Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau

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Der Traum vom Haus

Ella hielt beim Schreiben inne und dachte plötzlich an alte Zeiten, wie ehrgeizig sie immer war und wie sie vorwärtskommen wollte. Von diesem Ehrgeiz merkte sie zumindest bei ihren Söhnen nichts. Sie wollte immer wieder Neues schaffen, das trieb sie an. Außerdem war sie fast krankhaft ordentlich, und wenn sie daran dachte, wie nach ihrem Auszug zu Hause alles heruntergewirtschaftet wurde, fühlte sie einen großen Druck auf ihrer Seele. Sie dachte an die Zeit, als sie das Haus gebaut hatten und wie viel Geld, Anstrengungen und Mühe es gekostet hatte, alles zu planen und in die Tat umzusetzen. Die Kinder wurden größer und nachdem alle noch in einem Zimmer zusammen wohnten, dachte Ella immer öfter an ein eigenes Haus. Ein Haus, in welchem jedes Kind ein eigenes Zimmer hätte. Der Gedanke an ein daran nahm immer mehr Raum ein und sie besprach die Idee mit ihrem Bruder. „Einen zuteilungsreifen Bausparvertrag könnte ich dir geben, er wäre sozusagen dein Erbteil. Es ist zwar keine große Summe eingezahlt, aber er ist reif für die Zuteilung und das ist für dich wichtig“, meinte ihr Bruder. Und so schaute sich Ella nach einem passenden Grundstück um. Sie erinnerte sich noch, dass sie damals immer so voller Tatendrang und voller Ehrgeiz war; sie wollte immer das Ziel erreichen, das sie sich vorgenommen hatte, egal wobei. Sie wusste natürlich, dass es schwer sein würde, alles alleine zu schaffen, und sie wusste, ihr Mann würde sich um nichts kümmern, aber er war damit einverstanden, dass sie zu einem eigenen Haus kommen würden. Sie wusste auch, sie würde Genehmigungen einholen müssen und mit Handwerkern verhandeln, doch sie war wie besessen von der Idee.

Sie fing an, Zuschüsse zu beantragen wegen der Kinder, und arbeitete verbissen daran, ein eigenes Haus zu bauen - und erreichte alles. Sie verhandelte mit Banken, mit den Herren vom Stadtbauamt und es dauerte nicht lange, bis das Grundstück gefunden war und sie mit dem Bau beginnen konnten. Es sollte ein Haus mit einem flachen Dach im Atrium-Stil werden. Mit der Unterstützung von Nick und ihrem Bruder würde sie viel schaffen. Den Rohbau wollte sie von einer Baufirma erstellen lassen und begann, Angebote einzuholen. Fenster und Türen sollte eine Schreinerei fertigen, alles Elektrische würden die Leute aus der Firma ihres Mannes erledigen. Sie hatte nur noch Gedanken für das Haus, dessen Planung und wie es einmal aussehen würde, wenn alles fertig war. Ohne vorherige Absprache mit Ella hatte sich ihr Mann, der sich nie um etwas kümmerte, von einem Vertreter einen Vertrag für ein Beton-Fertigdach andrehen lassen, und um ihn nicht bloßzustellen, willigte Ella ein, obwohl sie lieber ein Flachdach mit Holzkonstruktion gehabt hätte. Einerseits war sie überrascht, dass Paul sich plötzlich um etwas kümmerte, doch sie hätte wenigstens erwartet, dass er solch wichtige Entscheidungen vorher mit ihr absprechen würde.

Ella dachte daran, wie stolz sie war bei dem Gedanken, bald Hausbesitzerin zu sein. Tagelang malte sie sich aus, wie alles sein würde. Die Buben, Tobias und Pit, würden zusammen ein großes Zimmer haben. Anna bekäme zwar ein kleineres Zimmer, doch sie freute sich unwahrscheinlich, endlich ein eigenes Reich zu bekommen. Das Schlafzimmer würden ihr Mann und sie immer noch zusammen haben, denn die Kinder sollten nicht merken, wie es um die Ehe der Eltern stand. Sie plante ein großes Wohnzimmer verbunden mit einer schönen Essecke. Gleich neben der Essecke sollte die Küche sein, von der es einen Abgang in den Keller geben würde. Gleich neben dem Abgang in den Keller würde es noch einen kleinen Raum geben, den man als Gästezimmer einrichten könnte. Sie würden dann ein schönes Bad und eine separate Toilette haben. Vom Wohnzimmer könnte man dann auf die Terrasse gehen und den Garten überblicken. Den Garten anzulegen würde viel Arbeit bedeuten, aber dann hätte die Mietze auch täglichen Auslauf. In der Nachbarschaft war ein unbebauter Acker, von dem wollte sie die Erde holen und durchsieben, die sie für den Garten brauchte. Viel Arbeit würde auf sie zukommen, aber Arbeit scheute Ella nicht. Sie erlebte alles, wenn sie an diese Hausbauzeit dachte, noch einmal, schwelgte in Erinnerungen und setzte gleich ihre Hände an die Tasten.

