Das alte Haus im Schneesturm

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Das alte Haus im Schneesturm
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Helgard Heins

Das alte Haus im Schneesturm

Roman

Cover-Design: B.Werbung Carola Behrens

Impressum

Copyright: © Helgard Heins

Published by: epubli GmbH, Berlin

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Kapitel 1

Sie legte den Hörer mit zitternden Fingern auf. Ruhelos sprang sie auf und lief im Stationszimmer hin und her. Die Oberschwester saß am Schreibtisch unter der Scheibe zum Korridor und machte im Licht ihrer Schreibtischlampe die letzten Eintragungen des Tages, in Kürze würde Schichtwechsel sein. Sie sah auf, drehte sich um und starrte Sophie verwundert an.

„Mein Gott, Sophie, was ist denn los? Setz dich bloß hin, du machst mich ganz nervös.“

Sophie schob eine honigblonde Strähne ihres dichten, kinnlangen Haares, die ihr Gesicht halb verdeckte, hinters Ohr und blieb stehen. Sie schluchzte auf und sagte: „Hans Rosemann hatte einen Herzinfarkt. Sein Telefon war eben von einem anderen Beamten besetzt.“

„Hauptkommissar Rosemann? Das tut mir leid, und dann noch so kurz vor seiner Pensionierung.“

„Jetzt kümmert sich keiner mehr darum, wo David ist.“ Sophie sah so jammervoll aus, dass Schwester Melanie aufstand und sie auf den Besucherstuhl neben ihrem Schreibtisch schob. Dann ging sie nach nebenan und kehrte mit einem Becher zurück.

„Trink das, es wird dir gut tun.“

Sophie trank den Becher aus und schüttelte sich. „Das war Cognac!“

„Medizin. Du bist doch mit den Rosemanns befreundet, kannst du nicht Frau Rosemann anrufen?“

„Ja, aber wahrscheinlich hat Anne jetzt andere Sorgen. Ich werde sie später anrufen.“

Schwester Melanie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und musterte Sophie, die in sich zusammengesunken auf dem Stuhl hockte. „Geht es wieder? Eben warst du so blass, dass ich schon Angst um Dich hatte.“

„Weißt du, Melanie, ich bin froh, wenn ich diese letzte Woche hinter mir habe.“

„Wie soll ich denn hier ohne dich bloß klarkommen.“ Melanie verzog ihr Gesicht, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen. „Ich weiß, alle haben dich ausgenutzt, weil du immer bereit warst einzuspringen. Du hättest es ablehnen sollen, Dr. Sander zu vertreten. Du hättest diesen Urlaub auch dringend gebraucht. Aber Dr. Sander, muss ja unbedingt jedes Jahr über Weihnachten und Neujahr nach Gran Canaria in Urlaub fliegen. Ich glaube, seine Frau würde ihn wohl sonst in den Wind schießen.“

Trotz ihrer Betroffenheit musste Sophie darüber lächeln, wie Melanie sich in Rage redete. Sie stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Danke, meine Liebe. Du hast mich wieder aufgebaut.“

„Ja, gerade rechtzeitig, da kommen schon die ersten von der Nachtschicht. Bis Morgen, Sophie.“ Sie lächelten sich freundschaftlich zu.

Obwohl Sophie das Ende dieser Ära mit Ungeduld erwartet hatte, verging ihre letzte Woche im Krankenhaus wie im Flug. Die Koffer waren gepackt und standen im winzigen Appartement des Schwesternwohnheims für die Heimreise bereit. Alle Formalitäten zum Abschluss ihres Arbeitsverhältnisses im Krankenhaus waren erledigt, die Schlüssel und das Handy, das ihr für Bereitschaft und Notfälle zur Verfügung gestellt worden war, hatte sie zurückgegeben. Bereits am Nachmittag hatte sie sich von ihrem engsten Kollegenkreis bei Kaffee und Kuchen verabschiedet. Sie wollte nur noch bei Anne Rosemann anrufen, als das Telefon klingelte.

