Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau

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Tief glitten ihre Gedanken in die Vergangenheit. Die Erinnerungen an diese unschöne Zeit musste sie dann aber auch niederschreiben.

Zu der Zeit gab es eine Möglichkeit, nicht mehr schwanger zu werden, indem man sich die Eierstöcke abbinden ließ. Die Pille war ja noch nicht auf dem Markt, und das Unterbrechen beim Akt war eine ganz unsichere Sache. Als am nächsten Tag Visite war, fasste ich mir ein Herz, und bat den Chefarzt um ein Gespräch. Es fiel mir nicht leicht, über solch ein Thema zu sprechen, doch der Arzt kam mir zuvor. Er wollte wissen, warum ich diesen Selbstversuch gemacht hatte, und ich erzählte ihm, dass ich dachte, wieder schwanger zu sein. Verzweifelt bat ich den Arzt, mir zu helfen und meine Eierstöcke abzubinden, doch der Arzt weigerte sich, und meinte, ich sei doch noch viel zu jung. „Vielleicht möchten sie ja später doch noch ein Kind?“, sagte er. Soviel ich ihn auch bat, ihm meine Lage erklärte und ihm erzählte, dass ich wirklich kein Kind mehr wollte, er blieb hart und lehnte eine Abbindung der Eierstöcke ab. Meine Mutter kümmerte sich in dieser Zeit um die beiden Kinder, und mein Mann fragte nicht einmal nach dem Grund meines Krankenhausaufenthaltes. Hätte es damals alle diese Möglichkeiten, nicht ungewollt schwanger zu werden, schon gegeben, vielleicht wäre mein Leben ganz anders verlaufen.

Es lockt die Liebe

Ella überfiel eine große Traurigkeit, und sie wurde müde, aber die Gedanken liefen trotzdem wie ein Film weiter. Sie dachte daran, wie einsam sie sich in dieser Zeit fühlte. Von ihrem Mann unverstanden und vom Schwiegervater bevormundet, kapselte sie sich immer mehr ab. Nur zu dem jungen Geschwisterpaar, das im gleichen Haus wohnte, einer jungen Frau und ihrem Bruder, hielt sie Kontakt. Sie besuchten sich im Haus gegenseitig und unternahmen viel zusammen. Und so kam es, dass Ella in ihrer Einsamkeit ein Verhältnis mit dem jungen Mann anfing. Zuerst war es nur ein Flirt, doch dann wurde bald mehr daraus. Ella hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen. Der junge Mann hieß Sunny, und immer wenn ihr Mann in der Arbeit war und es sich ergab, schliefen beide miteinander.

Dann wurde Paul von seinem Chef nach Karlsruhe in die Meisterschule geschickt, die ein halbes Jahr dauern sollte, und er kam immer nur am Wochenende nach Hause. Nachdem das Geld hinten und vorne nicht reichte, weil Paul während des Besuches der Meisterschule ein kleines Zimmer bezahlen musste, entschloss sich Ella, überflüssige Dinge zu verkaufen. Sie setzte Inserate in die Zeitung und bot unter anderem ihre Geige, die sie immer noch hatte, zum Verkauf an. Gleich der erste Käufer nahm die Geige mit, und wenn sie jetzt darüber nachdachte, bereute sie diesen Verkauf. „Heute wäre diese Geige bestimmt viel wert, und ich habe sie für ein Spottgeld abgegeben“, dachte sie in diesem Moment. Auch die gebrauchten Kleidchen von Anna bot sie in der Zeitung an, und es meldete sich ein Herr per Telefon. Er wollte wissen, welche Kleidergröße diese Kleidchen hätten, und Ella erklärte es ihm, und beschrieb ein Kleid. „Es ist gelb gemustert“, beantwortete sie seine Frage nach der Farbe. „Welches Kleid tragen Sie denn heute?“, wollte der Herr am Telefon plötzlich wissen, was sie erstaunt aufhorchen ließ. Er fragte weiter: „Sagen Sie mir doch bitte, was Sie heute für ein Höschen anhaben!“, säuselte er ins Telefon, und da begriff Ella plötzlich und legte entrüstet den Hörer auf die Gabel. Zwei Wochen später konnte man in der Zeitung lesen, dass in der Stadtverwaltung ein Herr verhaftet worden war, der mit obszönen Anrufen einige Damen am Telefon belästigt hatte. „Es soll ja vorkommen, dass Beamte bei der Stadt nicht ausgelastet sind“, dachte Ella und schüttelte nur den Kopf, und dann fiel ihr ein Artikel ein, der ebenfalls einige Zeit später in der Presse zu lesen war. Da war ein Beamter in seinem Job nicht ausgelastet. Er spazierte mehrmals am Tage mit einem Aktenordner unter dem Arm durch die Gänge des Amtsgebäudes, in welchem er beschäftigt war, um zu demonstrieren, welch wichtige Botengänge er zu erledigen hatte.

