Das Attentat auf die Berliner U-Bahn

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Draußen standen zwei Kriminalschutzleute, die ihn sofort in die Mangel nahmen. Der Mann, der auf den Kaiser geschossen hatte, war schnell als der arbeitslose Schreiner Emil Max Hödel identifiziert worden – und in Hödels Notizkalender hatte sich auch der Name Gottfried Ruppins befunden.

»Sie geben zu, diesen Hödel zu kennen?«

»Ja. Wieso, was ist mit dem?«

»Erst einmal wollen wir von Ihnen wissen, was Sie mit Hödel zu tun haben.«

Gottfried Ruppin ahnte, dass Hödel etwas Verbrecherisches getan hatte, denn er galt als politischer Wirrkopf. Also war er entsprechend vorsichtig. »Ich habe mit Hödel nie direkt zu tun gehabt, sondern ihn nur hin und wieder mal gesehen … aus der Ferne.«

»Und wo war das?«

»Auf der Straße …« Gottfried Ruppin versuchte, ruhig zu bleiben.

»Nicht etwa in einem sozialdemokratischen Verein?«, kam die Frage mit einiger Schärfe zurück.

»Hödel war doch bei Ludolf Stoecker.« Gottfried Ruppin gab sich naiv und versuchte, die beiden Kriminalbeamten auf eine falsche Spur zu locken. Ludolf Stoecker war evangelischer Hof- und Domprediger und erklärter Feind der Sozialdemokratie. Seiner Meinung nach war die Lage der Industriearbeiter allein durch christliche Nächstenliebe zu verbessern, so dass man nicht der Sozialdemokratie auf den Leim gehen, sondern sich mit den religiös und monarchistisch ausgerichteten Parteien verbünden sollte.

»Lassen Sie den Unfug, Ruppin, Sie sind doch in denselben sozialdemokratischen Vereinen gesehen worden, in denen auch Hödel verkehrt hat, zuletzt bei der Versammlung mit diesem Bernstein.«

»Ich habe nie ein persönliches Wort mit Hödel gewechselt!«, betonte Gottfried Ruppin. »Was in Gottes Namen hat er denn Schreckliches getan?«

»Er hat auf Seine Majestät, unseren Kaiser Wilhelm I., geschossen«, verriet ihm der ältere der Kriminalschutzleute.

Gottfried Ruppin musste sich an seinem Bettpfosten festhalten. Sie würden Hödel hängen oder mit der Guillotine köpfen und seine Komplizen lebenslang einsperren. »Ich habe nichts damit zu tun!«, rief er.

»Nein, nein!«, höhnte der zweite Kriminalbeamte. »Und das hier?« Er zeigte zur Wand, an der drei Strophen der Freiheitshymne hingen, gesungen am Heldengrabe im Friedrichshain am 4. Juni 1848.

Georg Grasmuck und Germanus Cammer hatten im eleganten Restaurant »Vier Jahreszeiten« Versöhnung gefeiert und waren dann in einer von Grasmucks eigenen Droschken nach Rixdorf gefahren, wo er in der Richardstraße einen Pferdestall und ein Fuhrgeschäft besaß. Dort stand zurzeit ein Holsteiner Hengst, den ihm ein insolvent gegangener Gutsbesitzer aus dem Fläming in Zahlung gegeben hatte, und für dieses Pferd interessierte sich Cammer. Schon lange träumte er davon, an den Abenden und Wochenenden einfach aufzusteigen und durch den nahen Thiergarten zu reiten.

»Du weißt ja, dass ich vom Lande komme«, sagte er zu Grasmuck, während sie durch die Hasenheide fuhren und den Rollkrug schon in Blickweite hatten. Man duzte sich nun wieder. »Aus der Uckermark. Mein Vater war dort Gutsverwalter, und ich hab täglich auf einem unserer Pferde gesessen.«

»Und warum bist du dann nicht zu den Ulanen gegangen?«, fragte Grasmuck.