„Anne, eben wollte ich bei Dir anrufen. Wie geht es Euch?“

„Ich komme gerade von Hans. Er wurde von der Intensivstation schon auf die Innere verlegt. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er kommt von hier aus gleich in eine Reha-Klinik. Ich werde mit ihm fahren.“

„Das ist gut, Anne. Ihr schafft das schon. Ich wünsche ihm von Herzen, dass er bald wieder fit ist.“

„Er wird gar nicht wieder arbeiten müssen. Bis zu seinem Renteneintritt im Mai wird er krankgeschrieben werden. Die Arbeit hat ihn am Ende doch sehr belastet. Und dann hatte er einen besonders schwierigen Fall, den er zwar noch aufklären konnte, aber als er abends nach Hause kam, klagte er über starke Schmerzen. Mitten in der Nacht bin ich mit ihm in die Klinik gefahren und dort hat man den Herzinfarkt festgestellt. Gott sei Dank sind wir so rechtzeitig da gewesen.“

„Ja, das ist besonders wichtig. Ich habe es vor einer Woche von einem Beamten erfahren, als ich Hans anrufen wollte. Ich habe mich absichtlich nicht vorher bei dir gemeldet, weil ich mir schon gedacht habe, dass du genug um die Ohren hattest. Eure Kinder haben dir sicher beigestanden.“

„Klar, sie haben ihren Papa oft besucht.“

„Heute ist mein letzter Tag. Ich fahre bald los. Nach Hause.“

„Und, freust Du Dich?“

„Ja, ich glaube schon. Es ist nur ein bisschen komisch, nach all den Jahren der Selbständigkeit wieder zu Hause zu wohnen.“

„Selbständigkeit oder Einsamkeit? Übrigens, hast Du denn in der letzten Stunde mal aus dem Fenster gesehen?“

„Was soll ich da sehen, es ist ja schon dunkel.“

„Kindchen, nicht nur das, es schneit auch wie verrückt und die Straßen sind glatt. Pass bloß auf. Kannst Du die Fahrt nicht auf Morgen verschieben?“

Sophie stand auf und sah hinaus.

„Anne, du hast Recht. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass es so schneit. Meine Familie erwartet mich heute. Außerdem werde ich gleich das Appartement an meine Nachfolgemieterin übergeben, wenn ich mein Gepäck abhole. Das meiste ist schon im Auto.“

„Eigene Möbel hattest Du gar nicht?“

„Nein, das Appartement ist möbliert und außerdem habe ich wenig Zeit dort zugebracht.“

„Stimmt, Du warst ja die meiste Zeit im Krankenhaus. Oder bei uns. Übrigens, Hans hat Dich nicht vergessen. Ich soll Dir sagen, dass er die Suche nach David seinem Nachfolger noch sehr ans Herz legen wird. Hans wird dafür sorgen, dass er mit dir Kontakt aufnimmt. Du sollst dir nicht so große Sorgen machen.“

„Ach, Anne, der liebe Hans, dafür danke ich ihm ganz besonders. Ich mache es wieder gut.“

„Das wollen wir hoffen. Wenn Hans erst in Rente ist, werden wir Ausflüge aufs Land machen, zu unserer Pflegetochter Sophie. Es soll besonders schön sein, dort abends im Sommer unter einer großen Kastanie auf dem Rasen zu sitzen, zu grillen und einen Wein dabei zu genießen.“

„Na, hoffentlich finde ich die passende Kastanie für Euch, damit wir darunter sitzen können. Liebe Anne, grüß Hans ganz, ganz herzlich von mir und viel Spaß bei der Reha. Dann kannst Du jeden Morgen schwimmen gehen. Und in Zukunft habt ihr auch endlich mal mehr Zeit für euch. Wir telefonieren wieder. Im Notfall kannst Du mich über Papa erreichen.“

Nach diesem Gespräch fühlte Sophie sich erleichtert. Sie sah sich auf der Station nochmals um. Der Stationsarzt und Schwester Melanie waren bei einem Patienten. Die anderen waren damit beschäftigt, die Patienten für die Nacht zu versorgen. Sophie verabschiedete sich kurz und verließ in aller Stille das Krankenhaus, in dem sie so viele Jahre und ungezählte Stunden gearbeitet hatte.

