Buch lesen: «Jahre mit Camilla»

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Helmut H. Schulz

Jahre mit Camilla

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Von Helmut H. Schulz bei uns als eBook erschienen

Impressum neobooks

1

Der Himmel an jenem Tage war ungeheuer hell und hoch. Durch das Fenster des Restaurants konnte ich auf die Pisten sehen, zwei Antonows sah ich, eine IL. Ihr Silber glänzte in einem warmen, zuverlässigen Blau.

Das Flugpersonal der einen Antonow saß am Nebentisch. Die Männer tranken Kaffee, rauchten Zigaretten und sprachen leise miteinander. Ich verstand nicht, was gesprochen wurde. Der eine mochte vierzig sein. Er hatte ein länglich-ovales Gesicht mit spitzem Kinn und schmaler glatter Stirn. Die Lidspalten waren schräg gestellt und mandelförmig. Auffallend kleine Hände mit Nägeln, deren Grundton heller war als die gebräunte Haut der Finger und des Handrückens, bemerkte ich. Dagegen waren die Innenflächen der Hände fleischfarben. Wie kalte Flammen wirkten die erschreckend blauen Augen des Mannes, den etwas Fremdartiges, Kreolenhaftes auszeichnete. Trotz der hellen Augen ähnelte sein Gesicht den Porträts El Grecos. In seinen Augen spiegelten sich der helle Himmel und das bläuliche Silber der Maschinen. Er erweckte den Eindruck hochgradiger Zivilisierung, und doch vermutete ich in ihm den kühl berechnenden Angreifer. Die übrigen Mitglieder seiner Crew fielen neben ihm kaum auf.

Es war eine eigenartige Atmosphäre. Draußen dröhnten die Aggregate, drinnen klingelten Löffel an Tassenränder.

Bis zur Abfertigung für den Flug war noch Zeit. Ich reise gern. Die schnelle, mühelose Bewegung beruhigt mich, aber ich komme nicht gern an. Ich versuchte, zu arbeiten. Ich versuchte, nicht wirklich zu arbeiten. Dazu wäre ich nicht fähig gewesen. Allzu sehr fesselten die Vorgänge drinnen und draußen meine Aufmerksamkeit. Zu wirklicher Arbeit fehlten die Telefone auf meinem Schreibtisch, das Hacken der Schreibmaschine im Vorzimmer. Unsere Bereichssekretärin würde an diesem Tage mehr als ein dutzendmal sagen, der Doktor ist in Urlaub, oder, Kalender ist nicht da, oder einfach, das Nashorn kommt voraussichtlich erst nächste Woche, wieder.

Der Pilot drückte die Zigarette aus. Er winkte der Kellnerin. Unwillkürlich lächelte ich ihm zu, aber er sah mich nicht an. Er sah durch mich hindurch. Für ihn war ich ein Fluggast, den er zu befördern hatte. Diese Arbeit wurde von ihm verlangt, und er tat sie offenbar gut. Dafür sprach der Respekt, mit dem ihn die Kellnerin bediente.

Mein Platz war, auf der rechten Seite. Durch das Bordfenster hatte ich das Antriebsaggregat zum Greifen nahe. Wenn ich mich vorbeugte, konnte ich sogar, das stelzengerade Fahrwerk sehen. Vor mir befand sich die Cockpitrückwand aus einem blauen, geäderten Material, wie es die moderne Chemie aus der Retorte zaubert: hart, unelastisch, säurefest, nicht brennbar, leicht. Über mir im Gepäckfach lagen Tageszeitungen. Gewohnheitsgemäß blätterte ich sie durch.

Als ich die Sicherheitsgurte anlegte, rollte die Maschine zur Startbahn. Ich lutschte, den ekelhaften säuerlichen Bonbon, der den Haushalt meines Magens regelmäßig durcheinanderbringt. Dann gab der Pilot Vollgas. Die Maschine hob ab. Wir stießen in den hellen, hohen Himmel, dessen Ende wir doch nicht erreichen würden, wir, ein winziges, fliegendes Präzisionspartikelchen, dessen, einige Tausend Meter Reisehöhe im Zeitalter der Raumschiffe kaum mehr als, ein Luftsprung waren.

Hinter Prenzlau zogen sich weite weiße Flächen unter unserer Maschine hin. Sie sahen aus wie Gletscher, veränderten kaum ihre, Form. Die Maschine lag vollkommen ruhig. Eine Zeit lang glaubte ich, wir stünden still in der Luft, während unter uns eine polare Landschaft abrollte, während Sonnenstrahlen hart und grell in den Passagierraum fielen.

