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Heinz Hoffmann

Nicht eingreifen!

1

Auf der Suche nach einem Sinn befuhr Guntram von Franckenbergh die Autobahn in Richtung Süden. Es gehörte nicht gerade zu seinen Gewohnheiten, ziellos umherzufahren, und er hätte wissen müssen, dass die Autobahn ihn nicht zwangsläufig einem wirklichen Sinn näherbringen würde, doch irgendwo musste er ja anfangen. Für einen Sinnermittler, der er seit einiger Zeit war, ist es in der Regel völlig belanglos, an welchem Ort er mit seiner Suche beginnt, vor allem, wenn er keinen bestimmten Auftrag erhalten hat und nur ganz allgemein auf der Suche ist. Er hing seinen Gedanken nach, ohne dabei vom Straßenverkehr abgelenkt zu sein. Er überlegte, ob es Sinn machte, den vor ihm fahrenden LKW zu überholen, kam aber zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass es sinnlos wäre, da er weder ein Ziel hatte noch in Eile war. Trotzdem überholte er den Laster und stellte nüchtern für sich fest, dass dies ein sinnloser Überholvorgang gewesen war. So käme er voraussichtlich nicht entscheidend weiter, zumindest nicht hinsichtlich seiner Sinnsuche.

Sein gesamtes Sekretariat befand sich neben ihm auf dem Beifahrersitz. Es bestand aus einem mittelgroßen Koffer, in dem sich ein Laptop und ein Mini-Drucker, sowie verschiedene Schreibutensilien und eine gewisse Menge verschiedenfarbigen Papiers befanden, die allerdings quasi noch nie zum Einsatz gekommen waren. Den finanziellen Erfolg seiner Profession spiegelte sein fünfzehn Jahre alter VW Golf wider, der dem Rost schon seit einigen Jahren nicht mehr gerade viel entgegenzusetzen hatte. Es war zwar ein Viertürer, doch die hinteren Türen wurden bereits durch ein straff gespanntes Seil im Fond des Wagens daran gehindert, sich unkontrolliert zu öffnen. Gleichwohl waren seine finanziellen Verhältnisse nicht unbedingt das, was man als arm bezeichnen konnte.

Als seine Eltern vor zehn Jahren bei einem völlig unnötigen Flugzeugabsturz ums Leben kamen, führte das dazu, dass er als Alleinerbe und Begünstigter ihrer Lebensversicherungen mit knapp fünfundzwanzig Jahren ein recht wohlhabender junger Mann geworden war. Seine Eltern hatten sich gewünscht, dass er Banker würde, doch er hatte sich immer dagegen gewehrt und stattdessen erfolglos Philosophie studiert. Zumindest half ihm sein während des Studiums rudimentär erworbenes Grundwissen dabei, seine Haltung den Eltern gegenüber zu begründen: Er sehe keinen Sinn darin, mit dem Geld anderer Leute zu jonglieren, damit es sich durch Spekulation möglicherweise vermehre. Das wäre eine unwürdige Dienstleistung, die sich die Bank unangemessen vergüten ließe, um danach stets als Gewinner dazustehen. Die Bank gewänne immer. Selbst wenn alles schiefginge. Eine solche Tätigkeit wäre zutiefst unethisch und käme für ihn nicht in Frage. Außerdem wäre der Handel mit Geld ein Geschäft, das keine wirklichen Produkte hervorbringe, sondern nur eine Umverteilung von Vermögenswerten zugunsten derer wäre, die ohnehin schon reich waren. Seine Eltern waren unerschütterlich nachsichtig mit ihm gewesen, sodass er auch mit fast fünfundzwanzig Jahren letztendlich ohne jegliche Berufsausbildung dagestanden hatte. Ihr unglücklicher Tod hatte ihn dann in die Lage versetzt, sein Leben auch ohne die praktische Ausübung eines erlernten Berufes zu fristen. Während seiner Trauerarbeit hatte er sich immerfort mit der Frage nach dem Sinn ihres Todes beschäftigt und war zu keinem wirklich befriedigenden Ergebnis gelangt. Immerhin hatte sich ihr Wunsch erfüllt, dass ihr Sprössling nicht als armer, abgebrochener Philosoph in einer Tonne leben musste und auf die Almosen anderer Leute angewiesen war. Aber auch das machte ihren Tod nicht minder sinnlos. Guntram hatte die letzten zehn Jahre äußerst sparsam von der Substanz seines unverdienten Wohlstandes gelebt, sein Vermögen aber niemandem anvertraut, schon gleich gar nicht einer Bank. Er hatte sich vielmehr vorgenommen, sich selbstständig zu machen und anderen Menschen mit einer Dienstleistung zu helfen. Dabei war er auf eine Honorartätigkeit als Sinnermittler gekommen. Seine Leistung sollte darin bestehen, bei seinen potenziellen Auftraggebern nach einem Sinn ihres Daseins zu suchen. Zu seinem Bedauern hatte er bis dato keinen nennenswerten Erfolg mit seinem Geschäftsmodell erzielt und war nun darauf gekommen, dass er sich dorthin begeben müsste, wo sich das Leben der anderen abspielte. Heute war das eben die Autobahn in Richtung Süden.

