Das Attentat auf die Berliner U-Bahn

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Der erste große Auftrag für Siemens & Halske kam 1848 von der preußischen Regierung, die so schnell wie möglich darüber informiert werden wollte, was in der Paulskirche von der Deutschen Nationalversammlung diskutiert und beschlossen wurde. In kürzester Zeit sollte eine Telegraphenlinie von Berlin nach Frankfurt/​Main verlegt werden. Rund fünfhundert Kilometer mussten hierzu überbrückt werden, was zur einen Hälfte mit Kabeln, zur anderen mit Freileitungen geschah. Am 28. März 1849 konnte als erste wichtige Nachricht die Wahl des preußischen Königs Wilhelm IV. zum Kaiser übermittelt werden.

Der erste Rückschlag für Siemens & Halske kam schon bald, als nämlich im Sommer 1850 ein Amerikaner in Hamburg einen Telegraphenapparat vorführte, den der Kunstmaler Samuel Morse in den Vereinigten Staaten erfunden hatte. Dieser Schreibtelegraph benutzte einen Elektromagneten, mit dessen Hilfe Striche und Punkte in ein laufendes Papierband gestanzt wurden.

»Wir müssen einsehen, dass dieser Apparat unserem überlegen ist«, sagte Siemens. »Nur eignet er sich so, wie er ist, nicht für die praktische Ferntelegraphie, und unsere Chance besteht darin, ihn in dieser Hinsicht so zu verbessern, dass alle unseren Apparat kaufen wollen.«

Das gelang dann tatsächlich, und die Firma entwickelte sich prächtig, vor allem auch, weil man sich ausländische Märkte erschließen konnte. Für Russland baute man ein riesiges Telegraphennetz, man gründete eine Londoner Niederlassung und errichtete später ein eigenes Kabelwerk. Sogar durch das westliche Mittelmeer und durch das Rote Meer wurden Kabel verlegt. 1874 lief mit der Faraday das erste eigene Kabelschiff der Firma Siemens & Halske vom Stapel.

Eine wesentliche Ursache für das schnelle Aufblühen unserer Firmen sehe ich darin, sollte Siemens später in seinen Lebenserinnerungen schreiben, dass die Gegenstände unserer Fabrikation zum großen Teil auf eigenen Erfindungen beruhen … Andauernde Wirkung konnte das allerdings nur infolge des Rufes größter Zuverlässigkeit und Güte haben, dessen sich unsere Fabrikate in der ganzen Welt erfreuen.

Werner Siemens blieb rastlos. 1852 heiratete er seine erste Frau Mathilde, die ihm die Söhne Arnold und Wilhelm gebar. Für die Berliner Feuerwehr entwickelte er ein Feuermeldesystem auf der Grundlage der Telegraphie, er erfand den Doppel-T-Anker, formulierte das dynamoelektrische Prinzip und baute die erste Dynamomaschine. Bis 1878 sollte es dauern, bis deren Kinderkrankheiten überwunden waren, dann begann der Siegeszug des Starkstroms.

Während er auf dem Lehrter Bahnhof stand und wartete, konnte Werner Siemens seinen Blick keine Sekunde von den Dampflokomotiven abwenden, die ankamen und wegfuhren. Sie erinnerten ihn an vorzeitliche Drachen, die Rauch und Feuer spien. Zu dieser Assoziation passte auch, dass sie bei der Vulcan AG in Stettin gebaut worden waren.

Direkt vor ihm war eine Maschine mit Schlepptender zum Halten gekommen, eine 1B-gekuppelte Personenzuglokomotive. Die Petroleumlampen glänzten ganz harmlos, aber Siemens wich automatisch ein paar Schritte nach hinten, denn solch eine Dampflok war ja nichts anderes als ein Sprengkörper. Passte das Personal nicht auf oder versagten die Instrumente, explodierte der Kessel und riss alles in den Tod, was in seiner Nähe stand.

Es ärgerte ihn, was er da sah. Dieser Rauch, dieser Schmutz! Und überhaupt, wie konnte man mit einer Dampfmaschine auf Rädern durch die Landschaft fahren! Um wie viel sinnvoller und vor allem praktischer war es dagegen, die Energie stationär zu erzeugen, mit riesigen Dynamomaschinen in einem abgelegenen Kraftwerk, und sie dann in Form von elektrischem Strom mit Hilfe von Drähten sauber über weite Strecken zu transportieren. Eine moderne Lokomotive brauchte dann einen starken elektrischen Motor und Vorrichtungen, um sich den Strom aus den Schienen oder über der Strecke angebrachten Leitungen zuzuführen.