»Ja, warum eigentlich? Meine Liebe zur Technik ist wohl meine größte Leidenschaft. Darum die Artillerie. Das war bei mir genauso wie bei Werner Siemens.«

»Hör auf mit dem Namen Siemens!«, rief Grasmuck. »Wenn dessen elektrische Bahnen kommen, kann ich mich aufhängen.«

»Oh, Entschuldigung.« Cammer merkte, dass er sich auf gefährliches Terrain begeben hatte und die eben neu besiegelte Freundschaft schnell wieder in Feindschaft umschlagen konnte. Also bemühte er sich abzuwiegeln, auch wenn er sich dabei gehörig verstellen musste. »Keine Angst, Georg, das dauert ja alles noch seine Zeit. Und bis in Berlin die ersten elektrischen Bahnen rollen, bist du Großvater geworden und hast deine Schäfchen schon lange im Trockenen.«

Grasmuck schwieg. Für ihn ging die Welt unter, wenn das Pferd aus dem Straßenbild verschwand. Pferd und Mensch gehörten zusammen. Pferde waren Leben, von Gott gewollt, Dampflokomotiven und elektrische Bahnen aber waren Teufelszeug und brachten den Menschen nur Tod und Elend. Und genau dafür stand Germanus Cammer, er war ein Diener des Dämons Technik, und schon reute es Grasmuck, mit ihm Frieden geschlossen zu haben. Besser wäre es gewesen, er hätte ihn über den Haufen geschossen. Tat er es, verzögerte sich das Aufkommen elektrischer Bahnen womöglich um Jahre, denn so schnell konnte man bei Siemens & Halske einen Fachmann wie Cammer bestimmt nicht ersetzen. Nur fünf Jahre Aufschub – und Hunderte von Pferden konnten aufgezogen und eingesetzt werden. Aber immerhin wollte Cammer ja etwas von ihm kaufen – und noch dazu ein Pferd. Dennoch …

Während sie den Rollkrug passierten und in die Bergstraße kamen, begann Grasmuck zu zittern wie vor einem epileptischen Anfall. Er hatte Angst vor sich selber, Angst davor, dass der nächste Schub seiner Krankheit kam und er nicht mehr wusste, wer er war und was er war. In einem solchen Zustand war er völlig unberechenbar. Bei seinem letzten Anfall hatte er sich auf seinen Kohlenhändler gestürzt und versucht, ihn zu erwürgen, weil er ihn für den Teufel hielt. Hinterher hatte er dem Mann viel Geld gezahlt, um zu verhindern, dass Anzeige erstattet wurde. Zu einem Arzt wagte Grasmuck nicht zu gehen, weil er fürchtete, ins Irrenhaus zu kommen.

Als sie vor dem Fuhrgeschäft in der Richardstraße angekommen waren, hatte Grasmuck seine Krise aber wieder überwunden. Er rief nach Krischan, doch die Stallwache saß wieder einmal im Krug. Es war ja auch nicht zu erwarten gewesen, dass Grasmuck heute noch nach Rixdorf kam.

»Jetzt reicht’s mir aber.« Grasmuck war verärgert. »Dabei hab ich ihm gesagt, dass er rausfliegt, wenn das noch mal passieren sollte.«

»Wir haben uns unsere Leute längst erzogen«, sagte Cammer. »Absolute Disziplin ist das A und O in jeder Fabrik.«

»Bei meiner Pferdebahn auch – der Fahrplan muss ja eingehalten werden. Hier im Stall sehe ich das nicht so eng, aber einer hat immer hier zu sein. Wenn ein Tier eine Kolik bekommt, wenn ein Feuer ausbricht …« Grasmuck sah sich um, aber es war noch so hell, dass er keine Stalllaterne anzünden musste.

Cammer wurde ungeduldig. »Wo steht denn nun der Hengst, den du mir …? Und wie heißt er eigentlich?«

»Ares«, antwortete Grasmuck. »Der Züchter hatte ein Faible für römische Götter.«

Cammer korrigierte ihn. »Ares war zwar ein griechischer Gott, aber das wäre kein Hinderungsgrund für mich, ihn zu erwerben. Wo steht er denn nun?«

»Dahinten am Fenster.« Grasmuck ging voran. »So ein edles Tier gehört eigentlich auf die Weide, aber ich komme erst nächste Woche wieder nach Neuruppin. Hast du denn einen Stall bei dir in der Nähe?«

»Ja, bei uns im Nebenhaus gibt es noch einen.« In diesem Augenblick erblickte Cammer das Pferd und war sofort hellauf begeistert. »Diese Blesse, genauso wie bei meinem Lieblingspferd früher auf dem Gut.«

Der Hengst wieherte und stieg ein wenig hoch, so dass Grasmuck Mühe hatte, ihn zu beruhigen und das Zaumzeug anzulegen. »Ares, wirst du wohl! Es geht doch nicht zum Abdecker, es geht doch nur auf den Hof.« Das Tier beruhigte sich, und er konnte es wagen, Cammer die Zügel in die Hand zu drücken. »Mach dich schon mal mit ihm vertraut, ich muss mal schnell auf den Abtritt. Das gute Essen vorhin …« Es pressierte, und Grasmuck rannte fast zu dem windschiefen, hölzernen Verschlag in der rechten hinteren Ecke des Platzes. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugeschlagen, saß er auch schon auf dem Donnerbalken. Es war eine Erlösung, und er ließ ein wohliges Stöhnen hören.

