Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Jedes Wochenende erhofften wir uns schönes Wetter, um in unser Paradies, wie wir es nannten, zu fahren. Mein Mann wollte manchmal nicht mit, und so sah es nach außen hin so aus, als wären Nick und ich mit den Kindern eine Familie. Es sah zwar so aus, aber die Leute wussten ja nicht, dass wir nur Freunde waren. Aber immer öfter zog ich Vergleiche zwischen den beiden Männern, und auf einmal merkte ich, dass ich mich in Nick verliebt hatte. Nie vorher hatten mich jüngere Männer interessiert, mein Interesse weckten immer nur Männer, die viel älter waren als ich. Doch bei Nick war das alles anders. Es störte mich nicht, dass er jünger war, und seine Ansichten und Einstellungen zum Leben gaben den Anschein, als sei er schon viel älter. Wir waren beide verliebt, doch es kam nie zu irgendwelchen sexuellen Kontakten, nein, wir liebten uns nur rein platonisch. Immer mehr begann ich zu grübeln. Warum konnte mein Mann nicht so sein? Hatte ich vielleicht etwas falsch gemacht in unserer Ehe? War ich schuld, dass er keinerlei sexuelles Interesse zeigte? Aber er gab mir doch immer wieder zu verstehen, dass er von Sexualität nichts hielt. Er hätte kein Bedürfnis danach, ließ er durchblicken. Sex war für mich sehr wichtig. Ohne Sex gäbe es ja keine Menschen, und ohne Sex zu leben, dafür war ich noch zu jung. Ich war oft so verzweifelt und hungerte nach Liebe, weinte oft in der Nacht, doch Paul fragte mich nicht ein einziges Mal, warum ich weinte. Er nahm es einfach nicht zur Kenntnis.

Ich wünschte mir so sehr eine glückliche Familie und einen guten Vater für meine Kinder. Von einem Vater hatte ich bestimmte Vorstellungen. Schon als Kind hatte ich mir immer einen Vater gewünscht, der mich in die Arme nahm, der mich tröstete, wenn ich Kummer hatte. Deshalb litt ich besonders, nachdem ich merkte, dass auch meine Kinder solch einen Vater nicht hatten. Wäre da nicht Nick gewesen, der ihnen ein bisschen den Vater ersetzte, wer weiß, was aus ihnen geworden wäre. Vielleicht habe ich diese Vater-Sehnsucht auf meinen Mann übertragen, ich weiß es nicht. Ich hatte eben eine bestimmte Vorstellung, ich wollte mich anlehnen können an einen Mann, seine Zärtlichkeit spüren, auch ohne dass es gleich zum Sex kam. Schon das hätte mir genügt. Ich litt unsagbar an diesem Zustand, aber an Scheidung dachte ich nie. Im Gegenteil, immer wieder versuchte ich, in meinem Innersten Paul für sein Verhalten zu entschuldigen. Man konnte alles von ihm haben, wenn man ihn nur in Ruhe sein Leben leben ließ. Er gab sein ganzes Geld zu Hause ab, und ich bemühte mich sehr, allen ein schönes Heim zu bieten. Ich dachte an die Sicherheit der Kinder und daran, dass man sie mir vielleicht im Falle einer Scheidung wegnehmen würde. Es gab zu der Zeit keine staatliche Unterstützung für Alleinerziehende, und auch das Kindergeld gab es noch nicht.

Die Kinder

Vor den Kindern gab es nie Streit zwischen meinem Mann und mir. Sie waren ahnungslos. Im Gegenteil, ich versuchte alles, um ihnen eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Ich sorgte dafür, dass sie glücklich heranwuchsen, und ich hatte mit keinem von ihnen in der Kinderzeit größere Schwierigkeiten, also Schwierigkeiten, die mich ratlos gemacht hätten.

