Das alte Haus im Schneesturm

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Erwin ließ die Pferde eine Weile Schritt gehen, damit sie den Anblick noch etwas länger genießen konnten. Ihnen stockte der Atem vor der Schönheit der Natur und dem Zauber dieses schneebedeckten Anwesens. Sarah erzählte, dass vor langer Zeit die Mühlenbäuerin die „Dollhundsbutter“ nach geheimer Rezeptur gemischt haben soll, die angeblich gegen Tollwut geholfen haben soll.

Auf engen Wegen ging die flotte Fahrt über die Dörfer bis an den Kirchweg, auf dem seit alters her die Leute aus den südlichen Dörfern in die Kirche von Apensen gefahren oder gegangen waren. Die drei Frauen auf dem Schlitten kuschelten sich in ihre Decken und schauten froh über die schneebedeckte, sonnenbestrahlte Landschaft, während Emma pausenlos Onkel Erwin ausfragte, die Kufen im Schnee knirschten und die Schellen fröhlich klangen. Sie fuhren an weiten Feldern vorbei. Schnee fiel von den Bäumen herab, als sie in wilder Jagd durch ein Wäldchen brausten. Eine Handvoll Schnee landete direkt auf Lilys Mütze und stob auseinander. Sarah und Sophie lachten über Lily, deren Haare und Gesicht voller Schnee waren. Sie genossen die Fahrt, die nach ihrem Geschmack viel zu schnell vorbeiging.

Da zum Glück auf der Hauptstraße in Apensen eine dicke Schneedecke lag, was in Jahrzehnten vielleicht ein- oder zweimal vorgekommen war, konnte Erwin direkt vor der Kirche halten. Die Kirchenglocken läuteten und viele Menschen strömten zum Gottesdienst. So mancher hielt inne und bestaunte das Schlittengespann und besonders die Kinder hatten ihre Freude an dem seltenen Anblick.

„Ich warte nachher auf dem Parkplatz“, sagte Erwin, der die Pferde während des Gottesdienstes bei einem Bekannten unterstellen wollte. Sie winkten ihm nach und gingen in die Kirche, die gut besucht war, besonders von Familien mit kleinen Kindern. Emma war total lieb und sang fleißig die Lieder mit, die sie schon im Kindergarten gelernt hatte. Sophie beobachtete stolz ihre entzückende, kleine Nichte.

Es dämmerte, als sie aus der Kirche kamen. Friedrich und Sarah trafen Bekannte, mit denen sie ein paar Worte wechselten. Emma zog Lily von diesen „langweiligen“ Gesprächen fort. Sophie entdeckte Birgit, eine frühere Freundin, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Birgit war mit ihrem Mann Jürgen und ihrem Sohn Tobias ebenfalls im Gottesdienst gewesen und stellte Sophie ihre Familie vor.

„Und, wie geht es euch so, bist du berufstätig?“, fragte Sophie.

„Ich bin gerade entlassen worden“, sagte Birgit.

„Oh, das tut mir leid. In heutiger Zeit ist es ja nicht einfach, eine neue Stelle zu bekommen.“

„Sie hat es gar nicht nötig zu arbeiten“ sagte Jürgen und zog das Kinn hoch.

Der sieht aber auch gut aus, ein schmales, markantes Gesicht, schwarze Haare, blaue Augen und diese Figur, dachte Sophie. Das hatte sie Birgit gar nicht zugetraut, die früher eher unscheinbar war. Birgit sah jetzt allerdings ganz apart aus mit ihrem feinen rotblonden Haar und den Sommersprossen auf der Nase.

„Jürgen hat einen guten Posten, er ist Bankdirektor und arbeitet in Hamburg“, versicherte Birgit eilig.

„Wir müssen los“, drängte Jürgen und schob Birgit und Tobias weiter. Im Weggehen wandte Birgit sich nach ihr um und Sophie fing ihren hilflosen Blick auf.

Erwin hatte die Laternen an den Seiten des Schlittens angesteckt und wartete auf sie. Emma wollte wieder mit ihrem Opa vorn sitzen. Kaum hatten Sarah, Lily und Sophie ihre Plätze eingenommen, stieg Erwin auf und die Fahrt ging flott voran begleitet vom taktmäßigen Schellengeläute. Im Dorf staunten die Leute sie an und mancher Pferdeliebhaber winkte ihnen zu. Die beiden Friesen hatten in der Zwischenzeit von ihrer Kraft nichts eingebüßt. Die weiten schneebedeckten Flächen schimmerten im Dämmerlicht bläulich, die Laternen am Schlitten beleuchteten schwach die Gesichter, eingehüllt in Mützen und Schals. Im Wäldchen war es stockdunkel und sie passierten es ohne weitere Schneeladung von oben. Es war eine unvergessliche Fahrt, darüber herrschte schweigendes und seliges Einvernehmen zwischen den drei Frauen hinten im Schlitten.

