dass er sich alles erarbeiten musste, und so bereitete er sich auf jede Unterrichtsstunde gewissenhaft vor, ließ keine Hausaufgabe unerledigt, lernte alle Vokabeln, übte sogar in der Obertertia noch Schönschrift. Sein Verhalten gab nie Anlass zu Klagen. Den Lehrern gegenüber legte er den Gehorsam an den Tag, den sie erwarteten, ohne sich aber dabei demütig zu geben oder ihnen zu schmeicheln, und seinen Mitschülern gegenüber war er ein guter Kamerad, beliebt vor allem dadurch, dass er den Schwächeren nach Kräften half. So kam er nie in den Ruf, ein Streber zu sein. Sich mit ihm anzulegen wagte ohnehin niemand aus seiner Klasse, denn er war stämmig gebaut und konnte so gut turnen, ringen und boxen wie kein Zweiter. Demnächst wollte er in einen Ruderverein eintreten.

»Was liest du denn gerade?«, wollte seine Tante als Nächstes wissen.

Hermann Mahlgast druckste ein bisschen herum. »Am liebsten etwas über Technik.«

Liesbeth Cammer war darüber nicht sonderlich begeistert und hielt ihm einen längeren Vortrag über Dichter der neueren Zeit, die er unbedingt lesen müsse. »Ferdinand Freiligrath – diese wunderbare Naturmalerei …«

Nach unendlich langen Minuten des literarischen Exkurses hörte Hermann Mahlgast schon gar nicht mehr zu. Literatur langweilte ihn, einzig Naturwissenschaften und Technik zählten für ihn. Nach einer guten Stunde war das gemeinsame Kaffeetrinken beendet, und seine Tante entließ ihn wieder. Er konnte nach Hause laufen, während sich Liesbeth Cammer in den Geschäften nach neuer Garderobe umsehen wollte.

In der Belle-Alliance-Straße ging er ganz langsam die Treppe hinauf. Wenn er Glück hatte, kam ihm Emilie entgegen. Sie war so alt wie er, und schon seit Wochen saß er in seiner Kammer und versuchte, ihr einen Liebesbrief zu schreiben. Aber nie war er mit einem Entwurf zufrieden, immer wieder zerriss er das Briefpapier, das aus den Vorräten seiner Mutter stammte. Noch weniger wollte ihm ein Gedicht gelingen. Er war eben kein Poet. Auch ein Aquarell, das er für sie gemalt hatte, eine romantische Felsschlucht, wagte er nicht, in ihren Briefschlitz zu stecken. Zum einen erschien es ihm nicht vollkommen genug, zum anderen war zu befürchten, dass es ihre Mutter fand. Was er aber wirklich gut zeichnen konnte, waren Lokomotiven und Brücken, die er nach real existierenden Vorbildern zu Papier brachte, und Hochbahnzüge, diese aber weithin als Phantasieprodukte. Aber das war doch nichts, womit er einem jungen Mädchen imponieren konnte.

Er hatte Pech und bekam Emilie nicht zu Gesicht. Seine Mutter war nicht zu Hause, und Minna hatte in der Küche zu tun. So konnte er sich auf sein Bett werfen und sich seinen Träumen hingeben. Seine Tante und Emilie verschmolzen zu einer Person. Minna wunderte sich zwar, warum in letzter Zeit so viele Taschentücher verschwanden, aber anders ließ sich das Problem nicht lösen. Um sie milder zu stimmen, machte er sich anschließend daran, einen Flaschenzug zu konstruieren, der es ihr ersparen sollte, den schweren Einkaufskorb nach oben zu schleppen, hoch in die dritte Etage. Er war sehr stolz auf sein Patent. Eine zwei Meter lange Dachlatte war so am Balkongitter befestigt, dass man sie im Ruhezustand und von der Straße aus kaum erkennen konnte. Sollte sie eingesetzt werden, konnte man sie ausfahren. Vorn hingen die beiden Rollen, über die eine zehn Meter lange Wäscheleine verlief. Unten war ein Fleischerhaken befestigt. Hermann rief das Dienstmädchen und erklärte ihm die Vorrichtung.