Die Maschine durchstieß die Wolkendecke, und die kompakte weiße Masse erwies sich als Wattegebilde, das von der Antonow mühelos zerteilt wurde. Unten tauchte die Landepiste aus dem Dunst, ein glattes Band mit Seitenmarkierungen und einem spielzeughaft kleinen Flughafengebäude. Ich stellte fest, dass die Fahrwerke bereits ausgefahren waren, und so sicher arbeitete der Pilot, dass die Gummiräder genau auf dem Pistenanfang aufsetzten, wo die Grasnarbe endet und das Rollfeld beginnt. Ein scharfes radierendes Geräusch übertönte den Motorenlärm, dann ging ein leichter Ruck durch die Maschine. Ich konnte das Aufsetzen mehr sehen als spüren. Sekundenlang standen die Räder, ehe sie die Bewegung aufnehmen konnten. Die Antonow verlor an Geschwindigkeit.

Fischland bot das gewohnte Bild, an den Boden gekauerte Häuser mit Strohdächern, Möwen verschiedener Arten, mannshoher meergrüner Sanddorn. Die Natur ist hier sparsam mit Farben umgegangen. Grau überwiegt an den gewöhnlichen Tagen, aber es war kein gewöhnlicher Tag, der Höhenwind konnte die Wolkenmassen kaum bändigen. Sie strebten, sich dauernd verändernd, nach den Seiten und in die Höhe. Eine Weile beobachtete ich das Spiel des Windes mit den Wolken. Ich berührte die skalpellartigen Blätter des Sanddorns. Sie waren trocken und hart.

Das Haus, in dem ich regelmäßig meinen Urlaub verbrachte, passte sich der Umgebung an, nur stand es mehr aufrecht, nicht so hingeduckt und ich empfand, dass es weniger zur Landschaft gehörte als die Fischerhäuser. Es wirkte unecht oder nachgemacht. Missgestimmt und nervös, wie immer am ersten Tag auf dem Fischland, drückte ich den Klingelknopf und wartete auf die alte Frau, die für die Gäste sorgte. Eine junge Gestalt kam den Weg zur Gartentür herunter. Ich dachte, dass die Hausbesorgerin erstaunlich leichtfüßig geworden sei. Ich hatte sie anders in Erinnerung. Vielleicht hatte ich ihr nie genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Erst als wir uns gegenüberstanden, sah ich meinen Irrtum. Es war nicht die Hausbesorgerin. Es war eine junge Frau oder noch ein Mädchen. Sie war in eine viel zu große weiße Schürze gewickelt. An den Füßen trug sie Turnschuhe. Ich registrierte ein rundes Gesicht, Lippen von natürlichem leichten Rot, einem Rot, das sich bis in das Gesicht hinein fortsetzte. Ich registrierte Haar von verschiedenem blond, sehr dichtes, kräftiges Haar und Augen von der Farbe des Sanddorns. Und dann war noch der hohe helle Himmel in dem Gesicht, der Himmel des Fischlandes.

Sie stand da und wartete. Nur ihr Gesicht war rot. Die Haut ihrer Arme erinnerte an die Farbe rauchigen Bernsteins.

«Ich wollte zu Frau Klaas.»

Vielleicht hätte mich in meinem Büro die Erscheinung des Mädchens ganz unberührt gelassen. Meine Beziehungen zu Frauen sind stets lose gewesen, sie dauerten vom Beginn des Studienjahres bis zur ersten Zwischenprüfung. Nach meiner Studienzeit, als ich bei Rickweiler arbeitete, kam Sigrid, aber unsere Zeit lief ab. Ich merkte es daran, dass ich mich bei ihr den Spannungen überließ, die ich tagsüber voll beherrschte. Das führte zu unerfreulichen kleinlichen Auseinandersetzungen zwischen uns.

«Kommen Sie herein. Meine Mutter ist zur Kur in Heiligendamm. Ich soll mich um Sie kümmern.»

Ihre Stimme war tief und klangvoll.

Etwas Rundliches, Mütterliches lag in ihrer Gestalt. Während sie meinen Handkoffer trug, stellte ich mir die nächsten Tage mit ihr vor. Sie würde Ansprüche stellen. Das gab sie durch eine gewisse unverhohlene Neugier zu erkennen.