Kapitel 2

Eisiger Sturm aus Nordost trieb den feinen Schnee waagerecht vor sich her. Es war stockdunkel und die Schneeflocken tauchten als eine Unmenge schwarzer Punkte vor dem Scheinwerferlicht auf und prallten gegen die Windschutzscheibe. Lüftung und Scheibenwischer liefen auf Hochtouren, dennoch war die Sicht schlecht. Im dichten Feierabendverkehr fuhr Sophie auf der Bundesstraße stadtauswärts.

Bei Kollegen und Patienten gleichermaßen beliebt, hatte sie doch in den letzten Monaten gemerkt, dass ihre freundlichen und tröstenden Worte nicht mehr so recht aus dem Herzen kamen. Sie fühlte sich müde und ausgebrannt als Folge der strapaziösen letzten Jahre.

Sie hatte ihre Familie zuletzt im April gesehen. Selbst zum 65. Geburtstag ihres Vaters im September hatten sich dienstliche Gründe ergeben, die im letzten Moment ihren Besuch verhindert hatten. Sie hatte ihren Vater dann nur anrufen können, um ihm zu gratulieren. Bei der Gelegenheit hatte er sie mal wieder gefragt, ob sie seine Arztpraxis übernehmen wolle. Bisher hatte sie dies immer abgelehnt, aber diesmal war er schon froh gewesen, dass sie sich Bedenkzeit erbeten hatte. Der Gedanke daran hatte sie nicht mehr losgelassen.

Die Autos vor ihr gerieten vor einer Ampel ins Stocken. Vorsichtig bremste Sophie ihren brandneuen Opel Vectra. Das Autofahren stresste sie. Während ihrer Zeit in Hamburg in den letzten achtzehn Jahren hatte sie kein Auto gebraucht. Nur noch ein paar Kilometer, dann würde sie auf die Landstraße abbiegen können.

Ihre Gedanken schweiften zurück zu einem Abend Ende Oktober. Oma Birnbaum lag im Sterben. Sophie hatte den ältesten Sohn informiert. Es war ruhig gewesen auf der Station und so war sie zu der alten Frau gegangen, um ihr Gesellschaft zu leisten, bis ihre Verwandten kommen würden. Im abgedunkelten Raum verbreitete eine Wandlampe ihren warmen Schein und enthüllte Oma Birnbaums Magerkeit, die sich unter der dünnen Bettdecke abzeichnete. Sophie setzte sich zu ihr und hielt ihre knochige, gichtknotige Hand.

Sophie grübelte darüber nach, dass man ganz schön allein sein kann, auch wenn man wie Oma Birnbaum fünf Kinder und dreizehn Enkelkinder hat. Als hätte Oma Birnbaum ihre Gedanken erraten, suchten ihre trüben, blaugrauen Augen Sophies Blick und sie sagte langsam und mühsam atmend:

„Meine Söhne sind gute Männer. Nehmen Sie es Ihnen nicht übel, dass sie mich so selten besucht haben. Sie haben es nicht leicht, sie sorgen für ihre Familien und mühen sich ab. Sie werden bald kommen.“

 

Verlegen senkte Sophie den Kopf, sah wieder auf, als die flüsternde Stimme fortfuhr:

„Frau Doktor, Sie dürfen nicht mehr trauern. Das ändert nichts und der Herrgott im Himmel hat das nicht gern. Beten Sie und bitten Sie ihn um Hilfe. Haben Sie ein bisschen Vertrauen zu ihm. Alles wird sein, wie es sein muss. Sie sollten sich ihres Lebens freuen. Das Leben ist zu kostbar.“ Güte und Lebensweisheit klangen aus diesen Worten und Sophie sah auf. „Woher …“

„Ich bin alt genug und habe eine Menge gesehen im Leben, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ich weiß nicht, was Sie quält. Aber es wird dem Herrgott nicht gefallen, dass Sie so mit ihm hadern.“

Die Worte schwebten im Raum, drangen in Sophies Gehirn und setzten sich darin fest. Es war still im halbdunklen Krankenzimmer, nur der Tropf gluckerte leise.

Kurz darauf waren alle fünf Söhne von Oma Birnbaum gekommen, um Nachtwache bei ihrer sterbenden Mutter zu halten. Sophie hatte der alten Frau die Hände gestreichelt, war aufgestanden und ins Stationszimmer gegangen, nachdem sie den Söhnen gesagt hatte, dass sie die ganze Nacht da sein würde, und sie sollten keine Scheu haben, sie zu rufen, wenn sie Hilfe brauchten.