»Ich warte oben auf dem Balkon, bis du vom Einkaufen zurückkommst. Wenn du unten stehst, brauchst du deinen schweren Einkaufskorb nur einzuhaken – und ich ziehe alles nach oben.«

»Junge, du bist der geborene Ingenieur!«

Hermann Mahlgast freute sich sehr über diese Aussage, und am liebsten hätte er den elektrischen Aufzug, den Werner Siemens für die Gewerbeausstellung in Mannheim konstruiert hatte, auf der Rückseite ihres Mietshauses nachgebaut.

Minna, die auf die vierzig zuging, hatte es im Kreuz und ließ sich von seiner Mutter ständig mit Franzbranntwein einreiben. So war sie froh und glücklich über Hermanns Erfindung und stürzte schon los, um beim Kolonialwarenhändler einiges einzukaufen und alles auszuprobieren. »Ich kann es gar nicht erwarten.«

Lange stand Hermann Mahlgast dann auf dem Balkon, um Minna nicht zu verpassen. Insgeheim hoffte er auch, sein Vater würde früher nach Hause kommen und so Zeuge seiner Vorführung werden. Mit ihm kam er blendend zurecht, denn er ließ ihm in allem freie Hand, solange sein Handeln und Unterlassen nicht gegen die geltenden Normen verstieß. Sie waren beide ähnliche Charaktere, gutmütig und behäbig, und da Gustav Mahlgast mit sich und der Welt zufrieden war, gab es keinen Grund für ihn, an seinem Sohn herumzumäkeln.

Ganz anders die Mutter. Mit der lag er andauernd verquer, denn sie hatte sich ihren Sohn ganz anders vorgestellt: temperamentvoller, nicht so märkisch, sondern eher südländisch, nicht bieder, sondern elegant, nicht wortkarg, sondern sprühend vor Witz, kein Klotz, wenn getanzt wurde, sondern in den Bewegungen federleicht wie ein Solotänzer des Staatsballetts. Auch seinem Wunsch, Ingenieur zu werden, konnte sie nichts abgewinnen, sie hätte ihn viel lieber im diplomatischen Dienst gesehen. »Mein Sohn ist gerade Vortragender Legationsrat geworden und für den Botschafterposten in London im Gespräch. Gestern war er zur Gratulationscour Seiner Majestät im Weißen Saal des Stadtschlosses.« Dass er ihr dieses Glück nicht gönnen wollte, nahm sie ihm übel.

Endlich kam Minna vom Einkauf zurück, stellte ihren Korb auf den Bürgersteig und sah zu Hermann herauf.

»Wat is nu?«

»Sofort!«

Schnell fuhr er seinen Galgen mit den Rollen aus und ließ das Seil herab. Der Haken schlug punktgenau vor Minnas Beinen auf das Pflaster, und sie hatte keine Mühe, den Henkel ihres bis an den Rand gefüllten Weidenkorbs an ihm zu befestigen.

 

Sie hob die rechte Hand. »Et kann losjehn! Hau ruck!«

Hermann Mahlgast begann, an seinem Ende des Seils zu ziehen, und hatte wenig Mühe, den Korb nach oben schweben zu lassen. Etliche Passanten stoppten ab, blieben stehen und klatschten Beifall. Das gefiel ihm, ohne dass er so eitel gewesen wäre, sich zu verbeugen.

Schon war der Korb zum Greifen nahe, und er beugte sich vor, um ihn zwischen zwei Blumenkästen hindurch auf den Balkon zu ziehen – da geschah das Malheur. Der Haken, den er in die Dachlatte gedreht hatte, wurde durch das immense Gewicht aus dem Holz gerissen. Der Korb gehorchte den Gesetzen der Schwerkraft und raste wie ein Meteor unaufhaltsam auf das Dienstmädchen zu. Die konnte gerade noch zur Seite springen, als er neben ihr aufs Pflaster schlug, ja geradezu explodierte. Schreie hallten durch die Belle-Alliance-Straße.