Da gab es nur einen Vorfall zwischen den Kindern, der mir damals Kummer bereitete. Es war in der Vorweihnachtszeit. Jedes der Kinder bekam von mir zum Nikolaus einen Adventskalender mit Süßigkeiten. Jedes durfte täglich ein Türchen öffnen und die Süßigkeit herausnehmen. Eines Tages beschwerte sich Anna, denn aus ihrem Türchen war die Süßigkeit bereits entfernt worden. Auf meine Frage, wer das war, bekam ich keine Antwort. Jeder behauptete, er sei es nicht gewesen. Ich hatte meine Kinder oft darauf hingewiesen, immer die Wahrheit zu sagen, darauf legte ich großen Wert. Nachdem es also angeblich niemand war, verlor ich die Geduld. Einer musste es ja gewesen sein, und so versohlte ich beiden Buben den Hosenboden. „So“, sagte ich, „jetzt werdet ihr beide bestraft, denn einer von euch beiden muss es ja gewesen sein!“ Beide Jungen schluchzten, und sie taten mir auch leid, doch ich wusste mir nicht anders zu helfen. Nach ein paar Tagen bemerkte ich, dass Tobias so merkwürdige Zuckungen mit dem Kopf machte, etwa so, als ob er den Kopf schütteln und versuchen würde, etwas krampfhaft hinunterzuschlucken. Es sah aus, als ob ihn etwas würgen würde. Ich ging mit ihm zum Kinderarzt, denn das merkwürdige Zucken hörte nicht auf. Nach kurzer Untersuchung und unter Beobachtung des Arztes meinte dieser: „Tobias hat vergrößerte Rachen-Mandeln, die ihm wahrscheinlich Schwierigkeiten machen, und es wäre besser, man würde diese Mandeln entfernen!“ Ein paar Tage später kam er dann ins Kinderkrankenhaus, und seine Mandeln wurden entfernt, doch das merkwürdige Zucken hörte nicht auf. Ganz zufällig arbeitete in dieser Klinik ein Kinderpsychologe, den ich um Hilfe bat. Er beobachtete den Jungen und schlug mir vor, ihn auf seine Station zu nehmen und einige Zeit zur Beobachtung dort zu behalten. Es könnte ein psychisches Problem sein, und er würde dem gerne auf den Grund gehen. Tobias war eigentlich gerade erst eingeschult worden, und ich hatte Angst, er würde längere Zeit in der Schule fehlen. Der Psychologe beruhigte mich und erklärte mir, dass es in der Klinik auch eine Schule gäbe, die der Junge besuchen könnte, und so würde er nichts versäumen, was die Schule betraf.

Ich besuchte meinen Sohn jeden Tag, und es wurde ein Aufenthalt von einem halben Jahr, bis er wieder nach Hause durfte. Das war für mich eine schlimme Zeit, und ich war voller Sorge und machte mir Vorwürfe, als ich zu einem Gespräch mit dem Psychologen gebeten wurde. Er zeigte mir Bilder, die der Junge gemalt hatte, und durch dieses Malen mit den Fingerfarben malte sich der Junge den Kummer, den er hatte, von der Seele. Wahrscheinlich nahm er sich die Schläge, die sein Bruder damals mit ihm bekam, so zu Herzen, weil er wohl derjenige war, der die Süßigkeit aus dem Kalender von Anna genommen hatte. Es dauerte noch einige Zeit, bis das Zucken, das Tobias noch manchmal hatte, so nach und nach verschwand. Nur eines blieb: Sobald er als Kind nicht die Wahrheit sagte, fing er sofort an, mit dem Kopf zu zucken, doch der Arzt meinte, das würde sich nach der Pubertät verlieren, und so war es dann auch. Weil ich mit Tobias diese Probleme hatte und mich deswegen verstärkt mit ihm beschäftigte, behaupteten meine anderen beiden Kinder immer, er sei mein Lieblingssohn, und das muss ich heute noch des Öfteren hören.

Auch Anna hat mir als Kind einmal einen schönen Schrecken eingejagt. Wir wohnten damals in einem Wohnblock über einem Supermarkt. Sie balgte sich vor der Haustüre mit dem Sohn meiner Nachbarin. Einer schob den anderen hin und her, dabei rutschte Anna aus und fiel mit dem Gesicht genau in die Glasscheibe der Eingangstüre. Das Glas zersprang und verletzte sie im Gesicht. Die linke Augenbraue war eingerissen und musste geklammert werden, und auch der linke Nasenflügel war verletzt. Sie blutete sehr stark und schrie so laut, dass das Personal aus dem Supermarkt angelaufen kam, um zu sehen, was passiert war. Ich hatte noch keinen Führerschein, so dass sich ein junger Mann von dem Personal sofort bereit erklärte, uns zum Arzt zu fahren, wo sie behandelt wurde. Gott sei Dank ist nur eine kleine Narbe von der Klammerung an der Augenbraue zurückgeblieben, und wenn man es nicht weiß, fällt es nicht auf.