Es war schon spät gewesen, als Sophie den Hörer abgenommen und ihren Vater angerufen hatte. Die Entscheidung war gefallen, sie würde wieder nach Hause gehen. Der Weg zurück war unendlich lang gewesen, lang und schmerzvoll. Das schlimmste Ereignis in ihrem Leben vor fast neunzehn Jahren hatte sie beinahe zerstört. Sie hatte es nur ihrem Vater zu verdanken, dass sie sich von diesem Schicksalsschlag halbwegs erholt hatte. Sie hatte das vor der Geburt ihres Sohnes abgebrochene Medizinstudium wieder aufgenommen und sich regelrecht in die Arbeit gestürzt. In der Studienzeit und auch später hatte sie nur selten Zeit für kurze Besuche zu Hause gehabt. Aber nun spürte Sophie Freude, wie schon sehr lange nicht mehr.

Kurz vor Buxtehude wurde der Verkehr flüssiger. Sophie verließ die Bundesstraße und gelangte nach kurzer Fahrt durch die Randlage von Buxtehude auf die Landstraße nach Nindorf, die kaum befahren war. Es schneite ununterbrochen und Sophie musste sehen, dass sie in der Fahrspur blieb. Es könnte nicht schaden, wenn die Straße mal wieder geräumt werden würde, dachte Sophie.

Weit hinten näherten sich Scheinwerfer und kamen beängstigend rasch näher. Nun muss der auch noch drängeln, dachte Sophie. Sie wurde nervös und klappte hektisch den Rückspiegel um, weil sie geblendet wurde. Unweigerlich gab sie mehr Gas. Das hätte sie lieber nicht tun sollen, denn in der langen und sehr engen Kurve geriet sie gefährlich ins schlingern, bekam das Fahrzeug aber wieder in ihre Gewalt.

Das ist ja noch mal gut gegangen, dachte sie. Der Schreck war ihr in die Glieder gefahren, ihr Herz pochte und ihre Beine zitterten. Als sie wieder in den Rückspiegel sah, lag hinter ihr nur schwarze Dunkelheit. Keine Scheinwerfer mehr. Hier war doch keine Abfahrt, kein Haus oder Weg, in den der Wagen hätte einbiegen können, überlegte sie. Sophie hielt an, schaltete die Warnblinkanlage ein, packte automatisch ihre Arzttasche und stieg aus. Sie ließ ihr Auto mitten in der Fahrspur stehen, da die Seitenräume so hoch voll Schnee waren, dass sie dort stecken geblieben wäre. Mit wütigem Angriff stach der Schnee wie mit eisigen Nadelspitzen auf sie ein. Sie zog die Kapuze über den Kopf, stellte das Warndreieck auf und marschierte zurück. In der Kurve stieß sie auf eine frische Reifenspur, die quer über beide Fahrbahnen zog und an der Seite verschwand. Sophie lief dorthin und entdeckte, dass die Leitplanke durchbrochen war. Das Auto war einen tiefen Abhang hinunter gestürzt und lag im Grund. Kein Ton drang durch das Heulen des Sturms herauf. Der Motor war aus, die Scheinwerfer leuchteten noch.

Gerade wollte sie das Handy aus der Jackentasche ziehen, als ihr einfiel, dass sie ihr Diensthandy im Krankenhaus wieder abgegeben hatte. „Verflucht, was mach ich denn jetzt“, murmelte sie vor sich hin.

Da kein Auto weit und breit in Sicht war, entschied sie, zunächst nach dem Fahrer zu sehen. Sie kletterte, stolperte und rutschte den Abhang hinunter. Die aufgewühlten Spuren am Abhang ließen darauf schließen, dass das Auto mehrfach aufgeprallt war oder sich gar einmal überschlagen hatte. Offensichtlich war das Auto beim Absturz gegen mehrere Bäume und einen großen Felsen gestoßen, der am Abhang lag. Der Fahrer war eingeklemmt und rührte sich nicht. Die Tür war total verbeult und ließ sich nicht öffnen. Sie hastete um das Auto herum und stieg auf der anderen Seite ein. Der Mann war bleich und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Sophie hielt seinen Kopf, klopfte mit der flachen Hand gegen seine Wange und sagte: „Hallo, bleiben sie wach! Haben Sie keine Angst, ich bin Ärztin und werde Ihnen helfen.“ Der Mann sah sie an und blinzelte, er hatte verstanden. Sophie leuchtete mit der Taschenlampe und sah, dass der Mann über der Schulter von dem Seitenholm eingeklemmt war, außerdem war Metall der zerfetzten Tür in sein Bein gedrungen. Das Hosenbein war bereits blutdurchtränkt.