Im Prinzip war das alles ganz einfach, doch ihm war schon klar, dass es noch viele Jahre dauern würde, bis die elektrischen Züge wirklich fuhren und die dampfenden und feuerspeienden Ungetüme abgelöst wurden. Aber eines Tages würde ganz Europa von einem dichten Netz elektrischer Bahnen überzogen sein, und jede Stadt würde statt der Pferdebahnen elektrische Straßenbahnen haben. Nein. Schnell wurde er zum Bedenkenträger in eigener Sache, denn die Straßen würden überquellen von Motorkutschen. Vor drei Jahren hatte Nikolaus August Otto zusammen mit Eugen Langen den ersten brauchbaren Viertaktgasmotor gebaut, und man hörte, dass im Schwäbischen an schnell laufenden Benzinmotoren gewerkelt wurde. Und wenn dann die Straßen den Benzinkutschen gehörten, blieb für die elektrischen Bahnen kein Platz mehr – es sei denn, man ließ sie in einem Tunnel unter der Erde oder auf Stelzen hoch über der Fahrbahn verkehren. Das war kein Hirngespinst, denn in New York gab es solche Hochbahnen schon, wenn auch mit Dampfbahnen betrieben.

»Alles ist machbar«, murmelte Siemens. »Und am Ende des Jahrhunderts wird Berlin seine elektrische Schnellbahn haben – hoch über der Straße.«

Das Frühjahr 1879 brachte mit Gründung der Technikerhochschule und der Eröffnung der Gewerbeausstellung für Naturwissenschaften, Mathematik, Ingenieurwesen, Architektur und das Bauen eine bis dahin einzigartige Blütezeit. Man hatte die Bau- und die Gewerbeakademie zur Königlich Technischen Hochschule zusammengeschlossen und in einem Neubau in Charlottenburg untergebracht.

Auf dem Dreieck, das von der Straße Alt-Moabit, der Invalidenstraße und dem 1871 eröffneten Lehrter Bahnhof gebildet wurde, war die Gewerbeausstellung angesiedelt. Aus einer Sandwüste hatte man mit viel Geld und Arbeit einen hübschen Park gemacht, der mit seinen Wasserkünsten und den luftigen Pavillons die Berliner erfreute. Zwar sollte die Eröffnung der Stadtbahn noch einige Zeit auf sich warten lassen, aber ihre Viaduktbögen waren schon fertiggemauert, und die Gewölbe konnten genutzt werden. Die meisten von ihnen dienten als Ausstellungsräume, einige aber auch als Gaststätten.

Die Gewerbeausstellung sollte zwei Höhepunkte aufweisen, von denen der eine allerdings außerhalb des Ausstellungsareals zu bewundern war: die Installierung der ersten elektrischen Straßenlaternen. Friedrichstraße, Ecke Unter den Linden erstrahlten sie und waren um ein Vieles heller als die herkömmlichen Gaslaternen.

Die zweite Sensation war in Moabit selber zu bestaunen: die erste elektrische Schienenbahn der Welt, vorgeführt von der Firma Siemens & Halske. Die Zeitungen des Jahres 1879 schrieben, sie würde einer Grubenbahn gleichen. Hundert Jahre später hätte man einen anderen Vergleich herangezogen, nämlich den einer schmalspurigen Parkeisenbahn, wie sie überall in den Städten mit vornehmlich Kindern an Bord ihre Runden drehte. Der Fahrer thronte auf der kleinen zweirädrigen Elektrolok wie ein Turner nach einem verunglückten Sprung auf einem Bock oder Pferd. Auf den drei angehängten Wägelchen saßen auf Längsbänken je sechs Passagiere, und wer etwas längere Beine hatte, musste aufpassen, dass seine Füße nicht über den Erdboden schrammten. Mit drei Pferdestärken und einer Geschwindigkeit von sieben Stundenkilometern ging es dreihundert Meter im Kreise herum. Jede Runde kostete zwei Sechser. Jungen, denen das zu teuer war, hatten keine Mühe, nebenherzulaufen und den Zug zu überholen. Mehrere Wächter passten auf, dass die Besucher nicht auf beide Schienen gleichzeitig traten, weil das mit einem Stromschlag verbunden war.