Anna hatte nicht nur eine Narbe an der Augenbraue. Im Kindesalter hatte sie ein Erlebnis, das auch auf ihrer Seele eine kleine Narbe hinterließ. Als sie etwa zehn Jahre alt war, fing ein Vorderzahn an zu wackeln. Der Gang zum Zahnarzt wurde notwendig. Schon als wir die Praxis betraten, klammerte sie sich voller Angst an mich. Das grelle Pfeifen des Bohrers aus einem Nebenraum war nicht zu überhören und verstärkte noch zusätzlich ihre Angst. Als sie den strengen Blick des Zahnarztes wahrnahm, während er ihr den Weg zum Stuhl wies, war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Sie weigerte sich, den Mund auch nur ein kleines Stück zu öffnen und biss trotzig die Lippen zusammen. Wiederholtes gutes Zureden des Zahnarztes half nichts und so verlor er die Geduld und gab Anna eine schallende Ohrfeige. Als ihr ein entrüstetes „Aua“ entfuhr, ergriff der Zahnarzt blitzschnell den wackelnden Zahn und zog ihn heraus. Der Zahn war gezogen, aber die panische Angst vor dem Zahnarzt ist ihr bis heute geblieben.

Ich hatte wirklich Glück mit den Kindern, denn es ist immer alles gut ausgegangen. Meine Kinder waren ganz normale Kinder, obwohl ich mir eigentlich gewünscht hätte, dass wenigstens eines etwas flippig werden würde. Vielleicht mit langen wilden Haaren, etwas aufmüpfig, aber sie waren alle gut erzogen, ja einfach ganz normale Kinder. Es gibt sicher viele Eltern, die über das Leben ihres Kindes verspätet das eigene Leben verwirklichen wollen. Es gab Eltern, die ich an den Elternabenden kennengelernt hatte, deren Kinder unbedingt eine höhere Schule besuchen sollten, weil sie selbst es nie auf eine höhere Schule geschafft hatten. Diese Eltern merkten gar nicht, was sie ihren Kindern, die überhaupt nicht dafür geeignet waren, damit antaten. Ich versuchte durch Beobachten, meine Kinder in ihren Begabungen zu fördern. Pit war handwerklich sehr geschickt, das habe ich akzeptiert. Tobias war für ein Studium sehr geeignet und sein Lehrer machte mich sogar darauf aufmerksam. Anna hätte auch studieren können, aber sie wollte nicht und fühlte sich zur Kunst hingezogen. Musik war mir ja auch sehr wichtig, und so lernte jedes Kind ein Musikinstrument. Anna spielte Ziehharmonika, Pit lernte Melodica und Tobias lernte Gitarre.

Auch für den Sport versuchte ich sie zu begeistern. Ich übernahm mit Nick beim Sportverein als Übungsleitung einmal wöchentlich einen Gymnastik-Unterricht für Kinder im Alter von vier bis zwölf Jahren. Meine Kinder bezog ich bei diesen Übungen mit ein. Ich versuchte immer zu vermeiden, dass sich meine Kinder auf der Straße herumtrieben. Bis auf das Problem mit Tobias hatte ich nie wirklich große Schwierigkeiten mit ihnen. Natürlich gab es ab und zu eine Schramme am Knie, wenn eines hingefallen ist, aber das gehörte zum Kindsein dazu. Jedes meiner Kinder war anders. Aber jedes von ihnen war für mich etwas Besonderes. Pit machte mir manchmal Sorgen, denn er war immer etwas trotzig. Aus Hilflosigkeit versohlte ich ihm dann einfach den Hintern. Nun, früher war das einfach so und keiner dachte sich etwas dabei. Wenn ich heute über Pits Trotzphasen nachdenke, weiß ich aufgrund der Erfahrungen, die ich nun im Umgang mit Kindern habe, dass er dadurch nur meine Aufmerksamkeit erregen wollte. Er fühlte sich vernachlässigt und ich habe das nicht verstanden. Ich war einfach jung, unerfahren und noch dazu überfordert. Schließlich lagen nur vierzehn Monate zwischen den Geburten meiner beiden ersten Kinder, und mit Problemen stand ich immer alleine da. Anna war gerade in dem Alter, in dem Kinder das Laufen lernen, und so habe ich mich viel zu sehr mit ihr beschäftigt und Pit wohl ein bisschen vernachlässigt. Heute ist er ein einfühlsamer Mann, das weiß ich als Mutter, auch wenn er sich noch so viel Mühe gibt, seine Gefühle zu verstecken. Ich versuche ihm zu helfen, wo ich nur kann, denn irgendwie tut es mir leid, dass ich ihm als Kind zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe, und ich bemühe mich, meine Fehler von damals wieder gut zu machen.