Gerade hatte er sich gesäubert, als er vom Hof her ein kräftiges Schnauben und Wiehern hörte. Cammer fluchte. Dann schrie er auf, während der Hengst panisch über den Platz fegte und durchgehen wollte. Als Grasmuck die Toilettentür aufgestoßen hatte, sah er, wie Ares mit dem Leib gegen eine Bretterwand krachte. Offenbar hatte er Cammer abgeworfen, denn der Ingenieur lag regungslos neben dem ausgehöhlten Baumstamm, der als Tränke diente. Grasmuck riss sich die Hosen hoch und rannte hin. Fast wäre er selbst von dem Hengst umgerissen worden. Noch im Laufen entdeckte er die gewaltige Wunde, die Cammer rechts oben am Kopf hatte. Wahrscheinlich war er mit dem ungeschützten Kopf gegen den Baumstamm geknallt. Oder aber Ares hatte ihn mit einem Huf getroffen.

Eine Peitsche lag am Boden. Grasmuck riss sie hoch und ließ sie mehrmals knallen, um sich den Hengst vom Leibe zu halten. Cammer war jetzt wichtiger. Er kniete neben ihm nieder.

»Was ist mit dir?«

Eine Antwort bekam er nicht. Cammer sah aus, als wäre er mit einer Axt erschlagen worden.

»Himmel!« Grasmuck erstarrte. Wenn ihn hier jemand fand, dann glaubte man doch sofort, er hätte den Ingenieur erschlagen. Alle wussten von ihrer Feindschaft, aber keiner von ihrer Versöhnung. Jeder Kriminale würde ihn für einen Mörder halten.

Da kam Cammer wieder zu sich und tastete stöhnend nach seiner Wunde. In derselben Sekunde wurde Grasmuck von einer ungeheuren destruktiven Kraft erfasst, gegen die er nicht ankommen konnte. Eine herrische Stimme befahl ihm, zur Axt zu greifen: Wenn er noch nicht tot ist, dann töte ihn jetzt! Und er tat es.

Als er sich umwandte, stand Krischan im Tor. Erst fing er den Hengst ein, dann kam er zu Grasmuck und Cammer herüber.

»Ich hab alles gesehen«, sagte er und grinste.

Liesbeth Cammer wartete ungeduldig darauf, dass ihre beiden Kinder die Wohnung verließen, denn sie wollte endlich mit dem Schreiben beginnen, doch sowohl Franz wie auch Anna Luise liebten es zu trödeln. Ihr Großer, der Nikolaus, war da ganz anders, aber der weilte zu Studien in London. Das Haus Siemens hatte sich sehr zuvorkommend gezeigt und unterstützte ihn mit einer erheblichen Summe.

 

»Franz, du musst zu deiner Mathematik-Nachhilfestunde!«

Ausgerechnet in der Domäne seines Vaters zeigte der Untersekundaner erhebliche Schwächen. Das lag weniger an mangelnder Intelligenz als vielmehr an seinem ostentativen Desinteresse an der Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern, wollte er doch nichts anderes als Schauspieler werden. Seine Mutter bekam leuchtende Augen, wenn er davon sprach, denn seinen Vornamen hatte er in Anlehnung an Franz Grillparzer erhalten, dessen Dramen Liesbeth Cammer überaus schätzte.

»Anna Luise, würdest du dich bitte beeilen, Fräulein Hofstetter wartet nicht ewig auf dich!«

Die Tochter, gerade dreizehn Jahre alt geworden, hasste die Klavierstunden bei dem ältlichen Fräulein und hätte sich viel lieber mit ihren Freundinnen getroffen, um tüchtig herumzualbern. Obwohl sie Anna Luise hieß, wie die berühmte Karsch, wollte sie weder Dichterin noch Pianistin werden, sondern, zum Entsetzen ihrer Mutter, nichts anderes als Krankenschwester und – O Gott! – Ärztin.

Endlich verabschiedeten sich die Kinder und polterten die Treppe hinunter.