Im Wohnzimmer war für zwei gedeckt. Kaffeekanne und Eier steckten unter Wärmemützen. Servietten lagen bereit, Butter und frische Brötchen. Im Vorbeigehen erblickte ich einen Mann im Spiegel. Er hatte ein rundes, unsympathisches Gesicht und tuscheschwarze blau geränderte Augen hinter scharfen Brillengläsern. Er trug Perlonhemd, Krawatte und einen unauffälligen grauen Anzug. Das zusammen würde mich vor einer Dummheit schützen, glaubte ich.

Unmöglich, sich an die ersten Tage mit Camilla zu erinnern, ohne diesen Abend zu erwähnen.

Auf dem Tisch standen fahlgrüner Sanddorn, blaue Stranddisteln und ein paar Halme Wollgras. Auf der breiten Sitzcouch kauerte Camilla. Wo sie war, breitete sich sofort eine ungezwungene Schlamperei aus. Eine Kerze brannte, nur eine. Camilla tat nie etwas zu viel. Sie konnte sich über den dürftigsten Grashalm freuen. In ihren Augen spiegelte sich die Kerze. Mit den Händen drückte sie ein Kissen an die Wange. Sie schwieg, aber sie beobachtete mich.

«Trinken Sie doch», sagte ich.

Langsam griff sie nach dem roten Wein, der zu rot war für die blassen Farben des Fischlandes. Sie trank hastig, mit zurückgelegtem Kopf, wie Kinder trinken oder wie jemand, dem Weingenuss ungewohnt ist.

Der rote Wein passte nicht hierher, er gehörte in eine Landschaft, in der Blau, Gelb und Rot schmerzhaft aufeinanderprallen.

«Sie sollen unerhört klug sein», eröffnete sie, noch mit leichter, zurückhaltender Ironie.

Müde nach einem langen Tag am Strand, hatte ich keine Lust mich einem Gespräch zu stellen.

«Ich bin Physiker», sagte ich.

«Aber schweigsam sind Sie.»

Ein Kissen genügte ihr nicht. Sie stopfte ein zweites unter das erste und zog die Beine an. Sie verschwanden ganz unter der weißen Wickelschürze, die ihr das Aussehen einer Krankenschwester gab.

«Erzählen Sie doch etwas».

Ich wusste schon, dass sie gern lachte und gern sang, mit einer erstaunlich tiefen und kräftigen Stimme.

Die Kerze vertropfte ihr Stearin.

Ich dachte, es wäre ein Abend, zum Nachdenken, und es wäre das Beste, den Mund zu halten, weder klug noch dumm zu sein, einfach dazusitzen und zu schweigen.

«Sind Sie verheiratet?»

Wohinaus wollte sie? Suchte sie eine Geschichte? War sie klatschsüchtig oder bloß neugierig? Ich zuckte die Schultern, aber ihre Gedanken waren bereits weitergelaufen.

«Ob das immer, so war mit Liebe und Familie?»

Ich hielt einen langen und trockenen Vortrag, über den Ursprung der Familie. Ich erzählte, was mir aus der Engels-Schrift einfiel. Ich redete mit dem unsicheren Gefühl des Laien, der gezwungen ist, über einen Gegenstand zu sprechen, den er nicht gut kennt. Zum Schluss machte ich den Verstoß wieder gut, indem ich ihr riet: «Engels hat darüber geschrieben. Sie sollten es nachlesen.»

«Ich werde es nachlesen», sagte sie spöttisch.

Sie setzte ihre Prüfung fort. «Was kommt nach dem Kommunismus? »

«Das weiß ich nicht. Wir sind noch ziemlich weit entfernt, von einer vernünftigen Weltordnung.»

«Gut. Und danach?»·

«Wir beschäftigen uns mit dem Vorhersehbaren.»

Unzufrieden schüttelte sie den Kopf. «Also, was kommt danach?»

Auf ihren Wangen glühte der rote Wein. Die dunkelbewimperten Augenlider bewegten sich kaum merklich.

«Ist noch Wein da?», fragte sie.

Es war noch Wein da. Ich goss unsere Gläser voll und legte ihr eine Decke um die Füße. Sie dankte nicht. Sie nahm es als selbstverständlich hin.

Es war selbstverständlich.

Plötzlich dachte ich an zu Hause. Die Wohnung im Hochhaus war bequem, die Wände waren dünn. Neben mir wohnte ein Soziologe, der bis in die Nacht hinein seine Schreibmaschine bearbeitete. Es hätte mich interessiert, woran er arbeitete, aber wir standen schlecht miteinander.

«Robert, was machen Sie morgen?»

Ich würde an den Strand gehen wie jeden Tag.