In dieser Zeit, als Paul wegen des Besuches der Meisterschule nicht daheim war, entschloss sich Ella, eine Arbeit anzunehmen. Die Kinder brachte sie jeden Morgen, bevor sie zur Arbeit ging, zu ihrer Mutter. Als das halbe Jahr vorüber war und Paul seine Meisterprüfung in der Tasche hatte, suchte Ella nach einer größeren Wohnung am gleichen Ort und sie zogen um. Darüber war ihr Schwiegervater sehr böse, und sie trennten sich im Streit. Sie pflegte weiter die Beziehung zu dem jungen Mann. Er kam fast jeden Abend, und Paul hatte nichts dagegen. Sunny mochte ihren Sohn Pit, und die beiden spielten zusammen und hatten Spaß, weil der eigene Vater ja nie Zeit für ihn hatte und abends lieber vor der Glotze saß. Sie hatten jetzt einen eigenen Fernseher, und fernsehen war nach der Arbeit die liebste Beschäftigung von Paul. Ella und Sunny unternahmen immer mehr zusammen mit den Kindern, und Paul fand das in Ordnung. Hauptsache, er konnte tun und lassen was er wollte. Oft beobachtete Ella, wie Sunny mit den Kindern herumtobte, wenn sie zum Beispiel beim Baden waren, und sie wurde ganz traurig und fragte sich, warum denn ihr Mann nicht so sein konnte?

Auch abends gingen Ella und Sunny ab und zu weg. Manchmal gingen sie in eine Weinstube, aber auch einmal ins Kino. Paul war ja zu Hause, falls eines der Kinder wach werden würde. Es kam auch vor, dass sie zum Tanzen gingen, denn Sunny tanzte sehr gut, und Ella tanzte doch so furchtbar gerne. Sie machte mit Sunny alles, was sie in ihrer Ehe vermisste, und eines Tages merkte sie, dass sie sich verliebt hatte. Sie hatte sich sogar unsterblich in Sunny verliebt. Er war stets Kavalier. Wenn sie zum Beispiel ein Lokal betraten, öffnete er ihr höflich die Türe und half ihr aus dem Mantel. Manchmal brachte er ihr Blumen mit und machte Ausflüge mit ihr und den Kindern. Paul störte das alles nicht, er reagierte überhaupt nicht, er saß wie immer abends vor der Glotze und trank sein Bier oder seinen Schnaps. Es machte ihm überhaupt nichts aus, wenn sie mit Sunny wegging, im Gegenteil, er ermunterte sie sogar, mit ihm etwas zu unternehmen.

Einmal fuhren Ella und Paul sogar mit Sunny und seiner Schwester mit dem Auto in Urlaub nach Italien. Pauls Chef hatte ihnen einen Bungalow am Meer vermittelt. Es gab dort zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine kleine Küche. In einem Schlafzimmer schliefen Sunny und seine Schwester, die Kinder im Wohnzimmer und Paul und Ella im zweiten Schlafzimmer. Ein paar Tage ging das gut, jedoch am dritten Tag war Sunny am Abend plötzlich verschwunden. Alle suchten ihn und schließlich fanden sie ihn total betrunken im Auto liegen. Er konnte es nicht ertragen, Paul und Ella in einem Ehebett zu sehen, und er stellte Ella, als sie wieder zu Hause waren, ein Ultimatum, mit dem sie natürlich nicht gerechnet hatte. Er verlangte, dass sie sich scheiden lassen sollte. Das war für Ella natürlich unmöglich. Sie würde nie die Familie auseinanderreißen. Die Kinder würden womöglich in ein Heim kommen oder getrennt werden, und es ginge allen dann finanziell schlecht. Warum konnte er nicht alles so lassen wie es war?