 

Anna war ganz anders. Sie hatte so viele Interessen, dass sie keinen Moment stillsitzen konnte. Dauernd machte sie etwas anderes. Ein bisschen lesen, dann wieder etwas häkeln, nach einer kurzen Zeitspanne begann sie zu stricken oder Figuren aus Papier auszuschneiden, sie wusste eigentlich nie so richtig, womit sie sich beschäftigen sollte.

Tobias war das Plappermaul unter meinen Kindern. Kaum war er am Morgen aus dem Bett, hatte er schon viele Fragen auf der Zunge. Es hieß immer nur: „Warum ist dies?“ und „Warum ist das?“. Manchmal, wenn Pit gerade in der Schule war, wurde es im Kinderzimmer plötzlich ganz still, und wenn er dann nach Hause kam, begann das große Geschrei. Tobias hatte wieder einmal die Spielsachen von Pit, die dieser hegte und pflegte und die er auf seinem Regal zur Ansicht aufgestellt hatte, vollkommen zerlegt. Er musste immer wissen, wie diese im Inneren aussahen und wie sie funktionieren, aber zusammengebaut hat er sie danach nicht wieder, und deshalb gab es dann immer wieder Streit. Größere Sorgen kamen bei allen erst viel später, als sie schon erwachsen waren und sich zum ersten Mal verliebten. Da bewahrheitete sich der Spruch: „Kleine Kinder - kleine Sorgen, große Kinder - große Sorgen.“

Ehrlich gesagt, hatte ich schon etwas Angst davor, wie es sein würde, wenn die Kinder einmal in die Pubertät kommen. Bis auf die wenigen Kleinigkeiten, die ich mit jedem von ihnen mitgemacht habe, - ja, heute sind es in meinen Augen wirklich nur Kleinigkeiten, über die ich eigentlich schmunzeln muss - ist nichts Besonderes vorgefallen. Als Anna dann erwachsen wurde, war sie anfänglich etwas trotzig. Das bringt wohl die Pubertät so mit sich, dachte ich damals, und erinnerte mich an meine eigene Pubertät. Wenn mein Vater schimpfte, dann streckte ich, natürlich, wenn er nicht hinsah, schon manchmal die Zunge heraus. Deshalb war ich ja auch bei Anna nachsichtig. Mir fällt gerade die Geschichte ein, als ich einmal mit ihr kochen wollte. Ich wollte ganz einfach, dass sie kochen können sollte. Aber sie hatte kein Interesse daran und half deshalb nur ungern in der Küche mit. Als wir gerade eine Suppe zubereiteten, bat ich sie, etwas nachzusalzen. Widerwillig und zornig nahm sie eine halbe Hand voll Salz und warf es in die brodelnde Suppe, die damit total versalzen war.

Nachdem sie in unserem Haus ein eigenes Zimmer hatte und wir noch viele Schulden abbezahlen mussten, bat ich sie, von ihrem Verdienst einen kleinen Beitrag zum Haushalt zu leisten. Schließlich hatte sie ja sozusagen Vollpension. Wenn sie am Abend von der Lehre nach Hause kam, hatte sie immer ein komplettes Essen mit der Familie. Sie bekam die Wäsche gewaschen und gebügelt auf ihr Zimmer gebracht. Aber sie wollte das nicht verstehen und schrie mich wütend an: „Ich finde es einfach unverschämt, dass du als Mutter an mir Geld verdienen willst!“ Diese Worte werde ich nie vergessen. Es war die Zeit, als die Zeitschrift „Bravo“ auf den Markt kam und alle Jugendlichen ganz verrückt nach diesem Heft waren. Ich wusste, dass auch Anna darin schmökerte. Besonders die Kummer-Seite, die ein „Herr Doktor Sommer“ bearbeitete und wo ihm die Jugendlichen ihre Sorgen anvertrauten, war sehr gefragt und wurde viel gelesen. Also schrieb ich an diesen Herrn Doktor Sommer und erzählte von meinem Problem bezüglich Kostenbeitrag beim gemeinsamen Haushalt mit erwachsenen Kindern. Ich hoffte, das Problem würde dann in einem dieser Heftchen veröffentlicht werden und Anna würde es lesen. Aber es kam anders. Dieser Herr Doktor Sommer schrieb mir höchstpersönlich und gab mir bezüglich des Beisteuerns zum Haushaltsgeld Recht. Ich hielt das Schreiben Anna unter die Nase, und von da an hörte ich keine Beschwerde mehr von ihr und sie gab jeden Monat einen kleinen Obolus zum Haushaltsgeld.