»Und seid pünktlich zum Abendessen zurück!«, rief sie ihnen noch hinterher. »Vater schimpft sonst wieder mit euch.«

Sie sah den beiden noch kurz hinterher, dann machte sie sich an die Arbeit. Woran sie derzeit schrieb, war eine dünne Monographie mit dem Arbeitstitel Deutsche Dichterinnen, die im nächsten Jahr im Verlag von Oskar Bonde in Altenburg erscheinen sollte. Nicht nur, dass sie dem Publikum ihre berühmten, aber oft schon lange vergessenen Kolleginnen mittels längerer Lebensläufe nahebringen wollte, sie hatte auch vor, charakteristische Texte nachzudrucken.

Sie wandte sich einer Liste mit Namen zu, die alle noch zu bearbeiten waren. Sophie Bernhardi geb. Tieck (1775 – 1833), Dorothea Schlegel geb. Mendelssohn (1764 – 1839), Karoline Luise von Klenke geb. Karschin (1754 – 1802), Bettina von Arnim geb. Brentano (1785 – 1859), Gisela von Arnim (geb. 1827).

Womit sollte sie beginnen? Noch ehe sie sich entschieden hatte, wurde am Klingelzug gerissen. Nach der Kraft zu urteilen, mit der das geschah, konnte es nur ihr Sohn sein. Und richtig, Franz stand vor der Tür und bekundete, fürchterlichen Hunger zu haben.

»Wir warten mit dem Abendessen, bis Vater kommt«, beschied sie ihn. »Du weißt doch, wie sehr er es liebt, mit uns zusammen zu speisen.«

»Wann kommt er denn heute?«

»Bald. Er wollte am Nachmittag in die russische Botschaft Unter den Linden, um dort etwas zu besprechen, dann aber sofort nach Hause kommen.«

Doch es wurde bereits sechs Uhr, ohne dass er gekommen wäre, und auch nach Einbruch der Dunkelheit war er noch nicht zurück.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Liesbeth Cammer. »Langsam mache ich mir wirklich Sorgen um ihn.«

»Wenn doch das Telephonnetz schon fertig wäre!«, rief Franz. Er wusste von seinem Vater, dass man bei Siemens & Halske schon im letzten Jahr mit den technischen Versuchen begonnen hatte, aber derzeit hatten lediglich 48 Berliner einen Anschluss, und noch nicht einmal sie selber.

Da fiel Anna Luise ein, dass der Vorgesetzte ihres Vaters schon einen Apparat zu Hause stehen hatte. »Herr Abendroth, der hat schon ein Telephon, der kann sich doch mal umhören, wo Vater steckt.«

»Eine gute Idee.«

Liesbeth Cammer und ihre Tochter machten sich zu Fuß auf den Weg zu Erich Abendroth, während Franz zu Hause blieb, um den Vater in Empfang zu nehmen, falls dieser doch noch innerhalb der nächsten halben Stunde eintreffen sollte.

Doch Abendroth wusste auch nur, dass Cammer in der russischen Botschaft etwas wegen der Moskauer Firmenniederlassung klären sollte. »Und dann wollte er Feierabend machen. Aber vielleicht ist er Unter den Linden einem alten Freund begegnet, und die beiden sind noch einen kleinen Schoppen trinken gegangen. Machen Sie sich mal keine Sorgen, liebe Frau Cammer.«

Max Fleischfresser war so hässlich, dass viele meinten, sie würden sich eine Hose über den Kopf ziehen, wenn sie so aussähen wie er, und auch die Kinder auf der Straße riefen »Arschgesicht kommt!«, wenn er an ihnen vorüberlief. Sogar seine Vorgesetzten sprachen davon, dass er eine »vermanschte Visage« hätte. Das war eine reine Gemeinheit der Natur, obwohl er allen weiszumachen suchte, sein Aussehen sei Folge einer Verletzung, die er im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/​71 davongetragen hatte, als bei der Schlacht von Orleáns dicht vor ihm eine Kartätsche eingeschlagen sei. Sein Name tat ein Übriges, um ihn unsympathisch erscheinen zu lassen, assoziierten doch viele mit ihm, dass er Kannibale sei. Von Jahr zu Jahr wurde er verbitterter und härter im Zupacken, so dass er von allen Berliner Kriminalschutzleuten am meisten gefürchtet war und bei den Ganoven als Bluthund galt. Dass er jemals ein Weib zum Heiraten finden würde, schien ausgeschlossen, und auch die Dirnen verlangten einen Aufpreis, wenn sie ihm die Beiwohnung gestatteten.