Sie grübelte oft, warum ihr Mann wohl so war, und sie entschuldigte ihn innerlich. Er war ein guter Mensch, und dass er so nüchtern und emotionslos war, das war eben sein Naturell und dafür konnte er ja schließlich nichts. Gefühlsanwandlungen waren ihm fremd, wie zum Beispiel einmal seinen Arm um sie zu legen oder eines seiner Kinder ganz plötzlich auf den Schoß zu nehmen. Wenn da wenigstens eine andere Frau gewesen wäre, hätte man sicher eine Lösung gefunden. Doch leider interessierten ihn andere Frauen überhaupt nicht, und Ella hatte manchmal das Gefühl, er sah in ihr eine Mutter. Er interessierte sich für nichts, er sah nie einer anderen Frau hinterher, wie es die Männer oft tun. Sie sah ihn nie in einem Buch lesen oder gar Musik hören, nein, er wollte nach Feierabend immer nur seine Ruhe haben und fernsehen. Ella war sehr unglücklich. Sie konnte das Verhalten ihres Mannes einfach nicht verstehen. Es kam ihr vor, als ob er total leer wäre. Er hatte keinerlei Interessen. Sie aber las viel, war interessiert an Musik. Musik hatte ihr immer viel bedeutet, und oft trällerte sie zu den Liedern, die im Radio gespielt wurden. Das Einzige, was Paul interessierte, war ein Fußballspiel im Fernsehen, vor sich auf dem Tisch eine Bierflasche und möglichst noch einen Cognac, das munterte ihn auf, das fand er spannend.

Eines Tages in der Mittagszeit, die Kinder schliefen gerade, und sie hatte mit Sunny ihre Liebesstunde, da hörte sie, wie jemand den Schlüssel in das Schloss der Eingangstüre steckte und aufsperrte. Ella sprang aus dem Bett und stürzte in den Korridor. Es war ihr Mann Paul. Ella war nur mit einem kurzen Hemdchen und einem Slip bekleidet und stand so vor ihrem Mann. Der jedoch erklärte nur, er hätte am Morgen etwas vergessen. Dass sie fast nichts an hatte, das schien er überhaupt nicht zu bemerken. Ella saß der Schreck in allen Gliedern, auch wenn sie einen Liebhaber hatte, so wollte sie ihren Mann doch nicht so provozieren. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass in der Garderobe der Hut von Sunny lag und dessen Schuhe ebenfalls dort standen.

Ella und Sunny nutzten jede Gelegenheit, um miteinander zu schlafen. Manchmal im Auto, oder sie verabredeten sich auf einer Wiese. Bei ihrer Mutter erfand sie dann eine Ausrede und brachte ihr manchmal die Kinder. Immer öfter erwog Ella, sich scheiden zu lassen, doch dann dachte sie an ihre Kinder und verwarf den Gedanken immer wieder.

An einem Oktoberwochenende wurden Ella und Paul zur Hochzeit eines Cousins eingeladen. Wie es bei Feiern eben so üblich war, hatten beide etwas getrunken. Sie blieben über Nacht im Hotel, und in dieser Nacht schliefen beide miteinander. Schon am nächsten Morgen auf der Rückfahrt musste Ella sich übergeben und sie dachte, es seien die Nachwirkungen vom Alkohol. Doch es dauerte nicht lange und Ella merkte, dass sie wieder schwanger war. „Warum“, dachte sie, „ist Gott so ungerecht? Es gibt Frauen, die sind sehr unglücklich, weil sie kein Kind bekommen, andere wieder sind unglücklich, weil sie ein Kind bekommen. Einmal in meinem Leben hätte ich mir gewünscht, auch ein Wunschkind zu kriegen.“

 

Sunny dachte sofort, als sie ihm erzählte, dass sie schwanger ist, dass das Kind von ihm sei. Aber Ella wusste genau, dass sie seit der letzten Periode gar nicht mit ihm geschlafen hatte, sondern nur das eine Mal mit Paul, und das gestand sie ihm. Er war furchtbar enttäuscht, und sie war sehr, sehr unglücklich. Von da an zog sich Sunny zurück, er ließ oft tagelang nichts von sich hören, und Ella litt sehr darunter. Ella und Sunny sahen sich längere Zeit nicht, und Ella war nur noch traurig. Sie stand oft am Herd und die Tränen liefen über ihre Wangen, wenn sie an ihn dachte. Seit dem Urlaub in Italien wusste seine Schwester natürlich Bescheid. Sie gab sich viel Mühe, beide auseinander zu bringen. Immer wieder brachte sie eine Arbeitskollegin mit nach Hause und versuchte, Sunny zu verkuppeln, was ihr dann auch gelang.