Nachdem jeder Bungalow in dieser Siedlung im Atrium-Stil gebaut werden musste, gab es laut Bauplan, den man mit dem Kauf des Grundstücks bekommen hatte, zum Nachbar hin eine Trennmauer. Diese Mauer war aus Kalk-Sandsteinen und die Zwischenräume zwischen den Steinen mussten verfugt werden. Ich konnte mir natürlich ausmalen, was da auf mich zukommen würde. Vater bot sich an, diese Mauer zu bauen und erklärte mir, dass man die Zwischenräume zwischen den Steinen mit einem Gemisch aus Sand, Zement und Wasser ausfüllen könnte, und das müsste ich dann selbst machen, denn ein Handwerker würde für diese Arbeit viel zu teuer werden.

Alles hatte ich durchdacht und organisiert. Es verlief alles wie geplant, und mit dem Rohbau wurde noch vor dem Wintereinbruch begonnen. Es passte alles wunderbar in meinen Zeitplan, sogar, dass die Baufirma gerade einen Termin frei hatte. Im Haus selbst war mein Bruder unentbehrlich. Alles was Wasserleitungen und Fliesen betraf, erledigte er, und Nick ging ihm tatkräftig zur Hand, wo immer er konnte. Beide waren sehr geschickt in allen handwerklichen Arbeiten, und wir mussten sparen, wo wir nur konnten. Mein Mann wurde von meinem Bruder in die Arbeiten mit einbezogen, was ihm manchmal überhaupt nicht in den Kram passte, und er versuchte, sich dauernd mit irgendwelchen Ausreden vor der Arbeit zu drücken. Vater wollte natürlich auch mithelfen, was mir gar nicht recht war, denn er hatte ein paar Monate zuvor einen Herzinfarkt erlitten und musste sich noch schonen. Aber er ließ nicht locker und so war ich damit einverstanden, dass er die Terrasse betonierte, denn er hatte ja nach dem Krieg vorübergehend als Maurer gearbeitet. Die Innenarbeiten gingen flott voran. Ich arbeitete zu der Zeit wie besessen und half überall mit. Über den Winter musste der Rohbau dann austrocknen, und im Frühjahr war es endlich so weit, die Maler konnten kommen, und nach ein paar Wochen konnten wir einziehen. Nie werde ich vergessen, wie stolz und glücklich ich war, und wie die Kinder sich freuten, endlich ein eigenes Reich zu haben.