Einer der Ingenieure, die für das ordnungsgemäße Funktionieren der Bahn zuständig waren, war Erich Abendroth. Er wurde des Öfteren gefragt, ob er Engländer sei, denn er beherrschte die fremde Sprache nicht nur nahezu perfekt, sondern hatte auch etwas von einem echten Lord an sich. Jedenfalls in der Vorstellung der Berliner. Schlank war er und fiel durch vollendete Manieren auf. Verwunderlich war das aber nicht, hatte er doch im Auftrage der Firma Siemens & Halske einige Jahre in London verbracht und sich mit der Verlegung von Seekabeln befasst. Wieder in Berlin zurück, war er, gerade einmal 34 Jahre alt, zum Oberingenieur aufgestiegen und hatte endlich eine Familie gründen können. Man hatte in der Großbeerenstraße eine geräumige Wohnung gemietet, trug sich aber mit dem Gedanken, hinaus in einen der Vororte zu ziehen, wenn diese erst besser mit der Bahn zu erreichen waren.

Dorothea Abendroth kam aus Landsberg an der Warthe, der idyllischen Kreis- und Emidiatstadt in der Neumark, wo ihr Vater als Apotheker zu den Honoratioren gehörte. Sie war durch und durch höhere Tochter, fast schon bis zur Parodie, und passte insofern bestens zum Herrn Oberingenieur. Etwas müde war sie heute, denn sie hatte am Morgen schon Lawn Tennis gespielt. Das schickte sich für eine Dame, die etwas auf sich hielt. Dennoch hatte sie daran festgehalten, ihrem Mann auf der Gewerbeausstellung einen Besuch abzustatten, denn für den Nachmittag hatte sich auch Werner Siemens angemeldet, und den wollte sie sich nicht entgehen lassen. Ihn zu kennen erhöhte ihr Ansehen sowohl im Tennisclub wie auch im Kreise ihrer Freundinnen. Um ihm zu gefallen, hatte sie ein Kostüm aus dem Schrank geholt, das an sich für diese Gelegenheit viel zu schick war. Es war aus schwarzem broschiertem Atlas geschneidert, durch und durch mit schwarzer Seide gefüttert und sehr reich mit Guipure-Spitze garniert. Hinten war der Stoff zu einer faltigen Puffe aufgerafft und mit Agraffen versehen. Das eigentliche Kleid bestand aus moosgrünem Satin Merveilleux, besetzt mit gleichfarbiger Spitze. Dazu trug sie einen Manila-Hut mit Einfassung und Schleier aus grünem Samt, Stahlschnalle und drei Federn.

Ihre jüngere Freundin Hertha Mahlgast war etwas weniger aufwendig gekleidet, aber sie war ja auch nicht darauf aus, Eindruck auf den obersten Vorgesetzten ihres Mannes zu machen. Man hatte sich während der Sommerfrische beim Badeleben in Heringsdorf kennengelernt und danach gemeinsame Spaziergänge im Victoria Park unternommen – wohnte man doch nahe beieinander.

 

Fröhlich drehten die beiden eine Runde mit der Siemens-Bahn. Dann standen sie an einem Bierausschank und warteten, bis Dorotheas Mann einen Augenblick Zeit für sie hatte. Gesprächsthemen gab es genug. Da war zuerst die Angst vor der Pest. Würde sie bis nach Berlin kommen, war die bange Frage. Im russischen Astrachan war sie ausgebrochen und schon bis nach St. Petersburg vorgedrungen. Im Reichstag hatte der Sanitätsrat Dr. Georg Christian Thilenius erklärt, die Seuche sei auf eine Luftvergiftung durch klitzekleine Tierchen zurückzuführen, auf sogenannte Bakterien – und war von den Vertretern aller Parteien ausgelacht worden. In Berlin hatte man große Mengen an Chemikalien in die Gewässer geschüttet, um die Pesterreger abzutöten.

»Die BZ hat geschrieben: Wir sehen in der Tat einem chlorreichen Sommer entgegen«, sagte Hertha Mahlgast. »Ist das nicht drollig?«

Dorothea Abendroth lachte. »Noch drolliger ist, dass Erich demnächst nach Pest fahren soll, weil die Ungarn an einer elektrischen Bahn interessiert sind, wie Siemens sie projektiert.«

»Möchtest du eine Bulette essen?«, fragte Hertha Mahlgast.