Zuerst das Bein, überlegte Sophie, sonst verblutet er, ehe Hilfe eintrifft.

Sie beugte sich über ihn. „Ich ziehe ihr Bein jetzt vorsichtig zu mir herüber.“ Er nickte und stöhnte, als sie das Bein vorsichtig von dem zerfransten Blech befreite. Während sie versuchte, das Blut zu stillen, hörte sie durch den heulenden Sturm, dass oben an der Straße jemand rief. Hastig kletterte sie aus dem Auto und schrie: „Alarmieren Sie bitte die Rettungsleitstelle. Ein Mann ist im Auto eingeklemmt und schwer verletzt.“ „ Mach ich.“ „Bitte, schnell, es eilt sehr.“ „Alles klar.“

Sophie fühlte sich ein bisschen erleichtert, und legte eine Druckkompresse an, während sie beruhigend auf den Mann einredete. Es wurde immer kälter im Auto. Sie fand auf dem Rücksitz eine Wolldecke, in die sie den Mann so gut es ging einhüllte. Nach einer Zeit, die ihr endlos vorkam, hörte sie das mehrstimmige Heulen von Martinshörnern und sah über sich auf der Straße Blaulicht kreisen. Die Feuerwehr war mit mehreren Einsatzwagen eingetroffen. Unmittelbar danach kamen auch der Rettungswagen und der Notarzt. Sie hörte Türen knallen, Stimmen und dann kamen Feuerwehrmänner mit Schneidbrennern und Rettungsscheren den Hang herunter gerutscht, gefolgt vom Notarzt und den Sanitätern.

Sophie stellte sich den Männern vor und sagte: „Ich vermute eine Halswirbelverletzung, Brüche der linken Schulter, des Arms und einiger Rippen. Die Wunde am Bein blutet noch, ich habe einen Druckverband angelegt.“

Der Arzt hörte ihr aufmerksam zu und nickte. „Ich übernehme jetzt“, sagte er und nahm ihren Platz auf dem Beifahrersitz ein.

„Brauchen Sie mich noch?“

„Nein, eigentlich nicht. Wäre gut, wenn wir Ihren Namen hätten, falls noch Fragen auftauchen.“

Sophie gab dem Notarzt ihre Visitenkarte und notierte seinen Namen und den des Verletzten, Hans Gollmann, dessen Papiere sie im Handschuhfach gefunden hatte.

Sie beugte sich in den Wagen und blickte den Verletzten an. „Alles Gute. Sie werden wieder gesund. Ich werde Sie im Krankenhaus besuchen.“

„Danke“, hauchte er.

Zitternd vor Kälte kletterte Sophie den Abhang hinauf, oben reichte ihr ein Feuerwehrmann die Hand und zog sie auf die Straße.

„Das da vorn ist wohl Ihr Auto? Ich hab ein paar von meinen Jungs hingeschickt, damit da keiner rein fährt.“ Sophie spähte zu ihrem Auto. Ein Feuerwehrwagen mit Blaulicht stand dahinter. Sie schmunzelte. „Danke, seid Ihr von der Feuerwehr Nindorf?“

„Nein, Apensen. Nur die Feuerwehr Apensen hat die Ausrüstung für schweres Rettungsgerät. Äh, ich hab gehört, Sie sind die neue Ärztin in Nindorf?“

„Ja, das ist wahr. Ich bin Sophie Winterberg und übernehme die Praxis von meinem Vater.“

„Da hatten Sie ja gleich einen aufregenden Einstand.“

„Das kann man so sagen. Ich muss los, der Verletzte ist in guten Händen. Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen können“, sagte Sophie und gab ihm die Hand. „Danke, dass ihr so schnell gekommen seid.“

Sophie eilte zu ihrem Auto, winkte den Männern im Feuerwehrauto kurz zu und fuhr nach Hause.