Alles hätte noch unter den Teppich gekehrt werden können, wenn nicht gerade in diesem Augenblick eine Droschke vor dem Wohnhaus gehalten und in dieser Droschke seine Mutter gesessen hätte. Der war das Ganze furchtbar peinlich, denn sie fürchtete nichts mehr, als zum Gespött der anderen zu werden.

»Eine Woche Stubenarrest!«, rief sie, als sie den Tatbestand eruiert hatte.

»Bitte, nein, Mutter, ich bin mit Ludolf verabredet – wir wollen nach Lichterfelde raus, die erste Straßenbahn der Welt sehen.«

»Zwei Wochen Stubenarrest!«

Ludolf Tschello wusste sehr wohl, dass er ohne das Zeugnis der Reife keinen Zugang zur Universität erhielt, aber er hatte sich geschworen, zum Erreichen dieses Ziels nicht mehr zu tun, als unbedingt nötig war. Non scolae, sed vitae discimus. So ein Unsinn. Wozu musste er, der Ingenieur werden wollte, wissen, wie das zu übersetzen war. Natürlich lernte er nicht für das Leben, sondern für die Schule. Hausarbeiten vergaß er grundsätzlich. Schludrig war er zudem, nie waren seine Schulbücher sauber eingeschlagen, nie schrieb er einen Text ohne diverse Tintenkleckse. Dass er dennoch nie sitzenblieb, lag daran, dass ihm alles zuflog. Und was ihm nicht zuflog, das hasste er. Die Lehrer verhöhnte er als furchtbar medioker, und dennoch schafften sie es nicht, ihn scheitern zu lassen, denn der Rektor seines Gymnasiums hielt ihn für ein Genie. Das mochte auch daran liegen, dass dieser der Musik leidenschaftlich verbunden war, das Geigenspiel über alles schätzte und Ernst Moritz Tschello, den Vater Ludolfs, seinen Freund nannte und immer wieder zu privaten Empfängen einlud.

Ludolf Tschello war schlank und dunkelhaarig und ließ alle Frauen, saß er am Klavier und spielte Chopin, dahinschmelzen. Zwar war er kein so begnadeter Virtuose wie sein Vater, aber bei sachgemäßer Ausbildung am Konservatorium hätte er es in die berühmtesten Orchester bringen können, doch er wollte nichts anderes werden als Ingenieur. Musik verklingt, hatte er einmal in einem Aufsatz geschrieben, aber die Pyramiden stehen ewig.

Seine Eltern sah er wenig. Der Vater hatte andauernd Proben und Konzerte, die Mutter war damit beschäftigt, Gutes zu tun, und kümmerte sich lieber um Trinker, liederliche Dirnen und kinderreiche Frauen, denen der Mann davongelaufen war. So musste Ludolf sich selber erziehen, was ihm durchaus recht war.

Langeweile hatte er nie. Entweder stromerte er durch die Stadt und heftete sich an die Fersen schöner Frauen und Mädchen, oder er saß zu Hause in seinem Zimmer, spielte Klavier oder entwarf kühne technische Bauwerke, so etwa riesige Türme aus Stahlträgern oder eine hängende elektrische Bahn, deren Rollen auf dicken Stahlseilen liefen, die hoch über der Spree aufgehängt waren. Von Charlottenburg bis Oberschöneweide sollte sie gehen.

Am 16. Mai 1881 fuhr in Lichterfelde, das damals noch nicht zu Berlin gehörte, die erste öffentlich betriebene elektrische Straßenbahn im Linienverkehr. Die Strecke zwischen dem Bahnhof an der Anhalter Bahn und der Hauptkadettenanstalt an der Finckensteinallee hatte eine Länge von etwa 2,5 Kilometern. Die Spurweite betrug einen Meter, und der Strom wurde den Motoren über die beiden Fahrschienen zugeführt. 180 Volt Spannung waren es. Der behördlichen Anordnung gemäß sollte die durchschnittliche Geschwindigkeit fünfzehn Stundenkilometer betragen und durfte an keiner Stelle zwanzig Kilometer pro Stunde übersteigen. Zwanzig Personen fasste der Wagen.