Dorothea Abendroth schüttelte sich. »Nein, wo doch das Gerücht geht, dass wieder viel Pferdefleisch als Rinderfilet verkauft wird.«

»Meine Köchin sagt, det is allens ejal, wenn man nich die Droschkennummer rausschmeckt.«

»Man könnte in Schwermut verfallen«, stöhnte Dorothea Abendroth.

»Du bist doch nicht Sissi.« Die schöne Kaiserin, 42 Jahre alt, litt an Schwermut.

»Hör auf, darüber spottet man nicht. Sie feiern doch in diesem Jahr ihre Silberhochzeit.«

Hertha Mahlgast wechselte das Thema. »Hast du schon die Züricher Novellen von Gottfried Keller gelesen?«

»Nein. Der grüne Heinrich war mir damals zu langatmig. Wie Schweizer eben sind. Da ist doch Dostojewski von ganz anderem Temperament. Mein Buchhändler will mir so schnell wie möglich Die Brüder Karamasow besorgen.« Und Dorothea Abendroth hatte noch eine andere kulturelle Neuigkeit zu vermelden. »Bruckner soll eine neue Symphonie haben, die 6., in A-Dur. Und wir haben schon …«

Sie brach ab, denn in diesem Augenblick kam ihr Mann mit Werner Siemens an der Seite auf sie zu. Sie war sehr befangen, als ihr der berühmte Erfinder und Fabrikant vorgestellt wurde. Da ihr die Worte fehlten, nahm sie zu Goethe Zuflucht und bemühte den Schüler aus dem Faust, wenn auch ein wenig abgeändert: »Ich bin heute nach Moabit gekommen, um einen Mann zu hören und zu kennen, den alle mir mit Ehrfurcht nennen. Mein Erich ganz besonders.«

Werner Siemens war ein zu sachlicher Mensch, als dass er mit der Gattin eines seiner Untergebenen einen Dialog geführt hätte, wie man ihn aus französischen Theaterstücken gewohnt war. Die Sätze zu drechseln war ihm zu mühsam. Er brauchte seine Energien für anderes.

Er beließ es daher bei einer knappen Verbeugung. »Ihre Worte ehren mich, Gnädigste, aber was Ihren Mann betrifft, so weiß ich ihn auch ohne Ihre Schmeichelei zu schätzen. Ich darf mich bei dieser Gelegenheit auch gleich bei Ihnen dafür entschuldigen, dass Sie ihn in nächster Zeit womöglich seltener zu Hause sehen werden als bisher, denn er ist von der Idee eines Netzes elektrischer Schnellbahnen für Berlin ebenso fasziniert wie ich, und nachdem vor einem Jahrzehnt meine ersten Pläne in den Papierkorb der Obrigkeit gewandert sind, werden wir in nächster Zeit unsere Bemühungen verstärken, um zum Zuge zu kommen. Dies im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich zum elektrisch angetriebenen Zug. Unsere Bahn hier«, er zeigte auf die kleine Bahn, die ohne Unterlass ihre Runden drehte, »unsere Bahn hier gibt ja zu den schönsten Hoffnungen Anlass.«

»Meinen herzlichen Glückwunsch dazu«, sagte Hertha Mahlgast. »Und mich freut das ganz besonders, war es doch mein Schwager, der an ihrer Entwicklung maßgeblich beteiligt war.«

Werner Siemens überlegte einen Augenblick. Dann verdüsterte sich sein Gesicht. »Sie meinen Germanus Cammer?«

»Ja.«

»Schrecklich! Er ist und bleibt verschwunden. Sie können versichert sein, dass ich all meine Beziehungen zur Polizei habe spielen lassen, um sein Schicksal aufklären zu lassen, doch vergeblich. Dabei hätte ich ihn so gern dabei, wenn wir zur nächsten Attacke gegen Baurat Hobrecht blasen.«

Vier
1880

James Friedrich Ludolf Hobrecht war ein Mensch, der allein schon wegen seines Geburtstages etwas ganz Besonderes war, hatte er doch zu Silvester das Licht der Welt erblickt, genauer gesagt am 31. Dezember 1825. Dies war in Memel geschehen, dem vorgeschobenen Außenposten Preußens. Zur höheren Schule war er dann in Königsberg gegangen, ohne aber auf dem Collegium Fridericianum das Abitur zu schaffen. Irgendwie stand er immer im Schatten seines älteren Bruders. Beider Schicksal aber hieß Berlin.