Kapitel 3

Sophie zog sich die Kapuze über den Kopf, ging an den dunklen Praxisräumen im vorderen Teil des großen, alten Hauses vorbei und klingelte am Seiteneingang. Kurz darauf ging das Licht an, die Tür wurde aufgerissen und Sarah stand strahlend vor ihr. Sie riss sie in die Arme und drückte sie fest an sich. „Sophie, was für eine Freude. Gott sei Dank, dass du da bist. Lily hat schon mindestens zehn Mal angerufen und gefragt, wo du denn bleibst, und dein Papa hat alle fünf Minuten auf die Uhr gesehen.“

Das war ihre Sarah wie sie leibte und lebte, sie war warmherzig und immer für andere da. Obwohl sie nicht allzu groß und etwas pummelig war, strahlte sie eine ruhige, weibliche Schönheit aus, die von innen kam. Sie trug ihre vollen, braunen Haare locker hochgesteckt und ihre ganze Liebe strahlte aus ihren schönen, dunkelbraunen Augen Sophie entgegen.

„Guten Abend, Sarah. Hübsch siehst du aus, die Frisur steht dir ausgezeichnet“, lächelte Sophie und erzählte, während sie ihre Jacke auszog: „Ich kam nicht eher aus dem Krankenhaus raus. Und bei dem Schneesturm ging es nicht schneller. Es war viel Verkehr auf der Bundesstraße. Und dann war auch noch ein Unfall kurz vor Nindorf.“

„Ach du lieber Gott. Du zitterst ja vor Kälte. Komm schnell rein. Du bist ja ein richtiger Eiszapfen, wir müssen dich wohl erst mal auftauen.“

Sarah nahm ihr die Jacke ab und zog sie in das Lesezimmer. Die Möbel stammten noch aus der Zeit, als Sophies Eltern geheiratet hatten. Das Holz des Bücherschranks und der Regale schimmerte dunkel. Es roch nach Bratäpfeln, die Sarah in die Röhre des Kachelofens gestellt hatte, und wohltuende Wärme umfing Sophie. Friedrich Langen saß in seinem zerschlissenen Ohrensessel, neben sich auf dem altmodischen Rauchtisch mit Leselampe einen Cognac und die Pfeife im Aschenbecher. Sofort stand er auf und nahm Sophie in die Arme. „Sophie, sei willkommen.“ Er drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Sophie konnte gar nicht sprechen, ein Kloß saß ihr im Hals. Sie war wieder zu Hause. Friedrich hielt sie ein wenig von sich ab, nahm ihr Gesicht in beide Hände und sagte lächelnd:

„Du siehst ein bisschen elend aus. Ich werde die Praxis so lange weiterführen, bis du dich erholt hast.“

„Ach, Papa. Ich nehme dein Angebot dankbar an. Ich glaube, ein bisschen Erholung könnte ich schon vertragen.“

Sarah ging in die Küche und kam mit einem Tablett mit Tee und kleinen belegten Schnitten zurück. Sie rückte für Sophie einen Sessel neben den Kachelofen und goss ihr eine Tasse Tee ein. Sophie schob sich ein mit Krabbensalat belegtes Schnittchen in den Mund und spülte es mit heißem Tee hinunter.

„Das tut gut. Vielen Dank, Sarah. Es ist ein schönes Gefühl, wenn die Kälte weicht. Mir laufen immer noch kleine Schauer über den Rücken.“

Während Sophie über ihre abenteuerliche Fahrt berichtete, setzte Sarah sich mit einer Tasse Tee dazu. Sarah war seit Lilianes Geburt im Hause Langen. Margarethe, Sophies Mutter, war bei Lilianes Geburt gestorben. Sophie war damals bereits vierzehn Jahre alt gewesen. Es war ein schwieriges Alter und der Verlust der Mutter hatte sie schwer getroffen. Sarah behandelte Sophie als Freundin und lenkte sie ab, indem sie sie in die Pflege der kleinen Schwester einbezog. Sarah war zunächst Kindermädchen, Hauswirtschafterin und übte später ihren eigentlichen Beruf als Sprechstundenhilfe in der Praxis aus. Friedrich hatte lange um seine Frau getrauert. Aber eines Tages hatte er gemerkt, welches Juwel er im Haus hatte. Seitdem waren sie Lebensgefährten. Sophie fragte sich, warum sie nicht geheiratet hatten.