Das Polizeipräsidium am Molkenmarkt war wahrlich kein Gebäude, das man errichtet hatte, um herzlich zu lachen. Wer aber das Zimmer betrat, in dem Fleischfresser seinen Dienst versah, konnte sich ein inniges Schmunzeln kaum verkneifen, denn der Mann, der ihm am Schreibtisch gegenübersaß, war ein ausgesprochener Gemütsathlet. Ferdinand Kublank, seit Ewigkeiten mit seiner Karoline glücklich verheiratet und Vater mehrerer Kinder, hielt es mit Fontane: Je älter ich werde, je mehr sehe ich ein: laufen lassen, wo nicht Amtspflicht das Gegenteil fordert, ist das allein Richtige. Wohlbeleibt war er und durch und durch ein echter Berliner.

Man saß beim Frühstück, und Kublank fragte sich, ob er nicht schnell noch zum Friseur gehen solle.

»Doch nicht im Dienst!«, rief Fleischfresser.

»Warum denn nicht?«, fragte Kublank. »Die Haare wachsen doch auch im Dienst.«

»Ich bitte Sie, wir haben Bereitschaft.«

Kublank gab sich zerknirscht. »Entschuldigen Sie, det ick jeboren bin, et soll nich wieda vorkomm.« Damit griff er sich eine alte Ausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers, die auf dem Aktenbock lag. »Aber auf den Abtritt darf ich doch gehen – ich meine, während der Dienstzeit?«

»Ja, aber die Zeitung lassen Sie hier.«

Kublank lachte. »Die will ick doch nich lesen, die brauche ick für hinterlistige Zwecke.«

»Ja, eben darum!«, rief Fleischfresser und wurde noch um einiges dienstlicher. »Sehen Sie denn nicht, dass da Seine Majestät drauf abgebildet ist?«

Kublank winkte ab. »Sie tun ja so, als würde ick uff ihn schießen wollen. Wie der Hödel. Nee, ick nich.« Damit riss er die Seite mit dem Photo Wilhelms I. aus der Zeitung, legte es Fleischfresser auf den Schreibtisch und entfernte sich mit den übrigen Seiten. »Ach ja: Rosen, Tulpen und Narzissen, / ​det janze Leben is een Traum. / ​Man müsste sich det Hemd zerreißen / ​und mitten in die Stube … scheint der Mond.«

Fleischfresser begann, sein Frühstück auszupacken. Da er sich seine Brote immer selber schmierte und belegte, hielt sich seine Überraschung in Grenzen, als er seine Stullenbüchse öffnete. Landleberwurst. Was sonst? Er schnupperte daran. Gerade wollte er hineinbeißen, als plötzlich an die Tür geklopft wurde. Unwirsch rief er »Herein!«, nahm dann aber Haltung ein, denn es erschien nicht nur eine Dame, sondern auch der Herr Stellvertretende Polizeipräsident. »Bitte sehr, zu Diensten …«

»Wir haben hier eine Frau Cammer, und die möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Ihr Mann ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«

Fleischfresser hatte keine Scheu zu räsonieren. »Pardon, Herr von … aber wir hier sind für Mord und Totschlag zuständig und nicht für verschwundene Personen.«

Daraufhin brach Liesbeth Cammer in Tränen aus, und der Stellvertretende Polizeipräsident flüsterte Fleischfresser ins Ohr, dass er ein Trampel sei.

»Sie ziehen sofort los und suchen Cammer. Sonst …« Zum einen wollte er Siemens nicht verärgern, zum anderen hatte er zusammen mit Germanus Cammer viele Jahre in der »Äolsharfe« musiziert.

Drei
1879

Werner Siemens stand an einem bitterkalten Tag im Januar auf dem Stettiner Bahnhof und wartete auf den Generalpostmeister Heinrich Stephan, der von einer Reise nach Neustrelitz zurückkommen sollte. Man hatte sich verabredet, um noch einmal über ein Projekt zu reden, das beiden sehr am Herzen lag: die Gründung des Elektrotechnischen Vereins. Das Wort Elektrotechnik stammte von Siemens. Vieles ging ihm durch den Kopf.