«Und wenn Sie vormittags einkaufen gingen?»

Seit zwei Tagen ging ich früh ins Dorf einkaufen und kehrte mit gefüllten Netzen wieder zurück, ehe ich mich in den Strandkorb setzen konnte.

Ich nickte.

«Und bringen Sie Rotwein mit. Wir haben keinen mehr im Haus.»

Ich liebe den schweren sauren Wein, der wie frisches Brot duftet.

«Und lassen Sie sich nicht wieder fettes Fleisch andrehen.»

«Sonst, noch was?», brummte, ich.

«Das übrige schreibe I ich Ihnen lieber auf.»

Meinem Gedächtnis traute sie nicht. Es war genau so gekommen, wie ich es vorausgesehen hatte.

«Ich habe noch nie soviel Wein getrunken wie in diesen Tagen.»

Gut bekam ihr der schwere rote Wein, und mir bekam er auch gut. Ich schwamm eine halbe Stunde täglich im Meer. Sonst lag ich faul herum. Trotzdem ermüdete das Reizklima sehr.

«Ruhen Sie sich auch wirklich aus?», fragte sie ironisch - besorgt.

«Doch.»

«Mir ist so ans Herz gelegt worden, auf Sie achtzugeben. Legen Sie eine Schallplatte auf, bitte.»

In dem Plattenstapel befand sich Bach, Händel. Ich hätte jetzt gern Barockmusik gehört, aber ich legte Jazz auf, weil sie gern Jazz hörte, ich ärgerte mich einen Augenblick lang über Camilla.

«Man kann sich nicht richtig mit Ihnen zanken», sagte sie nachdenklich. «Werden Sie nie laut? Geben Sie immer nach?»

Ich fand es verfrüht, sie über mich aufzuklären. Nicht umsonst trage ich meinen Spitznamen: das Nashorn.

Die Musik war jetzt ein verwirrendes Durcheinander von Trompete, Posaune und einem Instrument, das nach Altflöte klang. Eine beunruhigende Wirkung ging von diesem Chaos an Tönen aus.

«Ich gebe nach, weil ...» ja, warum gab ich Camilla gegenüber nach? Bis zu ihrer Frage hatte ich es nicht gewusst. Kein Zweifel, sie gefiel mir.

Dann legte ich wirklich das Brandenburgische Konzert auf. Während die abgezirkelten Motive und beinahe mathematisch behandelten Durchführungen aufklangen, brannte die Kerze herunter. Eine winzige Flamme schwamm in dem Rest Stearin.

Durch das geöffnete Fenster war die Brandung zu hören. Sie war stärker geworden.

Camilla streckte sich im Schlaf. Sie lag wie ein unordentliches Kind auf der Couch, aber ich wusste nur zu genau, dass sie kein Kind war.

Als ich das Deckenlicht einschaltete, erwachte sie.

«Entschuldigung», murmelte sie schlaftrunken.

Ich rauchte noch eine Pfeife vor der Tür. Im Flur blieb ich einen Augenblick stehen. Hier lagen leere Gepäckstücke, eine große Reisetasche fand ich. Auf dem Anhänger las ich, Camilla Veerden. Pädagogisches Institut Güstrow, Internat.

Camilla planschte mit bloßen Füssen im flachen Wasser. Die gelbliche Sonne mischte alle Farben eines mattgoldenen Tons bei. Das Meer, dieses große, sich ewig wandelnde Tier, war ruhig.

Ich trug ihre Turnschuhe, den Korb mit Muscheln und bizarr geformtes Holz. Beides suchte Camilla an diesem Tag.

«Was wollen wir mit diesem Zeug, Camilla?»

«Es sieht so komisch aus.»

Das verschiedenfarbige Haar fiel ihr in die Stirn. Die blonden, millimeterlangen Haare auf ihren Armen hielten glitzernde salzige Tropfen fest. Auf die weiße Wickelschürze hatte sie heute verzichtet. Sie stopfte den Rocksaum unter ihren Gürtel. Ihre Beine waren glatt, gebräunt und etwas zu kräftig. Mir fiel auf, dass ihr Gesicht immer von Anstrengung gerötet war, auch wenn sie nichts tat. Stets schien sie insgeheim mit etwas Schwerem beschäftigt.

Ich betrachtete die Muscheln, die Camilla sammelte. Keine besonderen Muscheln, es gab sie zu Hunderten.

Sie brachte einen salzwassergebleichten knotigen Strunk.