Als sie es im jugendlichen Alter zum ersten Mal besuchten, stank es in der preußischen Metropole erbärmlich. Das lag daran, dass alle häuslichen und gewerblichen Abwässer sowie der Regen in Rinnsteinen entsorgt wurden, die bis zu einem Meter breit waren und einen Meter tief zwischen Straßenrand und Bürgersteig verliefen. Die Bürger hatten sie auf Brettern und Bohlen zu überwinden. Für die Fäkalien gab es zwar Abtritte auf den Hinterhöfen, aber die wurden nicht immer wie vorgeschrieben abgeschöpft, denn die Brühe in besondere Jauchewagen umzufüllen und vor die Stadt zu schaffen war äußerst lästig. Viel einfacher war es da, die Nachteimer heimlich in den Rinnstein zu entleeren. Müll und Abfall kamen hinzu. Gab es dann starken Regen, liefen die Rinnsteine über, und in der ganzen Stadt breitete sich ein fürchterlicher Fäulnisgestank aus. Ratten huschten auch am Tage über die Straße. Die Spree, in der sich schließlich alles sammelte, war zu einer großen Kloake geworden, und das Grundwasser war so unrein, dass die Infektionskrankheiten ständig zunahmen und Seuchen wie Typhus und Cholera drohten.

»Dass die Berliner selber nicht merken, was ihre Stadt für ein Drecknest ist«, sagte James.

Arthur lachte. »Die sind so, dass sie einen von außerhalb brauchen, der die Dinge wieder in Ordnung bringt.«

»Ja, dich.«

»Nein, dich.«

Schließlich waren sie beide es, die diese Aufgabe übernehmen sollten, der eine, Arthur, als Berliner Oberbürgermeister von 1872 bis 1878, der andere, James, als Stadtbaurat. Eine moderne Kanalisation für Berlin, das war eine Vision von ihm, eine funktionsgerechte und lebenswerte Stadt eine andere.

Am 1. April 1845, als Zwanzigjähriger also, kam James Hobrecht nach Berlin. Die Primarreife hatte er geschafft und eine Feldmesserausbildung abgeschlossen, nun begann er an der Allgemeinen Baufachschule der Bauakademie sein Studium. 1849 legte er sein Examen als Bauführer ab und trat dem Architektenverein bei. So sehr hing er dann doch nicht an Berlin, dass er seinetwegen eine lukrative Stelle ausgeschlagen hätte, und so zog er nach Stettin, weil man an der Oder jemanden suchte, der eine großstädtische Stadtentwässerung aufbauen sollte. Von 1862 bis 1869 arbeitete er in Stettin und wurde dort zum königlichen Baurat ernannt.

Auch in Berlin hatte man derweilen nicht geschlafen. Besonders Rudolf Virchow, 1821 in Pommern geboren, hatte die Leute aufgerüttelt. Hauptberuflich als Pathologe an der Charité tätig, war er sowohl Mitbegründer der liberalen Deutschen Fortschrittspartei als auch Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung und forderte ständig den Bau von Krankenhäusern für die unteren Stände sowie die Beseitigung der hygienischen Missstände bei der Abwasserentsorgung. Anhand der Erfahrungen, die man in der englischen Stadt Croydon gemacht hatte, wies er den Zusammenhang zwischen der Anzahl von Typhus-Toten und dem Grad der Kanalisierung nach.

Seine Gedanken brachten den Baumeister Friedrich Eduard Salomon Wiebe dazu, dem Berliner Magistrat einen detaillierten Entwurf für die Planung eines Kanalisationsnetzes vorzulegen. Von Hause aus war Wiebe Mathematiker und Physiker und hatte sich beim Ausbau des Eisenbahnnetzes vom Rhein bis nach Ostpreußen einen Namen gemacht. Die größte Gefahr für die Gesundheit der Berliner sah er in den Abtrittsgruben, die selten und meist nur unzulänglich geleert wurden. Sie waren durch Wasserklosetts zu ersetzen, wie er sie auch in England und Frankreich kennengelernt hatte, und die Entsorgung der Fäkalien wie des Regenwassers sollte nicht mehr mittels der nach oben offenen Rinnsteine erfolgen, sondern durch Rohrleitungen und Kanäle tief unter der Straße. Unterhalb von Charlottenburg sollte dann das angesammelte Abwasser in die Spree abgeleitet werden.