Eines Tages traf Ella ihren Bruder, genannt Bubi, und er erzählte ihr, er hätte Sunny mit einer anderen Frau gesehen, und die beiden seien sehr verliebt gewesen. Bald darauf erfuhr Ella von einer Bekannten, dass Sunny heiraten würde. Sie weinte oft, wenn sie allein war, und konnte nicht begreifen, dass er nichts mehr von sich hören ließ und sich so schnell getröstet hatte. Sie war nur noch traurig und enttäuscht, und in ihrer Traurigkeit fing sie an, Gedichte zu schreiben, in denen sie ihre Gefühle zum Ausdruck brachte. Sie ging mit den Kindern viel spazieren, liebte die Natur und hing ihren Gedanken nach. Doch ihre Probleme verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Sie schrieb mehrere Gedichte und kaufte sich ein kleines Buch, um diese Gedichte zu sammeln. Zum einen trauerte sie um Sunny, zum anderen konnte sie das Verhalten ihres Mannes nicht verstehen. Sie schrieb in ihrem ersten Gedicht:

Liebling lass uns darüber sprechen,

so kann es doch nicht weiter geh'n,

einer muss doch das Schweigen brechen,

kannst du das denn nicht versteh'n?

Ich hab' heut deinen Freund geküsst,

so steht's im Tagebuch,

doch glaub' mir ich hab's nicht gewollt.

Es war wie ein Fluchtversuch,

du hast ja doch nie Zeit für mich,

kommst abends spät nach Haus,

nur noch der Bildschirm fesselt dich,

das halt ich nicht mehr aus!

Ella dachte nun an die Zeit, als Tobias geboren wurde, und

schrieb:

Mit meinen Gefühlen war ich viel allein. Manchmal wusste ich nicht, wohin damit. Eigentlich ging es mir damals doch gut, finanziell meine ich, und mit meinem Mann war es immer das gleiche, er interessierte sich nicht für mich. Damals machte ich eine schlimme Zeit durch. Ich hatte unbeschreiblichen Liebeskummer. Wie oft dachte ich an Sunny, grübelte und merkte, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Doch dass es sich nicht lohnt, um eine unglückliche Liebe zu weinen, und welche Lektionen das Leben für einen bereithält, erfährt man ja dann erst später und auch, dass man sich viele Tränen hätte ersparen können. Um mich abzulenken, habe ich Aushilfsjobs angenommen, während die Kinder bei meiner Mutter waren.

Im Sommer brachte ich einen weiteren Sohn zur Welt. Dieses Mal fuhr meine Mutter mit ins Krankenhaus und begleitete mich auf das Zimmer. Als ich dann in den Kreißsaal gebracht wurde und zufälligerweise in das gleiche Bett zum Entbinden sollte, in welchem ich schon zweimal entbunden hatte, weigerte ich mich. Ich war abergläubisch und sagte zum Arzt: „Ich habe in diesem Bett schon zweimal entbunden, und ein drittes Mal will ich nicht mehr in dieses Bett, sonst bekomme ich womöglich nochmal ein Kind, und ich will bestimmt keine Kinder mehr!“ Ich nannte meinen zweiten Sohn Tobias, und ich muss immer noch schmunzeln, wenn ich an seine Geburt denke. Gleich als er zwischen meinen Beinen herausrutschte, fing er an zu pinkeln. Er pinkelte genau über meine Schenkel, und alle, die bei der Geburt dabei waren, mussten lachen.

Ella stützte ihre Hände auf das Kinn, und ihre Gedanken schweiften zurück. Die Kinder waren ihr Ein und Alles, und trotzdem fühlte sie sich oft allein und einsam, und manchmal spürte sie eine unendliche Traurigkeit.

Sie erinnerte sich, wie es eines Tages an ihrer Türe läutete. Draußen stand ein junger Mann, der etwas im Auftrag ihres Bruders abholen sollte. Er war sehr nett, noch ziemlich jung und was ihr sofort auffiel, waren seine ganz faszinierenden, schönen grünen Augen. Sie spürte es sofort, die Versuchung war schon wieder da. Auch ein paar Tage später musste sie immer wieder an diesen jungen Mann mit den grünen Augen denken.