Dann waren sie wieder zu Hause, die Pferde standen, ihre Atemwolken stiegen auf und ihre Körper dampften von dem schnellen Lauf.

Friedrich bedankte sich bei seinem Cousin und drückte ihm einen Schein in die Hand, den Erwin gern annahm, denn ein Reiterhof konnte auf Einnahmen nicht verzichten.

„Papa, das war eine tolle Idee“, sagte Sophie herzlich. Sarah, Emma und Lily stimmten begeistert ein und alle sprachen durcheinander über die schöne Schlittenfahrt. Nebenher wurden Kaffee und Tee gekocht. Dazu gab es frische Apfeltorte mit Sahne. Emma schob alsbald ihren Teller mit dem halb aufgegessenen Kuchen zurück und jammerte: „Ich habe Bauchweh.“

„Ach, du Arme. Opa schaut gleich mal nach, ob der Weihnachtsmann schon da war“, tröstete Lily sie, sehr wohl wissend, dass ihr Bauchweh nur von der Aufregung kam. Emma konnte nicht mehr lange auf die Folter gespannt werden, so stand Friedrich auf und ging ins Wohnzimmer, das bis dahin abgeschlossen war. Emma musste sich noch so lange gedulden, bis der Kaffeetisch abgeräumt war. Aber dann war es soweit. Aus dem Wohnzimmer scholl das schöne alte Weihnachtslied „Oh, Tannenbaum, oh Tannenbaum….“ und Friedrich bimmelte mit einem Glöckchen und rief: „Der Weihnachtsmann war da!“

Da nahm Emma Lily an die Hand und zog sie eilig hinter sich her. Der Weihnachtsbaum erstrahlte in voller Pracht und darunter lagen die Geschenke für Emma. Sophie holte die Tüte mit ihren Geschenken und setzte sich auf das Sofa. Sarah stellte Gläser auf den Tisch und Friedrich schenkte Sekt ein und für Lily und Emma Saft. Emma hatte hochrote Bäckchen vor Aufregung und riss die Pakete auf. Bald stand sie mitten in einem riesigen Papierhaufen und wusste nicht, welches Geschenk sie zuerst bewundern sollte. Die babyrosa Puppenwiege von Sophie wurde aber der Favorit, denn bald würde auch ihre Mama eine Wiege brauchen und da konnte Emma schon mal vorab ein wenig üben.

Sarah räumte das Geschenkpapier weg und Friedrich hob sein Glas und sie stießen alle miteinander an, wobei Emma ihr Glas besonders vorsichtig klingen ließ. Sophie verteilte ihre Geschenke. Lily riss in Emma-Manier das Papier herunter und nahm einen wundervollen Angoraschal heraus. Sie strich behutsam mit der Hand darüber.

„Wunderbar weich und so schön dieses Taubenblau mit dem Silber darin.“ Sie legte den Schal, der so breit wie eine Stola war, um ihre Schultern und lächelte.

„Den nehme ich mit zu Friederike, das ist genau das richtige für die zugige, alte Villa.“

„Oh, wie gut das duftet“, rief Sarah. Sie hatte Sophies Geschenk ausgepackt. Es war ein teures Parfum und Sophie hatte gewusst, dass Sarah viel zu bescheiden war, um sich selbst so etwas zu kaufen. Aber Sarah liebte es, gut zu riechen. Jetzt strahlte sie mit Lily um die Wette.

Sophie reichte ein größeres Päckchen an Friedrich. „Papa, bitte. Ich hoffe, dass es dir gefällt.“

Friedrich wickelte es aus und faltete sorgfältig das Papier. Er hob ein moccabraunes Stoffteil, das von einem Gummizug zusammengezogen war, hoch und schaute hilflos in die Runde.

„Nanu, was soll denn das sein?“

Sarah lachte über sein verdutztes Gesicht. „Ich kann’s mir denken. Es ist wohl ein Überzug für deinen alten Sessel, oder Sophie?“

Sophie lachte auch. „Stimmt, mir war aufgefallen, dass der Stoff schon ein bisschen durchgewetzt war. Und Papa würde sich doch wohl nie im Leben von diesem Sessel trennen. Lass es uns gleich mal probieren.“

Friedrich, Sarah und Sophie gingen ins Lesezimmer und Sophie stülpte den Überzug über den Sessel.