1860/​61 hatte Wiebe seine Pläne entwickelt, aber das Vorhaben sollte in den nächsten zehn Jahren nicht recht vorankommen, weil zum einen die Berliner nicht willens waren, für die Hausanschlüsse zu zahlen, und zum anderen Stimmen laut wurden, die meinten, dass es nicht anginge, die Spree zum Abwasserkanal zu machen. Viel klüger sei doch die Feldberieselung, also die Abwässer nach mechanischer Grobreinigung auf Felder weit außerhalb der Stadt zu pumpen. Dort konnten Sand und Pflanzen die Schmutz- und Dungstoffe herausfiltern und die im Erdreich befindlichen Mikroorganismen die Abwasser biologisch reinigen.

Um die Sache voranzutreiben, beauftragten die Berliner Behörden James Hobrecht, der auf einem eigens dafür gepachteten Gelände Feldversuche zur Verrieselung anstellen sollte. Als diese zur Zufriedenheit des Magistrats verliefen, wurde James Hobrecht 1869 zum Chefingenieur der Berliner Kanalisation ernannt. Er übernahm Wiebes Ideen, wobei er jedoch die zentrale Einleitung der Abwässer in die Spree durch ihre Verbringung auf eine Reihe von Rieselfeldern ersetzte. In seinem Gutachten plädierte er für die Einrichtung mehrerer autarker Kanalnetze, sogenannter Radialsysteme. Zwölf dieser Systeme sollten, jeweils mit einem eigenen Pumpwerk versehen, über das Stadtgebiet verteilt installiert werden.

Berlin stand ein gewaltiger Kraftakt bevor, und nach langen politischen Diskussionen bildete die Stadt Berlin 1873 eine Baukommission, deren Leitung Rudolf Virchow und James Hobrecht übertragen wurde. Im selben Jahr noch begann man, Hobrechts Pläne umzusetzen. Die Stadt Berlin kaufte die Güter Osdorf und Friederikenhof, um dort Rieselfelder anzulegen. Ende 1878 wurde das erste Radialsystem mit 2415 angeschlossenen Grundstücken und einer Fläche von rund 390 Hektar in Betrieb genommen, und bis 1881 sollte die gesamte Berliner Innenstadt mit knapp 10 000 Hausanschlüssen kanalisiert sein.

Aber nicht nur die Berliner Kanalisation lag James Hobrecht am Herzen, sondern auch die sinnvolle Strukturierung der wild wuchernden Stadt und der ringsum liegenden selbständigen Gemeinden, deren Größe vom vergleichsweise riesigen Charlottenburg bis zum kleinsten Dörfchen reichte. Berlin war ein Flickenteppich. Fabriken wie die von August Borsig oder Louis Schwartzkopff wurden gegründet, aber es gab für sie keine richtige Infrastruktur. Sandwege, Stadtmauer und fehlende Bahnanschlüsse verhinderten eine weitere Expansion. Und wenn die Arbeitskräfte von den Feldern in die Werkhallen abwanderten, dann mussten sie einigermaßen menschenwürdig untergebracht und in die Lage versetzt werden, in annehmbarer Zeit ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Straßen waren zu bauen, Bauordnungen mussten erlassen werden, und nach einem vernünftigen Gleichgewicht zwischen Wohnen, Gewerbe, Erholung und Verkehr war zu suchen. Dieses Werk sollte nun James Hobrecht in Angriff nehmen.

»Ich will keine große, zentrale Stadt, bei der alles auf das Schloss ausgerichtet ist«, erklärte er seinem Bruder. »Mein Ziel sind einzelne Stadtteile, in denen sich ein Mensch heimisch fühlen kann. Kleine Straßen und Plätze sollen das Leben bestimmen, und ein Karree soll für einen Park freigehalten werden.«

Arthur Hobrecht war nicht ganz so begeistert von dieser kleinteiligen Lösung. »Wie sollen wir da mit Paris konkurrieren können? Wo sind die Champs-Élysées?«

»Magistralen brauchen wir auch, die den Verkehr aufnehmen, da muss ich dir recht geben. Die sollen dann durch breite, ringförmig angelegte Straßen miteinander verbunden werden.«

»Und die Industrie?«, fragte der Bruder.