«Der sieht aus wie Sie. Hier, die Augen, die schwarze Brille, die kleine runde Nase.» Mit einem Schwung warf sie das Holz in den Korb. «Der geht mit.»

Ihr Gesicht wurde ernst oder traurig. Sie nahm das Holzstück behutsam aus dem Korb und betrachtete es aufmerksam.

«Sie sehen dem Holz doch nicht ähnlich», sagte sie lächelnd. Sie schien sicher, dass ich zurücklächeln würde, und ich lächelte zurück.

«Nun ja, gehen wir weiter», schlug ich vor.

Der Spaß schien ihr verdorben. Sie suchte keine Muscheln mehr, sondern zog aus ihrer Tasche eine Sonnenbrille und setzte sie auf. Hinter den dunklen Gläsern versteckt, konnte sie mich ungestört betrachten.

Ich grübelte darüber nach, weshalb sie anders hieß als ihre Mutter. Vielleicht war sie verheiratet? Ich verfiel auf die nächstliegende Variante: Sie war ein Findelkind.

«Haben Sie eigentlich Post von Ihrer Mutter?»

Es war ein schlauer Schachzug, schien mir. .Sie hätte jetzt sagen können, ja, sie schreibt, dass es ihr gut geht. Ich bin nicht ihre richtige Tochter, müssen Sie wissen.

«Nein», sagte sie.

Wir hatten den Gespensterwald erreicht. Ein Wald auf Stelzen. Tief hatte das Meer die Baumwurzeln unterhöhlt. Wie vorweltliche Ungetüme standen die Baumriesen auf Spinnenbeinen. Diesen Wald gibt es heute nicht mehr. Neue Deichanlagen haben gerettet, was zu retten war.

Camilla fand einen Fisch, der bei dem schwachen Seegang nicht ins Wasser zurück konnte, ein bunt gefärbtes handlanges Vieh, das nur aus einem gefräßigen Maul bestand.

«Werfen Sie doch das scheußliche Biest weg. Es ist sicherlich giftig.»

«Es ist ein Meerteufel aber nicht giftig.»

«Doch, natürlich ist er giftig.»

Übrigens war ich nicht sicher, ob der Fisch Giftstacheln hatte. Bösartig genug sah er aus. Jedenfalls sollte er nicht in den Korb.

«Unsinn, Herr Doktor. Was verstehen Sie von der Natur?»

Ihre Bemerkung traf mich an einem wunden Punkt.

Sie lächelte herablassend. «Also, wenn Sie es wünschen.» Der Fisch flog im Bogen ins Meer. «Am Strand ist mit Ihnen gar nichts los.»

«Dann nehmen Sie mich gefälligst nicht mit.»

«Ich muss aber mit einem Menschen sprechen können», sagte sie heftig.

Ich sah voraus, dass wir uns streiten würden.·Es war lächerlich. Dieses Geschöpf und ich im Streit? Ich bin anfällig für einfache Informationen, wie Mensch, Liebe, Stille, Wort. Sie lösen klare, deutliche Vorstellungen in mir aus. Immer die gleichen.·

«Ich verstehe überhaupt nicht, warum wir uns zanken», lenkte ich ein.

«Ich schon. Weil Sie nicht aus sich herausgehen.»

Verstimmt stapfte sie vor mir her durch den feuchten Sand. Tief drückten sich ihre Spuren ein. Zum Glück brachte sie es nicht fertig, länger als fünf Minuten zu schweigen.

«Waren Sie schon einmal weit weg?»

«Oft.»

Interessiert blieb sie stehen und nahm die Brille herunter.

«Und?»

«Was und?»

«Sie müssen doch irgendetwas, gesehen oder gedacht haben?»

Ich hatte viel gesehen. Ich kannte die Region Kasachstan, ich kannte Bratsk, ich hatte riesige Wärmekraftwerke gesehen und transkontinentale Freileitungen an ungeheuren Stahlmasten. Ich berichtete von Staudämmen und Turbinen, wie es mir gerade einfiel.

Camilla wurde von einem Lachkrampf geschüttelt. Sie musste sich setzen.

«Sie sind zu komisch», gluckste sie. «Mehr als Staudämme und Kraftwerke haben Sie nicht gesehen?»

«Für Sie ist die Natur etwas Fertiges», sagte ich, «ein paar Halme Wollgras, ein Baumstrunk, ein Fisch. Der Physiker will die Natur beherrschen.»

«Trotzdem kann man sich darüber freuen», beharrte sie.