Bei den Jungen war das anders. Sie mussten nicht in der Küche helfen, aber ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn sie das Bügeln lernten, bevor sie zur Bundeswehr eingezogen wurden. Ich zeigte jedem von ihnen, wie man Hemden und Hosen bügelt, und wenn ich mir heute vorstelle, wie ungeschickt sie sich damals angestellt haben, finde ich das immer noch amüsant. Jeder von ihnen ist später ein tüchtiger Mensch geworden, und jeder hatte dann im späteren Leben sein Päckchen zu tragen. Aber als sie klein waren, setzte ich alles daran, dass sie glücklich aufwuchsen. Sie durften Freunde mit nach Hause bringen und wir feierten zusammen Kindergeburtstage. Sie durften am Wochenende in unserem Paradies toben. Das kleine Grundstück grenzte direkt an einen kleinen Bach am Waldrand. Es gab dort noch mehrere bebaute Parzellen, und somit gab es dort auch mehrere Kinder, die sich in den Gärten, im Wald oder am Bach austoben konnten. Wenn ich so zurückdenke, fällt mir ein Ereignis ein, bei dem mir fast das Herz stehengeblieben wäre. Das war, als die Kinder mit ihren Freunden im Wald tobten und aus Versehen in ein Wespennest getreten sind. Die Wespen waren aufgescheucht, und als die Kinder das bemerkten, rannten sie davon und der Wespenschwarm flog hinter ihnen her. Pit war der letzte in der Reihe der davonlaufenden Kinder und auch derjenige, der von den Wespen erwischt wurde. Die Tiere stachen auf ihn ein. Überall waren diese Wespen - an der Kleidung und sie verfingen sich in seinen Haaren. Er schlug um sich und schrie so fürchterlich, dass Nick und ich angerannt kamen. Voller Entsetzen sahen wir, was da geschehen war. Eilig verfrachteten wir den Jungen sofort in Nicks Wagen und fuhren in einem rasanten Tempo zum Arzt, der Gott sei Dank in unmittelbarer Nähe war. Pit wurde eilends nackt ausgezogen und mit einer schäumenden Flüssigkeit eingerieben. Anschließend wurde er mit dem Notarzt sofort in die nächste Kinderklinik gebracht und musste dort zwei Tage zur Beobachtung bleiben. Es blieben keine Schäden zurück, schließlich hätte er ja daran auch sterben können. Wenn ich an diesen Vorfall denke, wird mir immer noch ganz heiß. Das war das einzige schlimme Erlebnis, das wir in unserem Gartenparadies hatten, aber Kinder vergessen schnell.

Meine Kinder hatten in der Schule manchmal eine Freistunde oder es fiel ein Lehrer wegen Krankheit aus, so dass mal der eine und mal der andere schon früher zu Hause war und Zeit hatte. Da entstand dann der Wunsch nach einem Hund. Wir fuhren gemeinsam ins Tierheim und hatten auch schon einen ganz lieben Hund ausgesucht. Nur wussten wir nicht, dass man dazu die Genehmigung des Hausinhabers brauchte, und die bekamen wir trotz allen Bittens nicht. So versprach ich den Kindern als Trost eine Katze. Die Kinder freuten sich, und nachdem wir ja alle Katzenliebhaber waren, holten wir uns eine ganz junge Katze von einem nahen Bauernhof. Es war eine dreifarbige, die man Glückskatze nannte, und wir gaben ihr den Namen Minka. Bevor wir den kleinen Garten hatten, war unsere Minka immer nur in der Wohnung. Jetzt aber durfte sie mit ins Grüne und das merkte sie sich schnell. Jedes Wochenende bei schönem Wetter, wenn wir mit dem Auto in den Garten fahren wollten, sprang sie ganz freiwillig in das Fahrzeug, sobald wir nur die Fahrzeugtüre geöffnet hatten. Wenn wir dann dort auf dem Parkplatz ankamen, ging sie ganz allein die etwa zweihundert Meter zu unserem Domizil, so sehr freute sie sich. Wenn wir mit unserer Katze an den anderen Gärten vorbeikamen, sahen wir, wie die Leute lachten, weil die Katze wie ein Hund mit uns lief. Auch wenn wir im nahe gelegenen Wald einen Spaziergang machten, ließ sie sich ganz brav an die Leine legen wie ein Hund. So freuten wir uns alle an jedem Wochenende, wenn das Wetter es zuließ, auf unseren kleinen Garten, machten Spiele mit den Kindern, luden Freunde zum Kaffee ein und manchmal feierten wir auch Feste.