»Vata, wo is ’n det Pferd?«, fragte ein Junge, der staunend stehen geblieben war.

»Das befindet sich sozusagen unter dem Wagenkasten.«

»Isset überfahrn worn?«

»Nein, das nennt man jetzt Motor. So ein Elektromotor ist viel stärker als ein richtiges Pferd.«

Der Wagenführer, der zugleich auch Schaffner war, achtete darauf, dass die Säbel und Degen der Offiziere ausgehakt waren, weil man ansonsten damit rechnen musste, dass die Garderoben der Damen Schaden nahmen. Sollte es losgehen, rüttelte er am Seil einer Glocke, die am Führerstand auf der offenen Plattform über ihm hing. Nachdem er gebimmelt hatte, drehte er an der Kurbel des Fahrschalters, und die Bahn setzte sich langsam in Bewegung.

Noch einmal wurde kräftig gebimmelt, denn wieder einmal spielten Kinder mitten auf den Schienen. Auch manch Erwachsener unterschätzte die Geschwindigkeit des Gefährts.

Ein gerade vorüberzuckelnder Droschkenkutscher schüttelte den Kopf. »Bevor das gefährliche Ding sich breitmacht, muss der alte Zentralfriedhof wieder in Betrieb genommen werden – wegen der Verkehrsopfer.«

Ein wenig abseits unter einer alten Eiche stand Werner Siemens und verfolgte das Treiben um seine Straßenbahn mit gemischten Gefühlen.

Erich Abendroth, der ihn auch an diesem Tage nach Lichterfelde begleitet hatte, sah ihn prüfend an. »Es scheint mir, als könnten Sie sich über den Erfolg Ihrer Straßenbahn gar nicht so recht freuen.«

»Wie denn auch?«, fragte Werner Siemens. »Zwar wird man nun nicht mehr anzweifeln können, dass sich der elektrische Bahnbetrieb bestens für die Praxis eignet, aber dies hier ist nicht mein Traum, das ist doch nur eine von ihren Säulen und Längsträgern auf den Erdboden verlegte Hochbahn – und die ist das Eigentliche, um das es mir geht.« Und mit der Schuhspitze zeichnete er in den Sand, wie er sich die Sache vorstellte.

Diese Zeichnung versetze Hermann Mahlgast und Ludolf Tschello anfangs in helles Entzücken, als sie, kaum dass Siemens und sein Ingenieur weitergegangen waren, den Platz unter der Eiche besetzten.

»Das ist ja alles nur eingleisig«, sagte Ludolf Tschello, von der simplen Konstruktion doch ein wenig enttäuscht.

»Zwei Längsträger mit ihren Säulen nebeneinander wären zu teuer«, meinte Hermann Mahlgast. »Man kann ja auch Ausweichen bauen.«

Ludolf Tschello blieb weiter sehr kritisch. »Und nur ein einziger Wagen oben auf den Schienen, da passen doch viel zu wenige Menschen rein. Wenn ich da an die Stadtbahnzüge denke, wie lang die sind.«

»So ein kleiner Elektromotor hat nun mal nicht so viel Kraft wie eine große Dampfmaschine auf Rädern«, belehrte ihn der Freund.

»Dann muss man stärkere Elektromotoren bauen«, forderte Ludolf Tschello.

Hermann Mahlgast lachte. »Dann sag das doch mal dem Herrn Siemens, da steht er ja noch.«

Das traute sich Ludolf Tschello dann doch nicht, aber vielleicht hätte er es getan, wenn sich in diesem Augenblick nicht ein Stückchen weiter ein Riesengeschrei erhoben hätte. Was war geschehen? Ein Droschkengaul hatte mit einem seiner vorderen und einem seiner hinteren Beine die verschieden gepolten Straßenbahnschienen so unglücklich berührt, dass der Strom durch seinen Körper floss. Da war er dann durchgegangen, und der Droschkenkutscher hatte das Tier erst hundert Meter weiter wieder bändigen können. Aber nicht er tobte, sondern sein Fahrgast.