Wir redeten im Grunde über ganz verschiedene, Dinge. Natur betrachten und Naturgesetze anwenden ist zweierlei. Ich setzte mich neben sie. Das Licht zerfloss, man konnte in die Sonne sehen, ohne dass einem die Augen schmerzten. Sie stand jetzt eine Handbreit über dem Horizont.

Ich dachte: Warum kann man sich so schwer verständlich machen? Ich hatte auch mal eine Zeit, wo ich einen Fisch bewunderte. Ich fragte: Wie ist er organisiert? Ich trennte ein Stück Gewebe heraus, härtete es in Formalin, stellte mit dem Mikrotom Schnitte her, färbte sie ein und beobachtete unter dem Mikroskop die Zellstruktur. Was sich dort so starr anbot, das hatte gelebt, durch geheime Kräfte bewegt. Welche? Mit der Neugier fängt alles an.

Dann geschah etwas Überraschendes. Camilla beugte sich zu mir herüber und küsste mich flüchtig auf die Wange.

«Noch böse?»

Es gab keinen Grund, böse zu sein, es hatte nie einen gegeben.

Als wir zu Hause ankamen, dunkelte es. Im Briefkasten steckte ein Telegramm, Camilla nahm es heraus.

«Für mich?», fragte ich.

Schweigend presste sie den gelben Umschlag an sich. Plötzlich, ehe ich sie daran hindern konnte, knüllte sie den Umschlag zusammen. Ihre Faust hielt das Papier umklammert. Ich ging hin, nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen.

«Geben Sie mir das Telegramm», sagte ich.

Der Papierball glitt zu Boden. Ich hob ihn auf und öffnete ihn. Das Telegramm war von Rickweiler.

«Wann reist du ab?», fragte Camilla.

«Wahrscheinlich in ein paar Stunden.»

«Schade.» Mehr sagte sie nicht.

Wir aßen noch zusammen; tranken aber nicht mehr von dem schweren roten Wein. Zum Abschied wollte ich ausdrücken, dass ich es bedauerte, wegzumüssen, oder auch nicht bedauerte. Es war besser, allen Wirrnissen aus dem Weg zu gehen. Dann kam der Wagen. Mein Handkoffer war gepackt, die Aktentasche auch. Ich sah mich nicht um, als ich abfuhr.

Die Stille im Hause beruhigte. Und ich hatte Stille nötig nach einem Tag mit Camilla, einer sechsstündigen Autofahrt, einer Besprechung bei Rickweiler und seinem dünnen Tee. Auf meinem Schreibtisch befanden sich die beiden Lichtkegel der Arbeitslampe, Schreibpapier, Millimeterpapier und Rechenschieber, der glatte weiße Stab, das Klavier des Mathematikers.

Rickweiler hatte gesagt: Ich musste dich da oben wegholen. Ja, ich, weiß dein Blutdruck, aber ich brauche dich hier, wir müssen den Planvorschlag überarbeiten, er wurde zurückgewiesen.

Rickweiler hatte noch mehr gesagt, während er mir die Vorwürfe aufzählte, die ihm gemacht worden waren: uneffektive Planung, zu langsames Entwicklungstempo, zu geringe Berücksichtigung des Binnen- und Außenmarktes und dergleichen. Ich wusste, dass diese Kritik an unserer Arbeit stimmte. Rickweiler mochte ich von der ersten Stunde unserer Zusammenarbeit an.

Ich hatte die fantastische Vorstellung eines gedankenstrahlenden Rechners, der mit Lichtgeschwindigkeit Informationen verarbeitet. Ich dachte an integrierte, Schaltkreise, Hunderte Bauelemente auf einige Kubikmillimeter Silizium, und ich dachte an die bereits signalisierten bildlogischen Rechner. Der kühle weiße Stab zwang mich zur Konzentration auf meine Arbeit, aber die wunderbaren technischen Möglichkeiten zogen sich gerade bis an den Schreibtischrand zurück. Ich unterdrückte die kindliche Lust, eine Stunde lang nur für mich zu arbeiten. Rickweiler baut keine mikroelektronischen Elemente. Er versteht nur wenig davon. Rickweiler fing mit Radioröhren an und leitet den Teilbereich Dioden.