Ich hatte mich entschlossen, meinen dreißigsten Geburtstag mit unserer Familie und mit Freunden dort zu feiern. Wir luden auch den Chef meines Mannes mit seiner Gattin ein, und führten angeregte Gespräche. Im Laufe des Abends erfuhr ich, dass man mit meinem Mann überhaupt nicht zufrieden war. Den Chef störte die Gleichgültigkeit, mit der mein Mann arbeitete, und er erzählte mir auch, dass, wenn wir nicht drei Kinder hätten, er meinen Mann schon längst entlassen hätte. Mein Mann hätte als Meister nicht das notwendige Durchsetzungsvermögen, er sei für die Stelle, die er innehat, überhaupt nicht geeignet. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich dachte immer, mein Mann sei in seiner Firma beliebt und jetzt erfuhr ich, dass er froh sein musste, wenn er seinen Job behielt. Und ich dachte wieder einmal, ob es nicht besser wäre, mich doch scheiden zu lassen, und überhaupt, wie sollte da unsere Zukunft aussehen? Aber wir hatten drei liebe Kinder und das war für mich der Grund, eine Scheidung wieder weit wegzuschieben. Er war also auch im Beruf so desinteressiert, und dass er in der Zwischenzeit ein Alkoholproblem hatte, konnte nicht verleugnet werden. Was würde aus ihm werden, wenn ich ihn verlassen würde? Er kümmerte sich ja um nichts und es interessierte ihn auch nichts. Ich habe in meiner ganzen Ehe nie erlebt, dass er einmal ganz impulsiv eines unserer Kinder auf den Schoß genommen oder gestreichelt hätte. Er hatte in all den Jahren noch nie ein Zeugnis von einem der Kinder angesehen, war noch nie zu einem Elternabend gegangen, oder hat einen Blick in eines der Schulhefte geworfen. Nein, das machte alles ich. Er war ein totaler Egoist und wollte nur von vorne bis hinten bedient werden. Nichts war ihm wichtig außer das Fernsehen und seine vor sich stehende Flasche Bier und sein Schnaps.

An diesem Abend war ich die letzte, die nach der Feier nach Hause fuhr. Es war schon spät, als alle Gäste gingen, nur Nick wartete, bis ich fertig war mit dem Aufräumen. Er hatte vieles von dem Gespräch mit dem Chef meines Mannes mitbekommen und nahm mich in die Arme und tröstete mich. Da küssten wir uns, sonst nichts. Es war ein so zarter Kuss, fast schüchtern, und als er mich zärtlich streichelte, musste ich mich sehr beherrschen, damit nicht mehr daraus wurde. In diesem Moment ging mir so viel durch den Sinn. „Er ist viel zu jung für dich“, mahnte ich mich selbst, „du wirst wieder enttäuscht werden, wie damals bei Sunny.“ Die Vernunft siegte und er fuhr mich, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, nach Hause. Aber von diesem Moment an war die Welt für mich nicht mehr so, wie sie vorher war. Tagelang dachte ich nur an ihn und bald trafen wir uns heimlich. Ich fuhr zu meiner Mutter und bat sie, die Kinder zu nehmen und erfand immer wieder neue Ausreden, um mich mit ihm zu treffen. Ich dachte nur noch an ihn, und ich genoss mit ihm all das, was ich seit langer Zeit vermisst hatte.