Ihr Bruder, der ja mit ihm befreundet war, hatte in den letzten zwei Jahren auch so manche Niederlage einstecken müssen. Seine Ehe hatte nur ein Jahr gehalten. Seine Frau war ein verwöhntes Einzelkind. Sie war sich für den Haushalt zu schade, und so kochte Ellas Mutter immer für die beiden mit. Sogar die Wäsche wusch die feine Madame nicht selbst. Sie brachte sie einmal wöchentlich zu ihrer Mutter. Ganz schlimm wurde es, als ihr Bruder sich entschloss, den ersten Stock im Hause seiner Eltern für sich und seine Frau auszubauen, denn bis jetzt hatten beide nur zwei Zimmer im oberen Stock und kein eigenes Badezimmer. Bei diesen Umbauarbeiten gab es natürlich eine Menge Dreck und Staub. Mitten in diesem Umbau warf sie alles hin. Das war ihr zu viel, sie ging zurück zu ihren Eltern und reichte die Scheidung ein. Ellas Eltern versuchten vergeblich, diese Scheidung zu verheimlichen. Welche Schande, die Frau ihres Sohnes war davongelaufen! Ihr Bruder litt sehr darunter, und ihre Eltern schämten sich vor der Nachbarschaft. Ella hatte ihren Bruder oft gewarnt, im gleichen Haus wie die Eltern zu wohnen, das ging nicht gut, das wusste sie ja aus eigener Erfahrung. Jetzt, wo sie mit den Gedanken bei ihrem Bruder angekommen war, wollte sie diese Gefühle gleich zu Papier bringen.

Ich liebe meinen Bruder sehr und wir verstehen uns gut, aber das war nicht immer so. In der Kinderzeit, als er mir immer vorgezogen wurde, da hasste ich ihn, weil ich immer die Prügel bekam und er nicht, er, das „Herzibinkerl“ von Mutter und Vater. Doch das änderte sich, je älter wir beide wurden, da waren wir dann ein Herz und eine Seele. Warum wünschen sich Väter eigentlich immer Söhne? „Als du geboren wurdest“, erzählte Mutter mir, „schrieb dein Vater von der Front an mich: ‚Ich freue mich über eine Tochter, doch über einen Sohn hätte ich mich mehr gefreut!‘ Das hat mich damals sehr getroffen, und ich habe es auch nie vergessen. Ich hatte auch nie ein besonders gutes Verhältnis zu meinem Vater. Doch das Verhältnis zu meinem Bruder wurde immer besser, je älter wir wurden. Heute sind wir die besten Freunde und ich könnte mir gar nicht vorstellen, wie es ohne meinen Bruder wäre. Ich weiß auch, ohne dass er darüber spricht und ohne dass er sich etwas anmerken lässt, wie unglücklich er wegen seiner Scheidung ist. Ich weiß, er ist sehr in seinem Stolz verletzt, weil er von seiner Frau verlassen wurde, welcher Mann wäre dies nicht? Damals schlossen wir uns zusammen, weil wir beide unglücklich waren. Wir gingen zusammen immer öfter aus, um uns abzulenken. Er wusste, dass ich gerne tanzte. Ja, Tanzen war meine Leidenschaft, nur hatte ich viel zu wenig Gelegenheit dazu.

Es war eine verrückte Zeit damals. Der Minirock war gerade erfunden worden, und bei dem Gedanken, dass sie an ihrem schönsten Kleid einen Teil abschnitt, den Saum etwas höher nähte, musste Ella plötzlich hellauf lachen. „Auf jeden Fall hatte ich ein sehr schönes Minikleid“, dachte sie. Ja, damals hatte sie lange, rot getönte Haare, und sie fühlte sich begehrt. Es war ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr kannte. Eine ganz andere Welt tat sich ihr auf. Ein richtiger Lebenshunger überfiel sie, und sie hatte plötzlich das Gefühl, im Leben so viel versäumt zu haben. Sie spürte die bewundernden Blicke der Männer und vergaß in diesem Umfeld, dass sie eigentlich verheiratet war.