Wir mussten damals mit dem Geld wirklich sparsam umgehen, und so verlegten wir die Teppichböden im ganzen Haus selbst. Davor musste jedoch der Fußboden, der aus Estrich bestand, mit einer Bindeschicht überstrichen werden, damit der Teppichboden haften konnte, denn im ganzen Haus war eine elektrisch gesteuerte Fußbodenheizung. Durch das Auftragen der Bindeschicht wurde verhindert, dass sich beim Einschalten der Heizung der Teppich wölbte. Diese Schicht strich ich selbst auf die Böden im ganzen Haus, und durch das Einatmen der Dämpfe wurde ich dann auch noch krank. Zuerst war mir tagelang übel, dann bekam ich am ganzen Körper eine Art Nessel-Sucht. Ich kam in die Hautklinik und musste dort vier Wochen bleiben. Die vielen Untersuchungen und Allergie-Tests führten zu keinem Ergebnis, so dass der dortige Oberarzt der Meinung war, das könnte von den Nerven kommen, nachdem diese Nessel-Sucht meist nur dann auftrat, wenn ich mich aufgeregt hatte. Dieser Arzt bemühte sich sehr, die Ursache zu finden. Er machte Tests, forschte tagelang nach, was es wohl sein könnte. Bei dem Medikamententest kam er dann zu einem Ergebnis. Ich erhielt das Schmerzmittel Salizylsäure als 100-prozentige Lösung zum Einnehmen und bekam plötzlich ganz furchtbare Schwellungen. Meine Lippen wurden ganz dick, mein Gesicht war gerötet und geschwollen und auf meinem Kopf an der Kopfhaut bildeten sich Beulen, die aussahen, als wäre mein Kopf eine Berg- und Tal-Bahn. Ich musste im Anschluss daran täglich mehrere Ampullen Kalzium einnehmen und bekam nach meiner Entlassung aus der Klinik noch ein halbes Jahr lang Kalzium und diverse Spritzen. Der Oberarzt meinte, es würde mir noch einige Zeit eine Bestrahlung mit einer Höhensonne guttun, doch damit sei die Abteilung nicht ausgestattet. Leider ließ sich der Professor, der die Krankenabteilung leitete, nur einmal in der Woche kurz bei den Patienten blicken, denn den Herrn Professor interessierten nur seine Privatpatienten. Ich sah, dass er im Untergeschoss des Krankenhauses eine eigene, private Abteilung hatte und dort auch recht gut eingerichtet war, sogar mit einer Höhensonne, wovon die Patienten in der normalen Abteilung leider nicht profitierten. Aus lauter Langeweile studierte ich das Krankenblatt an meinem Bett, und diverse Eintragungen verstand ich nicht. Ich befragte die Stationsschwester, was die einzelnen Eintragungen zu bedeuten hätten. „Das sind Tabellen mit Aufzeichnungen, die Aufschluss darüber geben, welche Medikamente sie bekommen!“, meinte die Schwester und ich fand heraus, dass diverse Medikamente eingetragen waren, die ich überhaupt nie bekommen hatte. Schon damals dachte ich, es wäre besser, wenn jeder Patient nach einer Behandlung oder vielleicht pro Quartal ein Rechnungsduplikat bekommen würde und somit überprüfen könnte, ob die in Rechnung gestellten Medikamente auch wirklich gegeben wurden. Ich konnte über einen solchen Schwindel nur den Kopf schütteln.

Sie unterbrach das Tippen, stand auf und sah aus dem Fenster. Sie blickte über den kleinen Garten in der Nachbarschaft ihres Apartments und schon waren ihre Gedanken wieder bei ihrem eigenen Garten. Ja, viel Arbeit hat er damals gemacht, der Garten, als sie ihn angelegt hatte. Viele Schubkarren voller Erde hatte sie von dem benachbarten Acker geholt. Und erst das Bepflanzen und die Rückenschmerzen danach! Wie hatte sie sich gefreut, als der Garten endlich fertig war und man vom Wohnzimmer aus auf die Terrasse gehen und alles überblicken konnte. Sie erinnerte sich, dass ihr Vater immer meinte, die Terrasse sei doch viel zu groß. Später aber war Ella froh, eine solch große Terrasse zu haben, denn die Kinder brachten oft Freunde mit, und sie veranstalteten dort Grillabende oder feierten Geburtstage.

 

Etwa ein halbes Jahr, nachdem sie in das neue Haus eingezogen waren, fing auch Nick an, ein Haus für sich und seine Mutter zu bauen. Es wurde ein Doppelhaus. Der erste Teil für sich und seine Mutter, der zweite Teil für seine Schwester und deren Familie. Seine Schwester war verheiratet und hatte zwei nette Töchter, die noch klein waren. Sein Schwager war handwerklich nicht sehr geschickt, und so half Nick auch da, wo er nur konnte, und gab erst Ruhe, als endlich alles fertig war und alle einziehen konnten. In dieser Hinsicht haben sich Nick und Ella sehr ergänzt. Sie wollten beide zu etwas kommen, etwas schaffen, etwas erreichen. Seine Mutter fühlte sich damals als die glücklichste Frau auf der ganzen Welt, so sehr freute sie sich über das eigene Heim.