Am 18. Januar 1871 war der preußische König zum Deutschen Kaiser gekrönt worden, aber nicht in Berlin, der künftigen Hauptstadt des Reiches, sondern im Spiegelsaal des Versailler Schlosses. Erst am 21. März 1871 war Berlin ins Zentrum des Geschehens gerückt, als der neugewählte Deutsche Reichstag im Abgeordnetenhaus am Dönhoffplatz zu seiner ersten Sitzung zusammenkam. Ein eigenes Domizil sollte man erst 23 Jahre später bekommen, aber langsam erfüllte sich das Wort Fontanes Wo die Kraft ist, da entsteht von selbst ein Mittelpunkt. Die Spitzen der preußischen und der Reichsverwaltung sowie die Führungskräfte von Banken, Industrie und Handel konzentrierten sich an der Spree. Unzählige ausländische Diplomaten und die Gesandten aus den achtzehn deutschen Großherzog-, Herzog- und Fürstentümern sowie den drei Hansestädten und dem »Reichsland« Elsass-Lothringen gaben sich ein Stelldichein. Der Hof residierte in Berlin und Potsdam. Staats- und Regierungschefs kamen zu Besuchen nach Berlin, und der Berliner Kongress von 1878, bei dem sich Bismarck als »ehrlicher Makler« um den Frieden auf dem Balkan bemüht hatte, stellte dabei einen ersten Höhepunkt dar, und so war Berlin auf dem besten Wege, zur wichtigsten Bühne Europas zu werden.

Die Hauptrolle in der Berliner Gesellschaft spielten die Aristokratie und das Militär mit der kaiserlich-königlichen Familie und der Hofgesellschaft. 1871 machte der Adel ein Prozent der Berliner Bevölkerung aus, während 57 Prozent der Arbeiterschaft und 42 Prozent dem Bürgertum zugerechnet wurden. Den größten Aufstieg erfuhr ein Bürgerlicher, wenn man ihn in den Adelsstand erhob, so wie es dem Historiker Leopold Ranke, dem Maler Adolph Menzel und dem Bankier Gerson Bleichröder widerfahren sollte. Irgendwann würde auch er, Werner Siemens, an der Reihe sein … Es war ein langer Weg bis zum »von« – und alles wie ein Traum.

Werner Siemens war am 13. Dezember 1816 als viertes von vierzehn Kindern in Poggenhagen zu Lenthe bei Hannover auf die Welt gekommen, wo sein Vater Ferdinand, ein Landwirt, das Pachtgut übernommen hatte. Die Familie stammte aus Goslar, und bald verschlug es sie nach Mecklenburg-Strelitz, weil dem Vater die politischen Verhältnisse in Hannover nicht behagten. So verlebte Werner Siemens seine Jugendjahre auf dem Dorfe, in Menzendorf, dessen Domäne seine Eltern betrieben. Zuerst erhielten er und sein Bruder Hans Unterricht vom Vater und der Großmutter, dann folgte ein Hauslehrer, und 1831 kam Werner Siemens schließlich nach Lübeck auf ein Gymnasium, das humanistisch-altsprachliche Katharineum. Die alten Sprachen behagten ihm gar nicht, doch schon früh zeigte sich bei ihm eine ausgeprägte Begabung für naturwissenschaftliche und technische Dinge. Zu Ostern 1834 verließ er die Schule ohne formalen Abschluss und nahm Privatstunden in Mathematik und Feldmesskunde, um die Aufnahmeprüfung an der Berliner Bauakademie zu bestehen. Als sich aber herausstellte, dass der Familie die finanziellen Mittel fehlten, um ihn dort studieren zu lassen, blieb ihm nichts anderes übrig, als zum Militär zu gehen. Denn war man Offiziersanwärter beim Preußischen Ingenieurkorps, dann konnte man sich an der Bauakademie auf Staatskosten ausbilden lassen.

»Tut uns leid, Herr Siemens«, hieß es aber beim Ingenieurcorps. »Sie haben so viele Vordermänner, dass frühestens in vier bis fünf Jahren an eine Ausbildung zu denken ist. Aber gehen Sie doch zur Artillerie, Artilleristen bekommen dieselbe Ausbildung. Eine Empfehlung können Sie gerne bekommen.«

Mit der reiste Werner Siemens zur Kommandantur der 3. Artillerie-Brigade. Der Name des Kommandeurs kam ihm bekannt vor: Oberst von Scharnhorst. Das war der Sohn des großen Generals, und dem gefiel der junge Siemens. Er versprach, beim preußischen König die Erlaubnis zu erwirken, den Ausländer in den preußischen Militärdienst aufzunehmen. »Ihr Vater muss Sie aber vom mecklenburgischen Militärdienst freikaufen.«

 

Beides gelang, aber um die Eingangsprüfung zu bestehen, bedurfte es guter Kenntnisse in Mathematik, Physik, Geographie und Französisch, und nach einer intensiven dreimonatigen Vorbereitung schaffte Siemens es auch, Offiziersanwärter zu werden und 1835 wunschgemäß zur renommierten Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin entsandt zu werden. Hier lehrten neben vielen anderen die Mathematiker Martin Ohm und Carl Jacobi, der Chemiker Eilhard Mitscherlich sowie die Physiker Heinrich Gustav Magnus und Heinrich Wilhelm Dove, aber auch der Major Meno Burg, der erste jüdische Offizier in der preußischen Armee. Über Magnus kam Siemens später zur Physikalischen Gesellschaft, der auch Hermann von Helmholtz angehörte.