Beide, sie und ihr Bruder, gingen jedes Wochenende in ein anderes Lokal. Doch sobald sich ein Mann auch nur ein bisschen für Ella interessierte und sich ihr näherte, krempelte ihr Bruder provozierend die Hemdsärmel hoch, so dass dieser andere gleich wieder die Flucht ergriff. Bubi spielte immer ihren Beschützer. Meistens legte er den Arm um sie, und er sagte dann schmunzelnd: „Na, dem hab' ich aber gezeigt, wo's lang geht!“ Es war eine wilde Zeit, der Song „San Francisco“ war gerade „in“ und sie zog mit ihrem Bruder von Lokal zu Lokal. Tanzen wurde ihre Leidenschaft, und sie flirtete viel und gerne. Es war wie ein Zwang, den Männern den Kopf zu verdrehen. Sie hätte oft die Möglichkeit gehabt, ein Verhältnis einzugehen, aber sie tat es nicht. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die so leicht zu haben waren. Dafür war sie sich zu schade. Es interessierten sie keine anderen Männer, denn tief im Herzen wünschte sie sich nur eines: eine intakte Familie. Sie wollte ihren Kindern unbedingt die Familie erhalten. Deshalb bemühte sie sich immer wieder um ihren Mann. Oft verzweifelte sie an seiner ablehnenden Haltung, an den Demütigungen, um seine Liebe betteln zu müssen. Niemand konnte sich vorstellen, wie sie darunter litt, als Frau immer abgelehnt zu werden. Sie konnte nicht verstehen, dass es so etwas wirklich gab, denn wenn man ihr unter anderen Umständen so etwas erzählt hätte, sie hätte es nicht geglaubt. Sie fand auch keinen Grund für ein solches Verhalten. Ja, wenn sie hässlich gewesen wäre oder ungepflegt, dann vielleicht. Aber es drehten sich doch immer die Männer nach ihr um, wenn sie auf der Straße ging, und sie war sich ihrer Wirkung auf andere Männer bewusst.

Jener junge Mann war nun der Freund ihres Bruders und ging ebenfalls mit zum Tanzen, doch leider war er Nichttänzer. Ella fand ihn sehr anziehend, und er gefiel ihr sehr. Sie und Nick, das war der Name des jungen Mannes, wurden Freunde, ja, wirklich nur Freunde. Wenn sie manchmal mit ihrem Bruder ausging, war auch er dabei, und so sahen sie sich öfter. Er verstand sich mit ihren Kindern gut, und das gefiel ihr. Weil er mit den Kindern gut zurechtkam, kam es auch vor, dass sie etwas zusammen unternahmen. Paul aber saß wie immer vor dem Fernseher und fand das in Ordnung. Sie fing keine Liebelei mit dem jungen Mann an, obwohl sie merkte, dass er sich in sie verliebt hatte. Es dauerte sieben Jahre, bis sie dann doch seine Geliebte wurde. Es war jedoch anfangs nicht die Liebe, die sie für Sunny empfunden hatte; es war eher so, dass sie Sunny vergessen wollte. Ella wollte nun auch festhalten, wie sie sich so richtig in ihn verliebte, aber da musste sie die Zeit ein ganz schönes Stück zurückdrehen.

Es überraschte mich nicht, dass Paul sich mit Nick gut verstand, sie hatten die gleichen Interessen. Alles, was mit Elektrizität zu tun hatte, interessierte beide, und sie wurden Freunde. Er ging bei uns ein und aus, fast wie ein Familienmitglied. Ich wusste auch, dass die Leute tuschelten, aber das störte mich nicht. Wir hatten ja nichts miteinander, wir waren nur befreundet. Doch je mehr ich ihn studierte, desto besser gefiel er mir. Mir fiel auch auf, dass er mich heimlich beobachtete und mich, wenn sich unsere Blicke trafen, immer so eigenartig ansah. Belustigend fand ich es, wenn ich mit Nick über ein Thema diskutierte und wir beide im selben Moment das gleiche Wort benutzten, ja sogar das gleiche sagen wollten. Wir hatten oft die gleichen Gedanken und die gleichen Interessen, und das verband. Sicher bekam er auch mit, dass es mit unserer Ehe nicht zum Besten stand, und eines Tages erzählte er mir von seiner Familie. Es war eine lange Geschichte.

Nach dem Krieg hatte sein Vater seine Frau und die drei Kinder wegen einer anderen Frau verlassen. Nick hatte noch einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Die Eltern wurden geschieden. Seine Mutter stand mit den drei Kindern ohne Geld da und musste sehen, wie sie ihre Kinder durchbrachte. Deshalb nahm sie eine Stelle in einer Fabrik an und arbeitete in Schichten, einmal von sechs Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags und dann wieder von vier Uhr nachmittags bis spät in die Nacht. Der Vater bezahlte für die Kinder nichts, und die Mutter war wohl zu stolz, ihn um Unterstützung zu bitten. So rackerte sie sich täglich ab, um ihre Kinder zu ernähren. Die kleine Familie lebte zwar auf einem schönen Grundstück, das der Vater noch gekauft hatte, doch auf dem Grundstück lasteten noch Schulden, die abzubezahlen waren, und so musste Nicks Mutter oft auch noch Überstunden machen, um über die Runden zu kommen. Alle zusammen wohnten in einer Baracke, so wie viele Menschen nach dem Krieg. Nick liebte seine Mutter sehr und unterstützte sie, wo er nur konnte. Er hatte sich vorgenommen, später einmal ein Haus zu bauen, um ihr einen schönen Lebensabend bieten zu können. Nicks Bruder hatte dann bald geheiratet, und so wohnten jetzt nur noch er und seine Schwester bei der Mutter.