„Glück gehabt, sitzt perfekt“, freute sich Sophie.

„Das ist ja praktisch“, sagte Friedrich und machte sogleich Probesitzen.

„Nicht schlecht. Auf so etwas wäre ich nie gekommen.“ Er drückte Sophie die Hand.

„Das wundert mich nicht. Du gehst ja auch wohl nie einkaufen, oder sollte sich da etwas geändert haben?“

„Nein, hat sich nicht“, stimmte Sarah zu. „Ein schöner Stoff mit dieser groben Struktur. Der passt hier richtig gut rein.“

Lily hatte ihren Sessel näher an den Tannenbaum gerückt und bewunderte mit Emma deren Geschenke, als sie wieder ins Wohnzimmer kamen. Friedrich schleppte ein großes Paket und setzte es ächzend bei Sophie ab.

Lily sah hinüber und sagte: „Du dachtest wohl, wir schenken dir gar nichts? Wir haben alle zusammengelegt.“

Als Sophie das Papier aufgemacht hatte, erkannte sie schon, was in dem Paket war. „Ein kleiner Fernseher. Oh, danke euch allen. Dann kann ich wenigstens die Nachrichten sehen. Bisher war mir noch gar nicht aufgefallen, dass mir so etwas fehlt.“

Gerührt hob Sophie ihr Glas: „Auf meine wunderbare Familie, auf den wunderschönen Tag mit euch. Ich war all die Jahre so in mich gekehrt, dass ich es gar nicht gemerkt habe, wie sehr ich euch vermisst habe.“ Ihre Augen schimmerten verdächtig blank und Friedrich war froh, dass Sophie jetzt ehrlich aussprechen konnte, wie es in ihr aussah. Voller Mitleid fühlte er, wie traurig ihr Leben, das eigentlich nur eine Flucht in die Arbeit gewesen war, ausgesehen hatte. Er fühlte aber auch, dass dies für Sophie der Anfang in ein glücklicheres Leben war.

Kapitel 7

Sophie hatte gründlich ausgeschlafen, was Molly mit ungeduldigem Miauen quittierte. Sie hatte ein dringendes Geschäft zu erledigen und drängte nach draußen. Es war ein wunderschöner Morgen mit strahlendem Sonnenschein. So beschloss Sophie, wieder einen großen Spaziergang zu machen. Mittags aß sie die Reste, die Sarah ihr mitgegeben hatte. Danach machte sie es sich mit Molly auf dem Sofa gemütlich und schmökerte in einem Kriminalroman. Früher hatte sie nie genug Ruhe zum Lesen gehabt und sie genoss diesen Nachmittag sehr.

 

Abends wollte sie aus dem Mehrzweckraum eine neue Dose für Molly holen, als ihr eine Bodenklappe in der Nische neben der Gästetoilette auffiel. Sie sah sich um und fand den Öffner, hakte ihn in den Ring und zog eine Treppe herunter. Neugierig stieg sie hinauf, schaltete das Licht an und sah sich um. Sie stand in einem kleinen Flur ohne Fenster. Es war staubig und die Spinnen waren fleißig gewesen. Altmodische, großgemusterte Tapeten bedeckten die Wände. Vier Türen gingen vom Flur ab. Gleich gegenüber war ein Raum mit einem kleinen Dachfenster. Er war leer bis auf ein einfaches Waschbecken und einen kaputten Eimer. Zur Straßenfront fand Sophie zwei gleich große Zimmer mit je einem Fenster.

Das waren sicher mal die Kinderzimmer, dachte Sophie. Auch diese Zimmer waren staubig, die Wände mit vergilbten Tapeten bedeckt, die Fenster schmutzig.

Das Haus ist ja gar nicht so klein, wenn man bedenkt, wie viel Zimmer hier oben noch sind, dachte sie und öffnete die letzte Tür gleich links neben der Treppe. Das Zimmer war das Spiegelbild vom Zimmer mit dem Waschbecken, nur dass es keines hatte. Sie machte das Licht aus, kletterte wieder hinunter und klappte die Treppe hoch. Nun kenne ich wenigstens jeden Winkel dieses Hauses, dache Sophie zufrieden. Allerdings stellte sie fest, dass sie ganz staubig geworden war und Spinnenweben in ihrem Haar hingen. Also badete sie und wusch ihre Haare. Sie trank ein Glas Rotwein und naschte ein bisschen und genoss den gemütlichen Abend.

Am nächsten Morgen war der Himmel grau, der Wetterbericht sagte erneuten Schneefall voraus. Hoffentlich kommen Papa und Sarah heil wieder nach Hause, dachte Sophie.