„Wir müssen Lily Bescheid sagen. Sie war schon so aufgeregt und möchte Sophie unbedingt alles selbst zeigen.“

Sophie sah fragend zwischen Sarah und Friedrich hin und her.

„Was zeigen?“

„Einen Moment wird sie sich noch gedulden müssen. Es dauert nicht lange“, sagte Friedrich gemächlich, stopfte sorgfältig seine Pfeife, zündete sie an und zog daran, so dass seine Wangen noch schmaler und die Falten noch tiefer wurden.

„Sophie, du kennst doch noch unsere Nachbarn. Frau Behrendt ist ja schon lange tot und der alte Berendt war es leid, allein in seinem Haus zu leben. Seine Tochter wollte, dass er zu ihr zieht. Da hat er mir das Haus zum Kauf angeboten.“

„Das kleine Strohdachhaus?“

Friedrich zog an seiner Pfeife und stieß eine Rauchwolke in die Luft. Er lehnte lässig in seinem Sessel, die Beine waren so lang, dass die Knie in die Höhe ragten. Er nickte. „Ja, genau das. Er hat es vor ein paar Jahren renoviert, sogar ein Carport angebaut. Sehr praktisch für Frauen, die können ihre Einkäufe bei Regen trockenen Fußes direkt in die Küche schaffen. Der Eingang ist nämlich im Carport.“

 

„Friedrich, was soll das heißen. Das hört sich an, als hätten Frauen nichts anderes als Einkaufen im Kopf.“

Er grinste Sarah kurz an und fuhr fort: „Kurz und gut, es ist von Grund auf in Ordnung, lediglich das Strohdach müsste noch ein bisschen ausgebessert werden. Das hat aber noch ein paar Jahre Zeit. Ich habe das Haus gekauft. Wenn es dir gefällt, kannst du es haben.“

„Oh, Papa, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

„Dann sag nichts. Schau es dir erstmal an.“

Sarah stand auf und ging zur Tür. „Also, ich ruf Lily jetzt an.“ Sie kam schnell zurück und setzte sich zu Friedrich auf die Armlehne. Er legte den Arm um ihre Hüfte und sah zu ihr hoch. „Na, was sagt sie.“

„Sie geht direkt zum Haus. Du warst ja so lange nicht hier, Sophie. Im Oktober sind Liliane und Emma nebenan in ihr neues Haus gezogen. Und da war sie so gut in Schwung, dass sie meinte, sie könne dein Haus ja auch gleich mit herrichten.“

„Was, das hat sie auch schon gemacht?“

„Du hattest ja keine Zeit“ sagte Friedrich. „Und wenn ich mich recht erinnere, hast du uns wegen einer Bleibe für dich ja sozusagen einen Freibrief gegeben.“

„Ja, aber ich habe nichts davon gewusst und … wer hat das denn alles bezahlt?“

„Keine Sorge, die Rechnungen kommen teilweise noch, den Rest habe ich ausgelegt.“

Sophie war sprachlos. Sie hatte eigentlich gedacht, dass sie zunächst bei ihrem Vater und Sarah wohnen und mit ihrem alten Kinderzimmer vorlieb nehmen müsste. Nun war sie froh, dass sie gleich ein Reich für sich allein haben würde. Sie stand auf und umarmte Sarah und ihren Vater. „Da bin ich ja froh, dass ich nicht in einem leeren Haus auf dem nackten Fußboden schlafen muss. Ich danke Euch. Zeit hatte ich ja wirklich nicht, aber Geld habe ich genug gespart.“

„Wir wollen dich nicht rausschmeißen, aber ich glaube, du musst jetzt los, sonst platzt Lily noch vor Ungeduld.“

Sarah und Friedrich brachten sie zur Tür.

„Du kannst direkt bis unters Carport fahren“, grinste Friedrich stillvergnügt.

„Morgen lassen wir dich in Ruhe“, sagte Sarah zum Abschied, „aber übermorgen wollen wir hier alle gemeinsam Heiligabend feiern und zusammen in die Kirche gehen.“