 

Ellas Gedanken glitten ab in die Zeit, als sie und Nick schon längst ein Liebespaar waren. Sie schätzte Nick sehr, weil er sich so liebevoll um seine Mutter kümmerte. Doch manchmal nagte auch ein kleines bisschen Eifersucht in ihr, nein, es war eher Neid auf seine Mutter. Sie wurde von ihm immer ihr gegenüber bevorzugt. Auch saß bei gemeinsamen Autofahrten seine Mutter stets neben ihm und Ella im Fond des Wagens. Oder auf alten Fotos, da steht er immer neben seiner Mutter und ganz selten neben Ella. Aber Ella konnte sie gut leiden, und sie hatte auch nichts gegen Ella. Sie erwähnte nie, auch nicht mit einem Wort, dass sie den beiden ihr Verhältnis übelnahm, obwohl sie diese Tatsache schon längst mitbekommen hatte. Ella seufzte tief und schrieb weiter.

Meine Eltern machten mir Vorhaltungen, weil Nick bei uns ein- und ausging, und waren wieder einmal um ihren guten Ruf besorgt. Paul verbrachte wie immer seine Freizeit mit Fernsehen, und ich unternahm viel mit Nick und den Kindern. Manchmal fuhren wir in die Berge, besichtigten Schlösser und machten Wanderungen mit Picknick. Wir nutzten jede Gelegenheit, uns zu lieben. Ob im Wald oder auf der Wiese. Wenn die Kinder bei der Oma waren, verabredeten wir uns an den verschiedensten Orten. Einmal trafen wir uns in einem Kornfeld mitten im Sommer. Das Getreide stand hoch, überall waren Blüten von Klatschmohn und blauen Kornblumen, und die grelle Sommersonne brannte über uns beiden. Zwischen den Ähren breiteten wir eine Decke aus, und vor lauter Liebe merkten wir gar nicht, wie die Halme durch die Decke stachen. Einen besonderen Lieblingsplatz hatten wir, und das war ein in der Nähe gelegener kleiner See. Dort badeten wir nackt, und wenn sich doch einmal ein Spaziergänger dorthin verirrte, schlüpften wir schnell unter eine Decke. Was andere dachten, das war uns egal, Hauptsache wir waren glücklich. Nick schenkte mir unwahrscheinlich schöne Momente, die mich meine verkorkste Ehe für kurze Zeit vergessen ließen. Es sollte wohl so sein, dass wir uns begegnet sind. Es war einfach Schicksal, das es gut mit mir meinte.

Das Einzige, was mir bei Nick fehlte, war das Tanzengehen. Nie besuchten wir Veranstaltungen, die mit Tanzen verbunden waren. Ich wollte dies nicht, denn nur dasitzen und zusehen, wie die anderen vergnügt tanzten, das mochte ich nicht. Aber das Tanzen fehlte mir sehr, und wenn wir doch einmal auf eine Hochzeit eingeladen waren, gab Nick sich viel Mühe und schob mich über die Tanzfläche, aber etwas lustlos. Doch das hatte mit dem Tanzen, wie ich es kannte, nicht im Entferntesten zu tun. Er konnte eben nicht tanzen, und er wollte es auch nicht lernen. Ich konnte ihn nicht dazu überreden, einen Tanzkurs zu machen. Lächelnd meinte er dann: „Ja, ich kann nicht tanzen, und du kannst nicht schwimmen!“ Da musste ich lachen, denn schwimmen konnte ich wirklich nicht. Ich war als Kind in den Bergen aufgewachsen, und da gab es keine Möglichkeit zu schwimmen. Später gab es in der Schule auch keinen Schwimmunterricht, so wie heute. Als dann Anna in die Schule kam und Schwimmunterricht hatte, habe ich mich vor meinem Kind geschämt, weil ich nicht schwimmen konnte. Ich habe mich dann von einer Nachbarin überreden lassen, mit ihr einen Schwimmkurs zu besuchen. All meinen Mut habe ich da zusammengenommen und konnte danach wirklich, wenn auch nur unsicher, schwimmen. Besser ging es, wenn ich im Wasser den Boden unter meinen Füßen sehen konnte. Da wurde ich dann mutig und bin geschwommen, aber in einen See oder gar ins Meer traute ich mich nicht.