Sie beschloss, am Nachmittag den verschobenen Krankenhausbesuch nachzuholen. Ihre Lebensmittelvorräte waren mehr als dürftig. So fuhr sie zunächst in die Stadt, bummelte herum und ging in ein kleines Restaurant in der Altstadt. Sie hatte Glück, dass gerade ein kleiner Tisch freigeworden war, denn an Feiertagen waren die Restaurants im Allgemeinen fast ausgebucht. Sie wählte Zanderfilet und dazu einen trockenen Weißwein. Sie genoss es, hier allein zu sitzen und nicht reden zu müssen, und wunderte sich darüber. Früher war sie vor dem Alleinsein zurückgeschreckt, weil sie unweigerlich von Verzweiflung überwältig worden war.

Nach dem gemütlichen Teil fuhr sie ins Krankenhaus und ging dort schnurstracks in die Chirurgie. Auf der Station fragte sie, in welchem Zimmer Hans Gollmann liegt.

„Hans Gollmann?“, fragte eine der Schwestern. Aus dem hinteren Zimmer kam ein Arzt mit Papieren in der Hand, der Kittel offen.

„Ah, da ist ja unsere tapfere Lebensretterin“, sagte er und gab Sophie lächelnd die Hand. „Wenn Sie nicht so aufgepasst hätten, dann wäre er dort unten verblutet.“ In der Dunkelheit und bei dem Schneetreiben an der Unfallstelle hatte sie den Notarzt gar nicht so genau gesehen und ihn auch nicht wieder erkannt. Sie überlegte einen Augenblick, dann fiel ihr der Name wieder ein.

„Herr Doktor Baier, ich wollte Herrn Gollmann besuchen und sehen, wie es ihm inzwischen geht.“

„Tja, das ist was, das kann ich Ihnen sagen. Der Mann wurde auf eigenen Wunsch entlassen und am nächsten Tag abgeholt. Sie werden es nicht glauben, er wurde mit einem Hubschrauber in seine Heimat geflogen in Begleitung eines Arztes. Unser Patient heißt aber nicht Gollmann.“

„Wohin wurde er gebracht und wieso heißt er nicht Gollmann“, fragte Sophie erstaunt.

„In die Schweiz. Es ist einiges schief gelaufen. Der begleitende Arzt hat in der Verwaltung einen großzügigen Barbetrag für die Krankenhauskosten abgegeben und die in der Verwaltung waren darüber wohl so verwirrt, dass sie versäumt haben, die Personalien abzugleichen Also wissen wir im Moment den Namen des Verletzten nicht. Wir haben es nämlich erst gemerkt, als der richtige Hans Gollmann seine Papiere hier abholen wollte, der vor dem Unfall den BMW gemietet hatte, und sie darin vergessen hatte. Sie selbst haben ja die Papiere im Handschuhfach gefunden!“

„Das ist ja...“, sagte Sophie stirnrunzelnd. Die Gedanken stürmten auf sie ein. Jutta Plambeck hatte ihr doch von dem Mann mit dem Schweizer Dialekt erzählt, der nach ihr gefragt hatte. Vielleicht hatte sie sich das Kennzeichen notiert, zuzutrauen war es ihr. Wenn dieses Kennzeichen mit dem des Mietwagens übereinstimmte, dann hätte sie zumindest Gewissheit, dass der Verletzte und der Mann, der nach ihr gefragt hatte, ein und dieselbe Person waren, und dieser Mann absichtlich hinter ihr hergefahren war.

„Haben Sie zufällig das Kennzeichen des Unfallwagens?“, fragte sie und sah Doktor Baier an.

„Nein, darum hat sich eine Abschleppfirma gekümmert. Wozu brauchen Sie das Kennzeichen, es war doch ohnehin ein Mietwagen.“

„Das ist eine lange Geschichte. Ich glaube, heute reicht die Zeit dafür nicht.“

Doktor Baier lächelte. „So geheimnisvoll?“

„Wissen Sie, wie die Mietwagenfirma heißt?“

Doktor Baier sah sich nach den Schwestern um und eine Schwester nannte wie aus der Pistole geschossen Namen und Telefonnummer. Sie hatte den Dialog gespannt verfolgt.

Vielleicht erfahre ich bei der Firma, wie der verletzte Mann wirklich heißt, dachte Sophie.