Ella wurde bewusst, dass sie die ganze Zeit an Vergangenes dachte, doch die Wirklichkeit ließ sich nicht verdrängen. Es war spät geworden und sie war müde und ging zu Bett. Im Apartment stand sie am Morgen früher auf, denn der Weg zur Arbeit dauerte jetzt etwas länger als zu der Zeit, in der sie noch im eigenen Haus wohnte. Bei einigen Besorgungen nach Büroschluss traf sie eine Bekannte von der sie erfuhr, dass die Freundin von Tobias gleich nach ihrer Abwesenheit zu den beiden Männern ins Haus gezogen war. „Das ging ja schnell“, dachte Ella und war auch gleichzeitig etwas enttäuscht. Sie wusste, das mit den beiden, mit Becca und Tobias, konnte nicht gut gehen. Aber vielleicht war es gut so und der Junge merkte endlich, dass Becca nicht die richtige Frau für ihn war. Am Anfang, in der ersten Verliebtheit, das wusste sie aus Erfahrung, sah alles so schön rosig aus, aber später dann, wenn man zusammenlebte, kam alles ganz anders. Sie war der Meinung, die beiden passten nicht zusammen. Ella erinnerte sich an den ersten Gedanken, den sie hatte, als Tobias ihr das Mädchen vorstellte: „Intelligenz und Dummheit! Das passt doch überhaupt nicht zusammen.“ Das konnte einfach nicht gut gehen, das sah sie sofort. Ella kam damals gerade vom Einkaufen nach Hause, da saßen beide, Tobias und das Mädchen, auf der Terrasse. Er stellte sie ihr vor als Becca. Er erzählte, sie beide hätten sich vor kurzem im Zug kennengelernt, Becca würde eine Hauswirtschaftsschule besuchen und so seien sie sich nähergekommen. Die beiden wollten jetzt zum Schwimmen gehen und danach nochmals vorbeikommen. Am Abend bei einer Flasche Wein hatte sich Ella dann das Mädchen genauer angesehen. Sie sah ja gar nicht übel aus, aber diese Stimme?! Wenn die Stimme lauter wurde, wurde sie gleichzeitig hoch und ganz schrill, das fiel Ella als erstes auf und das störte sie. „Besonders intelligent scheint sie nicht zu sein“, dachte Ella. Von einem gemütlichen Abend konnte nach der Rückkehr der beiden überhaupt nicht die Rede sein. Es dauerte gar nicht lange, und die beiden jungen Leute zogen sich in das Zimmer von Tobias zurück. Das gefiel Ella gar nicht. Am Tag, an dem man seine Freundin den Eltern vorstellt, gleich im Zimmer verschwinden, das gehörte sich nicht. Den ganzen Abend ließen dann beide nichts mehr von sich hören, und so gingen Ella und ihr Mann zu Bett. Nachts wachte Ella durch ein Geräusch aus dem Schlaf auf. Sie sah auf die Uhr. Es war vier Uhr früh. Um diese Zeit schlich sich das Mädchen aus dem Haus. Ella war entsetzt. Benahm man sich heutzutage so, wenn man das erste Mal Gast bei den Eltern des Freundes war? Ella konnte den Rest der Nacht nicht mehr schlafen. War sie vielleicht altmodisch, wenn sie so dachte? Ihre Enttäuschung war so groß, sie konnte an nichts anderes mehr denken. Tobias und das Mädchen waren die halbe Nacht zusammen, sicher hatten sie miteinander geschlafen. Ging das in der heutigen Zeit so schnell, das mit dem Bett? In ihrer Jugendzeit wäre es undenkbar gewesen, nach der Bekanntmachung bei den Eltern gleich im Bett zu landen. Sie war so enttäuscht von ihrem Sohn. Hatte er denn gar keinen Anstand? Man konnte doch ein Mädchen, das man gerade kennengelernt hatte, nicht gleich mit ins Bett nehmen. Tobias war doch gut erzogen.

Ella sprach danach tagelang kein Wort mehr mit Tobias, so enttäuscht war sie von ihrem Sohn, denn ein gewisses Maß an Anstand hatte sie von ihm schon erwartet. Hatte er denn überhaupt kein Schamgefühl? Niemand konnte sich vorstellen, wie sie an dieser Enttäuschung litt. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass ihr Jüngster erwachsen geworden war. Ella konnte es sich nicht verkneifen und sprach das Thema bei Pit und Anna an. Doch statt in entrüstete, sah sie nur in schmunzelnde Gesichter. Tobias verstand ihre Reaktion nicht, und von diesem Abend an war er jeden Tag bei Becca. Seit dieser Bekanntschaft hatte er sich sehr verändert. Er war viel ernster geworden und nachdenklicher. Bald kam die Zeit und er wurde mit seinem Studium fertig. Sie war sehr stolz auf ihn. Er war jetzt ein frisch gebackener Dipl.-Ing., er hatte sein Diplom auf der Technischen Universität gemacht. Sicher würde jetzt alles anders werden und man würde nicht mehr so sparen müssen. Schon während seiner Studienzeit hatte Tobias ein Jobangebot von einer großen Firma bekommen, bei der er bald zu arbeiten anfing. Er verdiente jetzt als Diplom-Ingenieur so viel, wie sie und ihr Mann zusammen, und sie hoffte, er würde sich nun eine eigene Wohnung nehmen. Er machte jedoch keinerlei Versuche in diese Richtung, ja warum auch? Zu Hause war es doch viel bequemer und mit einer Art Vollpension noch dazu.