Als die Kinder schon etwas größer waren, gingen wir an einem schönen Sommernachmittag an einen nahen See. Dieser See war ziemlich groß mit einem leicht abfallenden Ufer, so dass auch Kinder am Rande planschen konnten. Während Nick mit den Kindern Federball spielte, ging ich ein Stück ins Wasser. Gerade einmal so weit, dass mir das Wasser bis zum Bauch reichte. Plötzlich muss da unter Wasser eine Mulde gewesen sein, denn ich ging sofort unter. In panischer Angst fing ich an zu rudern, schluckte Wasser, und ich weiß noch, dass ich dachte: „Aha, so ist das, wenn man ertrinkt!“ Prustend und wild um mich schlagend gelangte ich ans Ufer und ließ mich erschöpft auf die ausgebreitete Decke fallen. Nick und die Kinder hatten nichts bemerkt, aber seit diesem Erlebnis konnte ich plötzlich nicht mehr schwimmen. Ich habe es immer wieder versucht, wenn wir beim Baden an einem See waren. Es ging einfach nicht - sobald ich auch nur einen Fuß ins Wasser setzte, bekam ich panische Angst, es war, als ob ich eine Art Phobie hätte. Ich habe es dann Nick erzählt, und seit er weiß, warum ich nicht schwimmen kann, drängt er mich auch nicht, ins Wasser zu gehen. So blieb es eben dabei, er konnte nicht tanzen, und ich konnte nicht schwimmen. Wenn wir mit den Kindern baden gingen, schwamm er mit ihnen um die Wette, nahm manchmal Anna auf den Rücken, und sie hatten alle Spaß im Wasser, so dass ich schon ein bisschen neidisch wurde. Trotzdem konnte ich mich zu einem nochmaligen Schwimmkurs nicht überwinden; ich habe eben Angst vor dem Wasser und das hat sich bis heute nicht geändert.

Viele Jahre sind wir nun schon zusammen. Meine Liebe zu ihm wurde nicht weniger, wie das oft bei Liebespaaren der Fall ist, im Gegenteil sie wurde stärker. Wir brachten einander viel Verständnis entgegen. Er verstand mich, dass ich die Familie nicht auseinander bringen wollte, und ich verstand ihn wegen seiner Mutter, die für ihre drei Kinder so viel auf sich genommen hatte. Jeder von uns beiden hatte also einen sogenannten Hintergrund, aber wenn wir mit den Kindern zusammen etwas unternahmen, vergaßen wir das alles in diesem Moment und stellten uns vor, wir wären eine richtige Familie. So ist es auch heute noch, aber wenn ich daran denke, wie viele Jahre es gedauert hat, in denen wir wirklich nur befreundet waren, dann glaubt uns das heute noch niemand. Eigentlich kam die richtige Liebe, nachdem wir eine Gartenlaube gebaut hatten. Genau da nahm das Schicksal seinen Lauf.

Die Kinder wurden größer, und ich machte mir wegen der Zimmeraufteilung Gedanken. Alle drei hatten zusammen nur ein Zimmer. Die Buben zusammen, das ginge ja noch, doch Anna brauchte dringend ein eigenes Zimmer. Ich inserierte in der Tageszeitung, suchte eine größere Wohnung. Doch es gab immer nur Drei-Zimmer-Wohnungen, und die hatten wir ja. Ich fuhr mit Nick alle Neubauten in der näheren Umgebung ab, doch eine Vier-Zimmer-Wohnung fanden wir nicht. Eines Tages vergab die Stadt, in der ich mit meiner Familie wohnte, kleine Pachtparzellen für Kleingärten an kinderreiche Familien. Ich bemühte mich um ein solches Grundstück und bekam es auch. Mit Nicks Hilfe, der eines Schreiner in der Nachbarschaft, meines Bruders und sogar meines Mannes bauten wir ein kleines Holzhaus in den Garten, das wir hübsch möblierten. Wir legten einen Zaun um das Grundstück, pflanzten Gemüse und säten Blumen an. Jedes der Kinder bekam ein kleines Beet, um es selbst zu bearbeiten und zu bepflanzen, um so das Interesse für die Natur zu wecken. So oft es irgendwie möglich war, verbrachte ich die Zeit mit meinen Kindern im Garten. Doch wenn das Wetter nicht so schön war, blieben wir alle zu Hause, und Nick beschäftigte sich besonders gerne mit Tobias. Er weckte sein Interesse für die Technik und bastelte mit ihm, was dem Jungen dann später zugutekam.