„Arbeiten Sie oft als Notarzt?“

„Es geht. Wir wechseln uns ab. Ansonsten bin ich hier in der Chirurgie. Und Ihr Fachgebiet?“

„In Hamburg habe ich dasselbe gemacht, wie Sie. Aber nun wird sich ja einiges ändern.“

„Möchten Sie einen Kaffee?“

Sophie lehnte dankend ab. Sie wollte nach Hause, um in Ruhe über diese Vorfälle nachzudenken.

„Na, dann wünsche ich Ihnen einen guten Einstand in Ihrer Praxis. Wir sehen uns in Zukunft sicher öfter. Ihren Vater kenne ich gut. Er hat seine Patienten hier immer besucht.“

Aha, das ist typisch Papa, dachte Sophie. Sie schüttelte Doktor Baier herzlich die Hand zum Abschied, schaute in die Runde und bedankte sich.

Papa und Sarah sind heil nach Hause gekommen, dachte Sophie als sie drüben das Licht aus den Fenstern scheinen sah. Als sie aus ihrem Auto stieg, fielen die ersten Schneeflocken sachte hernieder, einen halben Tag später als angekündigt.

Kapitel 8

Gleich am nächsten Morgen rief Sophie bei Jutta Plambeck an und fragte sie, ob sie wohl rein zufällig auch das Autokennzeichen des fremden Mannes aufgeschrieben hatte. Jawohl, das hatte sie und ein gewisser Stolz auf ihre Pfiffigkeit war deutlich herauszuhören. Sophie notierte das Kennzeichen und fragte:

„Hast du eigentlich noch Kontakt zu Birgit Will, ich weiß gar nicht, wie sie jetzt heißt. Ich habe sie und ihre Familie Heiligabend bei der Kirche getroffen.“

„Na ja, Kontakt nicht direkt. Aber die wohnen doch bei dir im Ort. Tobias ist Birgits Sohn aus erster Ehe. Er heißt noch Dölling. Sie hat im letzten Jahr Jürgen Bernauer geheiratet.“

„Oh, das habe ich nicht gewusst. Du bist ja der reinste Wissensquell.“ Ein bisschen Honig um den Bart kann nicht schaden, dachte Sophie, vielleicht brauche ich sie noch mal. Aus reiner Höflichkeit fragte sie Jutta noch, wie sie die Weihnachtsfeiertage verbracht hätte. Jutta ließ sich nicht lange bitten und plapperte drauflos. Sie war offensichtlich froh, ein Opfer gefunden zu haben.

Der nächste Anruf galt der Mietwagenfirma Rent-Müller. Es meldete sich ein Herr Berger.

„Es geht um den Fahrer und den Unfallwagen. Können Sie mir den Namen des Fahrers und das PKW-Kennzeichen sagen? Es war ein schwarzer BMW.“

„Tja, warten Sie bitte, ich muss die Unterlagen heraussuchen. Warum fragen Sie überhaupt danach?“

„Ich bin die Ärztin, die den Mann gefunden hat, und möchte mich nach seinem Befinden erkundigen.“

„Ach so, kleinen Moment.“ Er schaltete sie in eine Warteschleife, wo sie sich dreimal die kleine Nachtmusik anhören musste, die von Zeit zu Zeit mit der Ansage ‚Bitte warten Sie’ unterbrochen wurde.

„So, ich bin wieder dran. Der Wagen wurde von einer Detektei aus Zürich gemietet. Der Fahrer hieß Anton Vahren. Das Auto ist natürlich Schrott.“ Er nannte ihr das Kennzeichen, das mit dem von Jutta genannten überein stimmte

„Haben Sie auch eine Telefonnummer von der Detektei oder dem Herrn Vahren?“

„Nur die von der Detektei kann ich Ihnen geben. Von Anton Vahren liegt nichts weiter vor.“

Sophie notierte die Telefonnummer und bedankte sich bei Herrn Berger.

Sophie legte langsam den Hörer auf und ließ sich auf dem Sofa niedersinken.

Was hat das nun zu bedeuten, überlegte sie. Der Mann, den sie gerettet hatte, war ein Detektiv aus der Schweiz. Sie hatte aber keine Verbindungen in die Schweiz. Anton Vahren hatte sich vor dem 22. Dezember im hiesigen Einwohnermeldeamt nach ihr erkundigt. Sie hatte sich schon vorher in Hamburg abgemeldet. Es sah so aus, als wollte er ihren Aufenthaltsort feststellen. Als er von Jutta Plambeck erfahren hatte, dass Sophie nicht hier wohnte, hatte er sie wahrscheinlich bereits in Hamburg überwacht und am Abend des 22. Dezember bis nach Hause verfolgen wollen. Bei dem starken Feierabendverkehr hatte sie das natürlich nicht bemerkt. Wie sollte sie auch, sie war ja völlig ahnungslos gewesen.