James Hobrecht hatte da seine Vision. »Die großen Fabriken gehören vor die Stadt, sonst setze ich aber auf die Berliner Mischung.«

Arthur lachte. »Hört sich nach Bonbons an.«

 

»Gemeint ist: Keine Separation der einzelnen Lebensbereiche, sondern Arbeiten und Wohnen an einem Ort – und dies in einer echten Gemeinschaft.« James Hobrecht wollte mit seiner Idee die Klassengegensätze aufheben, zumindest aber die sozialen Spannungen mindern. »In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen über denselben Hausflur in die Freischule wie die Rats- oder Kaufmannskinder, die auf dem Weg ins Gymnasium sind. Schusters Wilhelm aus der Mansarde und die bettlägerige Frau Schulz im Hinterhaus, deren Tochter durch Nähen oder Putzarbeiten den notdürftigen Unterhalt besorgt, werden im ersten Stock bekannte Persönlichkeiten. Hier gibt es einen Teller Suppe zur Stärkung, da ein Kleidungsstück, dort die wirksame Hilfe zur Erlangung freien Unterrichts oder dergleichen und alles das, was sich als Resultat der gemütlichen Beziehungen zwischen den gleichgearteten – wenn auch noch so verschieden situierten – Bewohnern herausstellt, eine Hilfe, welche ihren veredelnden Einfluss auf den Geber ausübt. Und zwischen diesen extremen Gesellschaftsklassen bewegen sich die Ärmeren aus dem zweiten oder vierten Stock, Gesellschaftsklassen von höchster Bedeutung für unser Kulturleben, der Beamte, der Künstler, der Gelehrte, der Lehrer und so weiter, und wirken fördernd, anregend und somit für die Gesellschaft nützlich. Und wenn es nur ihr Dasein und stummes Beispiel für diejenigen wäre, die neben ihnen und mit ihnen untermischt wohnen.«

Der Bruder lächelte. »Du mit deiner Sozialromantik.«

»Nenne es Utopie, aber die Menschheit wäre am Ende, wenn es keine Utopien mehr geben würde.«

Jetzt lächelte Arthur Hobrecht nicht nur, jetzt grinste er. »Schlimm wird es nur, wenn ein anderer auch seine Visionen hat und sich die beiden Visionen überhaupt nicht vertragen.«

»Wen meinst du damit?«

»Diesen Siemens. Er wird dich in den nächsten Tagen heimsuchen. Ich beneide dich nicht.«

Berthold Blumenthal war mit Leib und Seele Beamter. Für ihn stand fest, dass jeder Mensch von Natur aus ein Tier war, das gezähmt werden musste – und dies schaffte nur ein starker Staat mit seinen Gesetzen und einem Apparat, der imstande war, diese Gesetze auch durchzusetzen und die zu bestrafen, die gegen sie verstießen. Aber noch etwas hatte der Staat mit seinen Beamten zu leisten: die Sorge für die Bürger, die im Leben zu kurz gekommen waren oder für ihre Arbeit zu wenig Lohn bekamen. Das war Blumenthals soziale Ader, und nicht umsonst hing er sozialdemokratischen Werten an, ohne sich indes offen zur Sozialdemokratie zu bekennen – wollte er doch auch Karriere machen. Er war kein ausgesprochener Gegner der Monarchie – schließlich stabilisierten Kaiser und König die deutsche Gesellschaft –, aber eine Republik mit demokratisch gewählten Führern hätte er ihr allemal vorgezogen. Seine klammheimliche Sympathie galt der Pariser Kommune, gleichzeitig hatte er aber auch Angst vor jeder radikalen Umwälzung. Jede legal zustande gekommene Hierarchie war eine heilige Sache für ihn, und was auch immer sein Vorgesetzter von ihm verlangte, er führte es aus, ohne zu räsonieren, sofern es nicht gegen die Gesetze verstieß. Anders konnte eine Bürokratie nicht funktionieren.