Es war halb zwei, als ich den Rechenstab auseinander schob. Einen Augenblick lang lauschte ich, ob der Soziologe nebenan noch schrieb. Ich war wütend entschlossen, ihm diesmal eine Szene zu machen, aber es war still. Vielleicht war es diese Stille, die mich noch einmal in das Traumreich des Unmöglichen zurück lockte oder eigentlich voran lockte. Versuchsweise wählte ich unter den Varianten die höchste aus, die nach meiner Kenntnis den gesamtwirtschaftlichen Vorgaben entsprochen hätte, für die aber unsere Produktionsbasis nicht ausreichte. Dann erst spielte ich die Varianten durch, die in unseren Möglichkeiten lagen. Das war typisch für mich, und ich glaube, es ist typisch für den Techniker, aber dieses Festhalten an bewährten Verfahren ist trotzdem kein bloßes Ausweichen. Der Kluge steigt nicht über den, Berg, er umgeht ihn, sagt ein russisches Sprichwort.

Zwei frische Pfeifen lagen auf dem Tisch, Tabak, gut ausgetrocknet, wie ich ihn gern rauche. Dazu trank ich einen teerartigen Aufguss aus Pulverkaffee und leichten, gut temperierten Weinbrand. Ich war durchaus nicht mehr erschöpft, im Gegenteil.

Ich arbeitete für Rickweiler. Es war seine Arbeit, die günstigste Variante durchzusetzen: Meine Arbeit war, ihm Varianten anzubieten. Ich mache den Plan nicht, ich analysiere und prognostiziere. Die volkswirtschaftlichen Kennziffern werden anderswo ermittelt.

Gegen fünf brühte ich mir Kaffee auf. Um halb acht rief Rickweiler aus dem Betrieb an, um acht ließ er mich abholen. Zusammen gingen wir, Rickweiler und ich, die Varianten durch. Ich war fertig. Ich hing auf dem Stuhl in Rickweilers Sitzungszimmer. Ihm war nichts anzumerken. Seine braune rissige Gesichtshaut war frisch, die Lippen waren fest und farblos. Ein bisschen Wärme leuchtete in seinen Augen. Wegen dieser Augen liebte ich Rickweiler.

Den Nachmittag arbeitete ich an Teilberechnungen, während Rickweiler mit den Produktionsleuten die Varianten beriet. Es war zwanzig Uhr, als er herauskam und mir ein Bündel Material auf den Tisch legte.

«Die mittlere Variante», sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Ich wollte dennoch widersprechen. Ich hielt einen höheren Ansatz für denkbar und auch für dringend notwendig, aber Rickweiler schnitt mir das Wort ab.

«Wann kriegen wir die Feinplanung? Sag mir deine Termine! Rickweiler setzte sich, schraubte seinen großen altmodischen Füller auf und begann zu notieren, was ich ihm ansagte. Er schrieb mit seiner raschen, starken Handschrift. Es war gegen zweiundzwanzig Uhr, als wir vor dem Werktor standen.

«Ich bring dich nach Hause.»

Wir fuhren die Hermann-Duncker-Straße entlang. In den Geschäften brannte Licht, die Straßen waren menschenleer. Rickweiler schaltete wenig. Er war ein guter Fahrer, ein sicherer Fahrer, aber langsam. Wir passierten die Brücke in Karlshorst.

«Wie war denn dein Urlaub?», wollte er wissen.

«Zu kurz. »

Obwohl ich müde war, fand ich keine Ruhe. Irgendetwas war los mit mir. In bunter Reihe reproduzierte mein Gehirn Bilder, die ich früher gesehen hatte. Ich sah den Diodensaal, die bizarr nach außen gestülpten Gummihandschuhe, eine Folge des Gasdruckes, unter denen die Montagekästen stehen; ich sah die weiß bekittelten Frauen des Saales, die Ätzbäder und Lötgeräte und die Grundmaterialien in zwergenhaften Abmessungen. Wie ein stummer Film liefen die Bilder ab. Sie hatten etwas Sinnloses, Konfuses, sie schienen darauf zu warten, nach einem besseren Prinzip geordnet zu werden. Und wer konnte dieses bessere Prinzip finden? Rickweiler? Sewarth? Oder ein anderer?

Ein Bild aus meiner Studienzeit entstand. Der dozierende Professor war ein mittelgroßer Mann in zweireihigem Anzug mit großer gebundener Schleife. Sein Blick hakte irgendwo ein. Seine Stimme klang scharf und herausfordernd: Jedes atomare System hat ganz, bestimmte Energiewerte ... Das Labor, vollgestellt mit Geräten und Messapparaturen, war mein erster Arbeitsplatz. Ich sah mich am Mikroskop. Zum ersten Mal erschien das Bild einer Golddrahtdiode im Gesichtsfeld des Mikroskopes, ein Bild seltsamer, starrer Schönheit, die Oberfläche aufgelöst in zahllose bunte Punkte wie bei der Vergrößerung eines Rasterbildes. Scharlachrot leuchtete die eingeschmolzene Sinterglasperle. Warum scharlachrot? Ich entsann mich. Sie war einer hohen Temperatur ausgesetzt. In normaler Betrachtung erschien sie rosig-weiß.