Ruhelos ging sie im Haus hin und her. Warum, so grübelte sie, war dieser Mann hinter ihr her. Hatte es etwa mit der Vergangenheit zu tun, steckte ihr Mann dahinter? Entschlossen griff sie zum Telefon und wählte die Schweizer Nummer.

„Grüezi, was können wir für Sie tun?“ Eine Frau war am Telefon.

„Guten Tag, ich möchte Anton Vahren sprechen.“

„Das tut uns leid. Herr Vahren steht im Moment nicht zur Verfügung.“

„Ich bin die Ärztin, die Herrn Vahren gerettet hat, und möchte ihm gern meine Genesungswünsche schicken. Wie kann ich ihn erreichen.“

„Oh, wir haben von Ihrem Einsatz gehört und wir möchten uns bei Ihnen ganz herzlich bedanken. Es tut uns wirklich aufrichtig leid, aber Herr Vahren braucht absolute Ruhe. Ich werde ihm ausrichten, dass er sich persönlich bei Ihnen meldet, sobald es ihm besser geht.“

„Verbinden Sie mich bitte mit Ihrem Chef.“

„Wenn Sie unbedingt wollen.“

„Grenzer, Sie wollen mich sprechen?“

„Herr Grenzer, ich weiß, dass Herr Vahren mich überwacht hat. Bitte, sagen Sie mir warum.“

„Unsere Detektive arbeiten selbständig. Ich bin nicht informiert.“

„Aber Sie werden doch wissen, wer sein Auftraggeber war.“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Was er mit seinem Auftraggeber vereinbart hat, ist vertraulich. Bitte, verstehen Sie das. Er muss es klären, wenn er wieder gesund ist.“

Sophie merkte, dass sie telefonisch nichts erreichen würde.

„Na gut, dann lassen wir das. Aber Sie können gewiss sein, dass ich nicht aufgeben werde.“

Ärgerlich knallte sie den Hörer auf und atmete tief durch. Sie nahm sich vor, mit dem Nachfolger von Hans Rosemann darüber zu sprechen. Vielleicht hatte er bessere Möglichkeiten als sie.

Molly tat so, als würde sie die Unruhe im Hause nicht bemerken. Sie hatte sich auf dem Sofa zusammengerollt und ihre Pfoten über ihr Gesicht gelegt. So geht es nicht weiter, dachte Sophie, streichelte Molly und machte sich zu einem langen Spaziergang auf, der ihre aufgewühlten Nerven beruhigte.

Am nächsten Morgen erhielt sie einen Anruf von der Möbelfirma, die die Lieferung ihrer Möbel für den nächsten Tag ankündigte. Leider konnten sie keine genaue Uhrzeit angeben, so dass Sophie sich zu Hause aufhalten müsste.

Sie fragte während des Telefonats, ob vielleicht ein Bücherregal und ein Phonotisch in gleichem Material vorrätig seien und ob diese Möbel dann gleich mitgeliefert werden könnten. Die Dame an der Rezeption fragte im Lager nach und sagte ihr dann, dass sie einige Kleinmöbel da hätten, sie möge doch vorbeikommen und sich etwas aussuchen.

Sophie musste ohnehin Lebensmittel einkaufen, da sie bisher von ihren kärglichen Vorräten und Sarahs Resten gelebt hatte. Dann konnte sie sich gleich noch die Möbel aussuchen.

Sie fuhr in die Stadt und fand im Möbelgeschäft ein passendes Regal und einen Phonotisch und der Verkäufer versprach ihr, dass die Möbel am nächsten Tag mit geliefert werden würden.

Danach kaufte sie jede Menge Lebensmittel ein. Davon kann ich jetzt wohl mindestens einen Monat leben, dachte sie, als sie die Berge im Kofferraum sah. Dennoch ging sie noch in eine Weinhandlung und kaufte einige Flaschen vom allerbesten Wein und eine Flasche Sekt, schließlich war in ein paar Tagen Sylvester.

Am späten Nachmittag kam sie nach Hause. Der Himmel war grau und es wurde früh dunkel. Sophie schleppte ihre Einkäufe ins Haus, verstaute ihre Vorräte, verpackte Fleisch und Brot zu kleinen Portionen und fror es ein.

 

Molly lief ihr dabei ständig vor den Füßen herum und einmal stolperte Sophie und fiel fast hin. Sie nahm Molly auf den Arm und streichelte sie, aber Molly strebte von ihr fort. „Was willst du denn, du hast wieder Hunger, was?“ Erstmal wurde Molly gut durchgebürstet, bis ihr Fell glänzte, dann gab Sophie ihr Futter. Molly machte sich schnurrend darüber her und sank vor ihren Fressnapf nieder wie eine große, dicke Lakritzenmaus.