Tobias und Becca waren offiziell zusammen, aber sie stritten viel. Ella konnte ihre kreischende Stimme oft aus dem Zimmer von Tobias hören, und das gefiel ihr gar nicht. Becca scheute auch nicht davor zurück, ihn vor seiner Familie oder vor seinen Freunden lächerlich zu machen. Oft stand Tobias dann mit gesenktem Kopf da und ließ sich alles von ihr gefallen. „Wie sein Vater“, dachte Ella. Becca klärte Differenzen nicht unter vier Augen, nein, das geschah immer in der Öffentlichkeit, und das nahm Ella ihr sehr übel und sie mochte sie immer weniger. Sie hatte Angst, dass ihr Lieblingssohn, so nannte ihn jedenfalls seine Schwester Anna, sich da auf etwas einlassen würde, das in ihren Augen nicht gut enden würde.

Vom vielen Grübeln müde geworden, ging Ella schlafen. Am nächsten Morgen erwachte sie schon sehr früh. Sie nutzte die Zeit, um darüber nachzudenken, wie es in der Firma mit ihr und ihrem Arbeitskollegen weitergehen sollte, denn seit einiger Zeit sprachen sie nicht mehr miteinander. Er grüßte sie nicht und ließ sie einfach links liegen, und das tat weh. Bis jetzt war ihr Beruf immer der Ausgleich zu ihrem verpfuschten Privatleben. All ihr Können und ihre Kraft hatte sie da hineingesteckt, sonst wäre sie nie so weit gekommen. Doch jetzt ging es ihr schlecht, und es wurde ihr richtig übel, wenn sie jeden Tag zur Arbeit fuhr. Sie hatte sich in dieser Firma in den vierzehn Jahren, in denen sie dort arbeitete, von einer kleinen Angestellten bis zur Geschäftsführerin hochgearbeitet. Jetzt aber wurde ihr alles vergällt. Ihr Kollege behandelte sie mit einer Überheblichkeit, die sehr kränkend war.

In den Beruf zurückgekehrt war Ella schon, als Tobias noch klein war. Als er in die erste Klasse ging, da suchte sie nach einem Job. Sie bekam einen und arbeitete sieben Jahre im Büro für Export in einer Textilfabrik. Der damalige Geschäftsführer war Frauen gegenüber immer etwas feindlich eingestellt. Er war schon etwas älter, aber immer noch Junggeselle. Wahrscheinlich lag es daran, dass er Frauen immer so herablassend behandelte. In seiner Abteilung gab es drei verschiedene Büros. In jedem dieser Büros arbeitete eine männliche Fachkraft zusammen mit einer weiblichen Halbtagskraft, und immer, wenn irgendwo in der Bearbeitung ein Fehler auftauchte, sagte er grinsend und spöttisch: „Natürlich hat das wieder einmal eine unserer Damen verbockt!“ Er sagte das immer in einer so abfälligen Weise, dass keine der halbtags beschäftigten Damen länger als zwei Jahre geblieben ist. Ella war die einzige, die es dort sieben Jahre aushielt, und auch nur deshalb, weil sie auf das Geld angewiesen war und so manche bissige Bemerkung dieses Herrn einfach ignorierte. Doch eines Tages hatte auch sie die Nase voll und kündigte. Nach einem Jahr Pause suchte sie sich einen neuen Job und fing wieder ganz klein von unten an, als Bürokraft in einer LKW-Werkstatt, wo sie noch heute beschäftigt war und inzwischen eine angesehene Position innehatte.