Er war im Jahre 1840 im havelländischen Nauen als Sohn des Stadtkämmerers geboren worden und hatte nach seiner Zeit beim Militär in Berlin mit heißem Bemühen, aber wenig erfolgreich versucht, Architektur zu studieren. Nach einem kräftigen Donnerwetter seines Vaters war er schließlich zur Jurisprudenz gewechselt, ohne jedoch die geringste Affinität zum Amt des Richters oder des Staatsanwalts zu entwickeln, auch Advokat mit eigener Kanzlei wollte er nicht werden. Ein Studium der Nationalökonomie wäre ihm lieber gewesen, aber das hätte sein Vater nicht unterstützt. Dessen Kontakte hatten ihm schließlich zu einer Planstelle bei der Berliner Magistratsverwaltung verholfen. Nach einer gewissen Rotation zu Beginn seiner Laufbahn war er schließlich als Referent im Stadtbauamt gelandet und galt als rechte Hand von James Hobrecht.

Verheiratet war er mit Magdalena, der Tochter eines evangelischen Pfarrers. Es war eine gute Ehe, obwohl seine Frau ihm ab und an ein wenig zu sehr frömmelte. Vier Kinder hatten sie, drei Knaben und ein Mädchen, ihre Elisabeth, das Nesthäkchen.

Sie wohnten in einem alten, aber gerade renovierten kleinen Haus in der Kurstraße, das ihnen von einer Tante vererbt worden war.

Wie so oft kam auch an diesem Abend sein Bruder zu Besuch. Theodor, zwei Jahre älter als Berthold, war Redakteur von Beruf und hatte sich in den letzten Jahren mehr und mehr der Politik verschrieben. Als junger Mann hatte er sein Elternhaus verlassen, um zur See zu fahren. Alles war ihm zu eng gewesen und drohte ihm den Atem abzuschnüren. »In Nauen das Grauen!«, hatte er ausgerufen. Bald hatte er aber die Erfahrung machen müssen, dass ein Landarbeiter in Preußen, so elend dessen Existenz auch sein mochte, immer noch besser lebte als ein Matrose auf einem Segelschiff. Wir werden gehalten wie Galeerensklaven, schrieb er an seinen Bruder. In New York stahl er sich dann von Bord, um sein Glück in den Vereinigten Staaten zu machen. In einer deutschen Tischlerei in Milwaukee stieg er auch schnell vom Hilfsarbeiter zum Prokuristen auf, schaffte es aber nicht, sich bei Beginn des Bürgerkrieges vom Wehrdienst freizukaufen, und flüchtete über die Grenze nach Kanada.

Nach Preußen zurückgekehrt, schloss er sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an, die 1869 in Eisenach unter der Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründet worden war. Lange Zeit machte man Front gegen Ferdinand Lassalles Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, stimmte aber im Mai 1875 in Gotha doch für die Vereinigung beider Parteien zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Theodor Blumenthal brachte es aufgrund seiner organisatorischen Fähigkeiten und seiner rhetorischen Begabung bald zum Funktionär und Abgeordneten. Am 19. Oktober 1878 aber billigte der Reichstag mit 221 gegen 149 Stimmen das von Kaiser Wilhelm I. erlassene »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«. Jeder, der verdächtigt wurde, mit den Sozialdemokraten zu sympathisieren, konnte verfolgt und verhaftet werden. Die neun sozialdemokratischen Abgeordneten durften zwar ihr Reichstagsmandat weiterhin ausüben, der Partei waren jedoch alle Versammlungen verboten.

Theodor Blumenthal war heute so fröhlich, dass sein Bruder aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam.

»Du, du wirst lachen, aber die Arbeit im Untergrund macht Spaß. Hier, lies das mal!« Er schob Berthold einen engbeschriebenen Bogen hinüber.

»Was ist denn das?«

»Ein Polizeibericht.«

»Wie kommst du denn an den?«

»Man hat so seine Beziehungen.«

Berthold Blumenthal überflog den Text.

Was die Organisation der Sozialisten anbelangt, so werden hier täglich an den verschiedensten Orten, in Privatwohnungen, Werkstätten, auf Spaziergängen, in Schanklokalen, oft sogar in dunklen Räumen, kleine Zusammenkünfte von sechs bis sieben Personen abgehalten, bei denen Mitteilungen und Anweisungen von den bald hier, bald dort erscheinenden Führern gemacht resp. erteilt werden. Man errichtet Lesezirkel, Gesangsvereine, arrangiert Tanzkränzchen. Alles zu dem Zweck, um unter der harmlosen Maske einer geselligen Unterhaltung ernste Beratungen über Parteiangelegenheiten pflegen zu können.

»Wie findest du das?«, fragte Theodor Blumenthal.

»Bebel hat recht, das Sozialistengesetz wird euch entscheidend stärken.«