Ella hörte auf zu schreiben. Sie hatte viele Seiten beschrieben, ihre Finger flogen nur so über die Tasten. Nun tat ihr der Rücken weh. „In Erinnerung schwelgen macht müde“, dachte sie und war zusätzlich unsagbar traurig. Die Gefühle überwältigten sie wieder. „Wenn ich so alleine bin, kann ich einfach nicht abschalten“, sinnierte sie. Dann stützte sie ihre Hände auf das Kinn und sah sich im Zimmer um, und ihre Gedanken kehrten in die Wirklichkeit zurück. Sie dachte an den langen Weg, den sie und Nick nun schon zusammen gegangen sind, und dann seufzte sie tief und begann, ihre Schreibmaschine abzudecken.

 

Jetzt lebte sie hier in dem Apartment, so lange die Scheidung lief, und Nick besuchte sie, so oft er konnte. Sie waren schon lange ein Paar. Sie war ausgezogen aus dem gemeinsamen Haus, das sie mit Paul und Tobias bewohnte, denn sie konnte die Beschimpfungen von Paul, wenn er wieder getrunken hatte, nicht mehr ertragen, und sie hatte nur die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen, wenn sie für ein Jahr auszog. Immer wieder hatte Ella versucht, mit Paul zu sprechen um ihn zu überreden, das Haus zu verkaufen. Jedes Mal erhielt sie die gleiche Antwort: „Niemals werde ich aus diesem Haus ausziehen, es sei denn, die Polizei setzt mich mitsamt meinem Stuhl vor die Türe!“ Was also sollte sie machen? Wenn er wenigstens ein Mann gewesen wäre, der das Haus instand hält, aber er kümmerte sich doch um nichts. Ein Jahr getrennt von Tisch und Bett, so verlangte es das Gesetz. „So ein blödes Gesetz“, keifte sie, ging zu Bett und schlief dann auch gleich ein.

Der nächste Tag zog sich dahin und wollte einfach nicht enden. Sie konnte es gar nicht erwarten weiterzuschreiben. Das Schreiben erleichterte sie ungemein. Jetzt, wo sie am Abend so viel allein war, konnte sie direkt nach der Arbeit damit beginnen, und mittlerweile ging ihr das Tippen ganz flott von der Hand.

Nick kommt meistens am Wochenende. Da machen wir es uns erst einmal richtig gemütlich. Wir genießen die Zeit, in der uns niemand stört. Eigentlich ist er überhaupt nicht der Typ Traum-Mann, er ist genau das Gegenteil. Während ich früher immer nur für große Männer geschwärmt habe und sogar ablehnend zu kleinen Männern war, wenn ich zum Tanzen aufgefordert wurde, macht es mir bei Nick überhaupt nichts aus, dass er eigentlich ein paar Zentimeter kleiner ist als ich. Er ist weltgewandt und es gibt keine Situation, in der er sich nicht zu helfen gewusst hätte. Außerdem hat er immer ein paar Sprüche auf den Lippen, ist stets schlagfertig und es kann ihn einfach nichts aus der Ruhe bringen. Es fällt mir immer wieder auf, dass kleine Männer meistens durch ihre große Klappe die Körpergröße wettzumachen versuchen. Wahrscheinlich überspielen sie dadurch ihre Minderwertigkeitskomplexe. Bei Nick trifft das genau zu, aber ich würde ihn niemals darauf ansprechen. Weil er selbst nie darüber spricht, weiß ich, dass das sein wunder Punkt ist. Das merke ich immer wieder, wenn er so beiläufige Bemerkungen macht, wie „für eine Frau muss ein Mann immer mindestens einen Meter achtzig groß sein.“ Bei mir spielt das wirklich keine Rolle mehr, ich falle auf einen Schönling nicht mehr herein. Für mich zählen andere Werte. Bei uns wurde auch nie über das Thema gesprochen, wie es wohl wäre, wenn wir zusammenwohnen würden. Ich habe akzeptiert, dass ihm seine Mutter so viel bedeutet, und wenn ich ehrlich darüber nachdenke, habe ich auch etwas Angst davor, nochmals mit einem Mann eine Wohnung zu teilen. Es stört mich überhaupt nicht, dass seine Mutter bei ihm wohnt, schließlich hat er ja das Haus gebaut, um seiner Mutter einen schönen Lebensabend zu bieten. Sie ist eine ganz liebe Frau, und ich wünsche mir sehr, dass einer meiner Söhne sich auch einmal so liebevoll um mich kümmern wird, wenn ich einmal alt geworden bin. Aber so wie ich es jetzt sehe, wird es bei mir eher umgekehrt sein. Ich als Mutter werde mich dauernd um die Probleme meiner Söhne kümmern müssen.