Sophie war nicht mit sich im Reinen. Seit ihren Nachforschungen über den Privatdetektiv fühlte sie sich von ihrer Vergangenheit verfolgt. Es war bedrohlich, überwacht zu werden. Andererseits hätte sie es gar nicht gemerkt, wenn der Mann nicht den Unfall gehabt hätte. Es war wohl keine reale Bedrohung, der Mann hatte nur ihren Aufenthaltsort feststellen wollen, versuchte Sophie sich zu beruhigen.

Ich muss mit Papa noch die Übernahme des Hauses abwickeln, vielleicht hat Papa Zeit, die Praxis ist mittwochs nachmittags geschlossen, dachte Sophie. Sie zog ihre Jacke an und ging hinüber.

Sarah machte die Tür auf und begrüßte sie fröhlich. Ihr Vater stand mit Jacke und Pelzmütze im Flur und wollte gerade zu einem Hausbesuch aufbrechen.

„Sarah, dann komm du wenigstens mit zu mir, du hast meine Wohnung noch gar nicht gesehen“, bat Sophie. Sarah freute sich über die Einladung und zog ihren Mantel an.

„Papa, wenn du fertig bist, kannst du nachkommen. Ich lade euch zum Abendessen ein. Wir müssen doch noch über das Haus reden.“

„Ja, gern. Übrigens Termin beim Rechtsanwalt ist am neunten Januar, wenn es dir recht ist. Bis nachher.“

Sarah hakte sich bei Sophie unter. „Wir können gemeinsam das Abendessen vorbereiten. Friedrich wird nicht lange brauchen.“

Sarah bewunderte die Einrichtung und fand es sehr gemütlich. Genau das hatte Sophie gebraucht, ein bisschen Gesellschaft, und ihre innere Ruhe kehrte wieder ein.

„Leider habe ich noch keinen Esstisch. Die Möbel kommen Morgen. Heute müssen wir noch in der Küche essen.“

„Um so besser. Hier ist es so gemütlich“, sagte Sarah und setzte sich auf die Eckbank. Sophie deckte den Tisch, legte Wurst, Käse und Salate auf Teller und kochte Tee. Sarah schnitt Tomaten und Gurke und plauderte über die beiden Weihnachtstage mit Lily bei Friederike.

„Das ist wirklich ein zugiger, alter Kasten. Aber Friederike ist sehr nett und ganz lieb zu Lily und Emma. Sie war so froh, dass die beiden noch bei ihr geblieben sind. Jahrelang hat sie Arno, ihren Mann, gepflegt und dabei sind ihre Freundschaften auf der Strecke geblieben. Verwandte hat sie auch nicht mehr. Und sie hat Probleme mit ihrer Hüfte. Sie geht am Stock. Ich glaube, ein Wort von Lily und sie würde zu ihr ziehen.“

„Ach Sarah, ich glaube, das ist auf die Dauer nicht so gut für Lily. Aber wenn Friederike sich dort so allein fühlt, muss sie hierher ziehen.“

„Wo soll sie denn wohnen?“

„Was weiß ich. Papa kommt doch viel bei den Leuten herum, vielleicht will hier in der Nähe gerade Jemand sein Haus verkaufen.“

„Ja, dann hätte sie uns alle in der Nähe. Ich werde Friedrich fragen, ob ihm dazu etwas einfällt. Da kommt er schon.“

Friedrich öffnete die Tür, trat den Schnee von den Füßen und kam herein. Sophie nahm ihm den Mantel ab.

„Du kommst gerade recht. Der Tee ist fertig, wir können essen. Papa, magst du dich zu Sarah auf die Bank setzen.“ Zwischen Friedrich und Sarah in der Ecke drehte Molly sich auf den Rücken und räkelte sich.

„Guten Appetit“, wünschte Sophie und schenkte Tee ein. Während sie aßen, berichtete Sarah Friedrich, dass sie überlegt hatten, wie es mit Friederike weitergehen sollte.

Friedrich nickte nachdenklich und sagte: „Da habt ihr eigentlich recht.“ Er sah Sarah an und schmunzelte. „Eigentlich könnten wir eine Alten-Wohngemeinschaft aufmachen. Aber unten ist nur noch der Salon, den wir als Schlafzimmer umrüsten müssen, wenn wir nicht mehr die Treppe hochkommen. Und Friederike muss eine Wohnung zu ebener Erde haben.“

„Dein Papa muss solche revolutionären Ideen immer erstmal sacken lassen. Und irgendwann fällt ihm etwas ganz Kluges ein.“ Friedrich grinste nur dazu.