Der Führerschein

Und sie fand auch eine Möglichkeit, dieses eine Jahr zwischen dem alten und dem neuen Job zu überbrücken, sie machte noch mit vierzig Jahren ihren Führerschein und das kam ihr bei ihrem neuen Job natürlich zugute, denn ohne Führerschein hätte sie den neuen Arbeitsplatz überhaupt nicht bekommen. Man kann nicht in einer Kfz-Werkstatt arbeiten und keinen Führerschein haben. Ja, sie machte den Führerschein und wäre wahrscheinlich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, diesen zu machen, wären nicht Anna, Pit und sogar Tobias durch die Fahrprüfung gerasselt. Ella verstand das nicht. Es konnte doch nicht so schwer sein, einen Führerschein zu machen, dachte sie damals, und so entschloss sie sich klammheimlich zum Besuch einer Fahrschule. Immer, wenn ihre zwei Großen in der Lehre waren und Tobias in der Uni, besuchte sie den Unterricht in der Fahrschule. Wenn sie dann allein zu Hause war, büffelte sie für die Fahrprüfung. Sie sparte eisern und wollte sich, wenn sie die Prüfung schaffen sollte, ein kleines, gebrauchtes Auto kaufen. Und wirklich, sie schaffte die Prüfung und war sehr stolz, dass sie nicht durchgefallen war. Zu der Zeit lebten Ella, ihr Mann und ihre drei Kinder noch gar nicht lange in dem neuen Haus. Das Geld war knapp. Jedes Wochenende suchte sie zusammen mit Nick bei den umliegenden Gebrauchtwagen-Händlern nach einem kleinen Gebrauchtwagen. Sie suchten wochenlang, verglichen Preise und endlich fanden sie einen preisgünstigen Kleinwagen. Ganz heimlich, an einem Wochenende holten sie das Fahrzeug ab. Ella wollte ihre Familie überraschen und war sehr stolz, dass sie als einzige den Führerschein besaß, ohne bei der Prüfung durchgefallen zu sein. Ganz aufgeregt parkte sie das Fahrzeug gleich neben dem Eingang zum Garten und ging ins Haus. Sie konnte es kaum erwarten, bis alle in der Familie heimkamen. Endlich waren alle zum Abendbrot versammelt, außer Tobias, der gerade zur Tür hereinkam und sofort zu schimpfen anfing. „Welcher dämliche Kerl da wohl sein Auto so blöd vor unserem Eingang geparkt hat?“ Ella antwortete: „Das war ich!“ Alle grinsten und Tobias sagte: „Du, ja sehr witzig, du hast ja nicht einmal einen Führerschein!“ Ella griff in die Tasche und legte stolz den Führerschein auf den Tisch, und alle hatten vor Staunen den Mund ganz weit offen. Das Gefühl, als sie so voller Stolz in die ungläubigen Gesichter schaute, würde sie nie vergessen, und nur, weil sie einen Führerschein hatte, bekam sie damals den Job im Büro der Werkstatt. Mit keinem Wort erwähnte sie, wie schwer ihr alles, was mit der Fahrschule zusammenhing, gefallen war. Von Technik verstand sie überhaupt nichts, alles was mit Technik zusammenhing, war schon immer für sie ein rotes Tuch. Sie war mehr musisch und sprachbegabt. Und dann erst die Fahrprüfung! Sie hatte unwahrscheinliche Prüfungsangst, das war schon in der Schule so. Sobald eine Prüfung anstand, fing sie an zu schwitzen und zu zittern. Am Tag vor der Fahrprüfung ging sie zu ihrem Hausarzt und erzählte von ihrer Prüfungsangst. Er gab ihr zwei Tabletten, von denen sie eine am Vortag und eine kurz vor Prüfungsbeginn einnehmen sollte. Und wirklich, am Prüfungstag wurde sie ganz ruhig, nur einmal wurde ihr bewusst, dass sie etwas falsch gemacht hatte, doch der Prüfer sagte kein Wort. Als die Prüfung endlich überstanden war, schaute der Prüfer sie tadelnd an und sagte: „Ich lese hier, Sie tragen Kontaktlinsen, haben Sie die auch drin? Und eine Fahrstunde mehr hätte auch nicht geschadet!“ Dann überreichte er Ella den Führerschein, den sie zitternd entgegennahm. Das war am zehnten Dezember und im folgenden Frühjahr im März konnte sie ihre neue Arbeitsstelle antreten.

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