Sewarth ist der einzige speziell ausgebildete Elektroniker im Bereich. Er ist jünger als ich, und er muss auch noch beweisen, was er kann. Sewarth ist groß und breitschultrig. Er treibt Sport, wie ich hörte. Er rudert. Seine Hände sind Maurerhände, Schlosserhände, wie Rickweilers Hände. Wie schafft er es, mit diesen Händen mikroskopische Abmessungen zu beherrschen?

Der Professor erläuterte: Erst im Prüffeldauslauf erfahren Sie die Wahrheit über ein elektronisches Bauelement.

Warum hat Rickweiler die mittlere Variante gewählt?

Rickweiler fing vor einigen Jahren an. Damals studierte ich noch. Es gab nichts, was Rickweiler nicht herstellen ließ. Jedes Gerät, jedes Material wurde erzeugt, erprobt, verworfen oder verwendet. Dann baute Rickweiler den Diodensaal mit den breiten Fenstern. Rickweiler ließ die ersten brauchbaren Einkristalle züchten, das Grundmaterial für Halbleiter, er schuf die Voraussetzung für ihre industrielle Herstellung.

Und wieder sah ich den Professor. Er sagte: Zum Anderen muss beim Kristallzüchten immer mit dem Einbau fremder Atome gerechnet werden, denn selbst bei größter Reinheit kommt auf zehn hoch neun richtige Gitterbausteine ein falscher. Eine Störstelle auf zehn hoch sieben normale Gitterbausteine macht sich bei elektrischen Messungen schon bemerkbar.

Komisch, dass man sich die Reihenfolge und selbst den Tonfall bestimmter Unterweisungen derart merkt.

Und ich dachte triumphierend: Rickweiler hat mit seinem Kollektiv die ersten brauchbaren Dioden gebaut, aber warum ist er heute ein so unzulänglicher Technologe? Warum Stück für Stück biegen, schneiden, löten, ätzen, waschen, trocknen, messen, dreimal, viermal? Warum nicht ganz anders? Wie anders?

Kubach, der Kalmückenkopf, unser Hauptökonom, ist ein Mann, der unbequeme Wahrheiten liebt. Manufakturbetrieb. Er sagt: Manufakturbetrieb. Und Czwietusch ist Forscher, nur Forscher.

Was soll man tun? Tausende Elemente gehen selbst in einen Rechner älterer Generation.

Ich will aufstehen und Licht machen, irgendetwas arbeiten oder einfach Pfeife rauchen.

Camilla schrieb: Es war traurig, als du weg warst.

Nebenan spannte der Soziologe ein neues Blatt in die Maschine. Die Dissertation würde wohl sehr lang werden, oder er verwarf früh, was er nachts getippt hatte.

Sie schrieb: Und du hast nicht einmal gemerkt, dass wir uns duzten, als das Telegramm kam. Meerteufel sind nicht giftig. Ich möchte ein Haus am Meer haben. Ist das kleinbürgerlich? Ich würde keinen Zaun stellen. Ich würde Sanddorn anpflanzen.

Ich wollte über Rickweiler nachdenken, ich wollte über die Probleme nachdenken, die wir lösen mussten.

Sie schrieb: Warum hast du nicht gesagt, was du dachtest? Dein Brief hat sich wie ein Geschäftsbrief gelesen. Man muss etwas haben, was man, ohne Kritik liebt, einfach so, weil es da ist. Ich bin nicht sicher, ob ich da recht habe. Im November bin ich für zwei Tage in Berlin. Kann ich bei dir unterkommen? Ich rufe dich noch an, Camilla.

Der Soziologe hatte die Arbeit für heute aufgegeben, wie es schien. Ich hörte ihn laut pfeifen.

Von meiner Etage konnte ich nach Karlshorst hinübersehen. Ich hatte Sehnsucht nach einer weiten Ebene ohne Hindernisse, nach dem Gespensterwald und nach der See, nach großen modernen Produktionsräumen, nach Maschinen. Es war eine unbestimmte Sehnsucht.

Camilla kommt im November.

Sie kam mit Verspätung.

Mir fiel ein Gespräch ein. Es wurde auf dem Flur der Wohnung Jewgeni Andrejewitschs in Moskau geführt.

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