„Ja, und nun zu deinem Haus. Ich habe im letzten Jahr Margarethes Elternhaus in der Stadt verkauft. Das Haus war stark sanierungsbedürftig, aber das große Grundstück war eine Menge wert. Ich habe gutes Geld dafür bekommen. Lily hat von mir ihr Grundstück und einen Zuschuss für ihr Haus bekommen, die andere Hälfte bekommst du für dein Haus. Wenn du einverstanden bist, brauchst du mir nur noch einen kleinen Teil geben.“ Er nannte eine Summe.

„Oh, Papa, dann habe ich ja noch eine Menge übrig von meinen Ersparnissen. Dann muss ich nicht mal ein Darlehen aufnehmen.“

„Vielleicht möchtest du die Praxis neu einrichten.“

„Nein, auf keinen Fall. Die bleibt, wie sie ist. Aber ich werde einen Teil in die Datenverarbeitungsanlage stecken müssen. Der Bildschirm in deinem Behandlungszimmer bleibt doch immer schwarz, glaube ich. Oder?“

Sarah lachte. „Friedrich verlässt sich lieber auf seine Karteikarten. Aber für die Abrechnung mit den Krankenkassen gebe ich alles in den Computer ein.“

Friedrich lehnte sich zurück und zog die Augenbrauen hoch. „Dann können die Patienten wenigstens nicht auf dem Computer lesen, was ich über sie zu vermerken habe.“

„Nein“, sagte Sophie, „aber wenn du den Raum verlässt, könnten sie in den Karteikarten schnüffeln. Oder vielleicht doch nicht? Deine Schrift können sie sicher nicht entziffern.“ Sarah und Sophie lachten und Friedrich machte ein gespielt böses Gesicht.

„Bisher hat Sarah bei mir als Arzthelferin gearbeitet, du musst sie schon fragen, ob sie es bei dir weiterhin machen will.“

Sophie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Da seht ihr mal, wie unbedarft ich bin. Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Sarah, würdest du es für den Anfang noch machen? Ich werde mich bemühen, ganz schnell Ersatz für dich zu finden. Ihr sollt doch endlich mal etwas für euch tun, verreisen und so. Immer wart ihr für uns da. Wir dürfen euch nicht weiter ausnutzen. Hin und wieder vielleicht?“

„Natürlich helfe ich dir, so lange du mich brauchst.“

Bald stand Friedrich auf. „Vielen Dank für das gute Essen, Tochter. Aber jetzt muss ich die Füße hochlegen und endlich meine Zeitung lesen. Dazu bin ich heute noch nicht gekommen.

„Ja, vielen Dank, du hast gut eingekauft.“ Sarah nahm sie in den Arm und Sophie sah ihnen nach bis zur Straße.

Gerade die richtige Zeit, um Anne anzurufen, dachte Sophie und hatte Glück. Anne war gerade aus dem Krankenhaus gekommen.

„Es geht Hans schon viel besser, am zwölften Januar fahren wir in eine Reha-Klinik an der Ostsee, stell dir vor. Ich freue mich. Der Herzinfarkt war nicht ganz so schlimm, wie es zunächst aussah. Hans geht es schon wieder ganz gut. Er darf aufstehen, natürlich mit Hilfe einer Krankengymnastin, mit der er übrigens herumschäkert. Die Übungen werden von Tag zu Tag gesteigert.“

„Das ist toll, Anne. Und ich habe den Platz unter der Kastanie für euch gefunden.“

„Ja, wie das?“

„Er steht mitten in meinem Garten. Ich habe von Papa ein Haus bekommen, ein schnuckeliges, kleines Hexenhaus mit einem großen Garten. Vom Garten ist allerdings nichts zu sehen, außer Schnee. Es ist wundervoll.“

„Du, sobald wir von der Kur zurück sind, werden wir dich besuchen. Übrigens, Hans hat mit seinem Nachfolger schon über deine Sache gesprochen. Wir sind beide sehr von ihm angetan. Er hat Hans nämlich im Krankenhaus besucht, obwohl sie sich bisher nur flüchtig kannten. Das fanden wir ausgesprochen nett.“

Das fand Sophie auch.

„Ich freue mich auf die Ostsee“, fuhr Anne fort. „und auf lange Spaziergänge am Strand. Ich habe mir schon lange einen Urlaub im Winter an der See gewünscht.“

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