Nach Abschluss des dreijährigen Studiums wurde Siemens zum Leutnant ernannt und war bis 1840 in Magdeburg und dann bis 1842 in Wittenberg stationiert. Nach dem Tod seiner Eltern musste er ab 1840 auch die Sorge für seine jüngeren Geschwister übernehmen.

»Wie komme ich nur zu Geld?« Diese Frage bestimmte die nächsten Jahre und brachte ihn dazu, kreativ zu werden. Viel Zeit dazu hatte er im Jahre 1840, als man ihn zu fünf Monaten Festungshaft verurteilte, weil er einem Kameraden bei einem Ehrenhandel sekundiert hatte. Seine Zelle funktionierte er zu einem kleinen Laboratorium um und versilberte und vergoldete Blechlöffel auf galvanischem Wege. Von den schönen und so billigen Löffeln wurde bald in ganz Magdeburg gesprochen, und ein Juwelier zögerte nicht, ihm seine Methode für vierzig Louisdor abzukaufen. Als Siemens nach einem Monat begnadigt werden sollte, richtete er eine Eingabe an den Kommandanten, ihn noch in Haft zu lassen. Vergeblich.

Als man höheren Orts von dieser Episode Kenntnis bekam und realisierte, dass Siemens von Technik und Chemie gleichermaßen Ahnung hatte, reagierte man sofort und versetzte ihn zur Luftfeuerwerkerei nach Spandau, denn der Geburtstag der Zarin stand ins Haus, und zu dieser Gelegenheit sollte im Park des Prinzen Karl in Glienicke ein Feuerwerk abgebrannt werden, wie es die Welt noch nie gesehen hatte. Das Vorhaben gelang, und Prinz Karl fand es grandios.

Von 1838 bis 1849 war Werner Siemens preußischer Artillerie-Offizier, wobei er jede freie Minute nutzte, um sich fortzubilden und selbständig zu experimentieren, aber auch um eine eigene Firma zu gründen. Neben Studium und Dienst war er unermüdlich damit beschäftigt, etwas zu erfinden oder etwas bereits Erfundenes der praktischen Verwertung zuzuführen, nur um Geld zu verdienen.

Im Jahre 1845 wurde er in Berlin Zeuge einer Vorführung eines Zeigertelegraphen, den der britische Physiker Charles Wheatstone konstruiert hatte. Doch siehe da, das Ding wollte einfach nicht störungsfrei funktionieren. Das nun war für Siemens die berühmte Herausforderung, und in den nächsten beiden Jahren gelang es ihm, das Gerät durch einen automatisch gesteuerten Synchronlauf zwischen Sender und Empfänger wesentlich zu verbessern. Beim Geber wie beim Empfänger kreiste gleichlaufend ein Zeiger, und hielt man ihn bei A durch einen Fingerdruck auf eine Buchstabentaste an, so stoppte er auch bei B beim selben Buchstaben.

Der Markt für den neuen Zeigertelegraphen war groß, und so suchte Siemens nach einem kongenialen Mechaniker, der ihn auch in Serie bauen konnte. Er fand ihn schließlich in dem 1814 in Hamburg geborenen Feinmechaniker und Universitätsmechanikus Johann Georg Halske, der in Berlin mit einem anderen Mechaniker eine kleine Werkstatt betrieb und für Siemens schon verschiedene Reparaturen ausgeführt hatte.

»Sehen Sie mal, Meister Halske, was ich hier für Sie habe.« Siemens breitete seine Zeichnungen vom neuen Zeigertelegraphen auf einer Werkbank aus. Als er mit seinen Erklärungen fertig war, sah er gespannt zu Halske hinüber.

Der schüttelte den Kopf. »Det soll loofen, Herr Leutnant? Nee, det looft nie im Leben nich.«

Verstimmt ging Siemens nach Hause, verfiel aber nicht in Depressionen, sondern machte sich daran, aus Zigarrenkistenbrettern, Blech, Eisen und Kupferdraht selber ein Modell seines Zeigertelegraphen zu basteln. Es war primitiv, aber es funktionierte, und Johann Georg Halske war nun vollauf begeistert.

»Wissen Se wat, Herr Leutnant? Ick haue hier ab, und wir machen zusammen ’n telegraphischen Laden uff!«

»Ja, schon, aber …« Noch scheute Siemens davor zurück, Abschied vom Militär zu nehmen, denn er hatte weiterhin für seine Geschwister zu sorgen – und er wollte irgendwann auch heiraten, seine Cousine Mathilde Drumann. So nahm er das herrliche Modell seines Zeigertelegraphen, das Halske alsbald gebaut hatte, und ging damit in die Bendler Straße, wo der Große Generalstab eine Kommission gebildet hatte, deren Aufgabe darin bestand, die Fortschritte auf dem Gebiet der Telegraphie zu verfolgen und die Einführung der elektrischen anstelle der optischen Telegraphie vorzubereiten.

Chef dieser Kommission war General Etzel. Der war anfangs etwas ungehalten, als Werner Siemens zu längeren Ausführungen ansetzte, brach aber bald in Lobeshymnen aus. »Hervorragend, lieber Siemens! Einfach hervorragend! Damit wäre mit einem Schlag das Problem der elektrischen Telegraphie gelöst.«

Siemens winkte ab. »Bis auf die Isolierung bei unterirdischen Leitungen. Die Bodenfeuchtigkeit dringt beim Kautschuk durch die Nähte, und nehmen wir Glasröhren, bekommen wir die Verbindungsstellen zwischen ihnen nicht hermetisch abgedichtet. Ich möchte also vorschlagen, es zunächst einmal mit Leitungen über der Erde zu versuchen.«

Der General lachte. »Erlauben Sie mal! Wir werden unsere kostbaren Kupferdrähte landaus, landein in der freien Luft aufhängen, dass jeder, der gerade knapp bei Kasse ist, sich ein Stück davon klauen kann!«

»Ich bitte Sie, Herr General, doch nicht bei uns in Preußen!«

Trotzdem machte sich Siemens mit Feuereifer daran, das Problem der Isolierung von Erdkabeln zu lösen. Zu Hilfe kam ihm dabei sein Bruder Carl. Der schickte ihm aus London die Probe einer Substanz, die aus Sumatra stammte und Guttapercha genannt wurde. Sie sollte dieselben Eigenschaften wie Kautschuk haben, nur dass sie sich kneten ließ, wenn man sie erwärmte. Siemens nahm sich einen Kupferdraht und umgab ihn mit einem Mantel aus Guttapercha. Es war die vollkommene Isolierung, und die Kommission zeigte sich sehr angetan davon. Siemens entwarf eine Presse, mit der sich Drähte fabrikmäßig mit Guttapercha ummanteln ließen, und Halske baute diese Presse. Der Generalstab orderte viele tausend Meter isolierten Drahtes für eine erste große Versuchsleitung von Berlin nach Großbeeren.

Man bot Siemens die Leitung aller preußischen Telegraphenlinien an, der militärischen wie der öffentlichen. Doch er lehnte ab, denn er war schon zu sehr Unternehmer. Ihn reizte das Risiko. Aber so ganz ohne Netz wollte er, dachte er an seine Geschwister und seine künftige Frau, denn doch nicht leben, und so beschloss er, weiterhin beim Militär zu bleiben. Aber aus dieser sicheren Deckung heraus wollte er dennoch etwas wagen. Also ging er wieder einmal zu Johann Georg Halske.

»Meister Halske, wir haben schon oft darüber gesprochen, dass wir gemeinsam eine Telegraphenfabrik aufmachen wollen. Ich muss aber erst für den Generalstab die Telegraphenlinien fertigstellen, ich bin kein Deserteur. Doch als stiller Teilhaber kann ich jetzt schon mitmachen. Mein Vetter, der Justizrat Siemens, will uns sechstausend Taler borgen. Schlagen Sie ein!«

Johann Georg Halske tat es, und am 12. Oktober 1847 gründeten die beiden die Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske. Das Gründungskapital bestand aus einem Darlehen von 6842 Talern, das Werner Siemens von seinem Vetter Johann Georg erhalten hatte. Der Firmensitz war Berlin, wo man in einem Hinterhaus in der Schöneberger Straße 19 eine Werkstatt für zehn Mitarbeiter angemietet hatte.