Ein Blick auf das Armaturenbrett seines Wagens verriet ihm, dass er dringend seinen Tank auffüllen müsste, denn sein Wagen war immer sehr durstig. Daher steuerte er die nächste Autobahnraststätte an. Bei dieser Gelegenheit würde er auch einen Happen essen. Nachdem er vollgetankt und bezahlt hatte, stellte er seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem angrenzenden Restaurant ab und begab sich in das Innere des Lokals. Dort herrschte eine gewisse Aufregung, die durch einen jungen Mann verursacht wurde, der mit einer Pistole herumfuchtelte und eine ebenso junge Frau laut anbrüllte. Das Lokal war trotz der Mittagszeit nur mäßig besucht, genauer gesagt, befanden sich neben Guntram nur drei weitere Personen sichtbar in dem Restaurant. Eine Bedienung hinter dem Verkaufstresen, der mit einladend lecker anmutenden Speisen hinter sauber glänzenden Glasscheiben lockte, konnte er nicht entdecken. Das Geschrei des jungen Mannes störte ihn unangenehm in seiner Konzentration. Als er sich umwandte, bemerkte er einen weiteren Mann, der den Ausgang blockierte, aber offensichtlich keine Waffe dabeihatte. Diese hätte er aufgrund seiner großen, muskulösen Statur mit einiger Sicherheit auch nicht nötig gehabt. Als Guntram den kräftigen Mann an der Tür ansprach und nach dem Grund der ganzen Aufregung fragte, sagte dieser nur, dass es sich um eine Familiensache handle, die ihn nichts angehe und er sich da raushalten solle. Der Mann machte auch keine Anstalten, ihn passieren zu lassen. Guntram war hungrig und ihm wurde bewusst, dass er, wenn er seinen Hunger noch stillen wollte, die langsam eskalierende Situation beruhigen müsste. Intuitiv spürte er, dass für ihn im Prinzip keine Gefahr bestand. Die Sache drehte sich ganz augenscheinlich ausschließlich um den jungen Mann und die junge Frau. Störend waren eigentlich nur die Pistole in der Hand des jungen Mannes und dessen für Guntram nicht zu verstehendes Geschrei. Jetzt begann auch noch die junge Frau, unverständlich zu keifen. Guntram hob beschwichtigend beide Arme und näherte sich dem jungen Mann von der Seite, sorgsam darauf bedacht, nicht in seine voraussichtliche Schussrichtung zu gelangen. Er sprach die beiden Lärmquellen mit seinem sorgfältig eingeübten Beruhigungston an: „Jetzt erst mal Ruhe. Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr. Was ist denn eigentlich passiert, das dieses unwürdige Theater rechtfertigen könnte?“

Die beiden Kontrahenten verstummten abrupt und sahen ihn mit großem Erstaunen an. Auch der kräftige Mann an der Tür blickte neugierig in seine Richtung. Der junge Mann erlangte als erster seine Fassung wieder und antwortete nunmehr auf deutsch: „Das ist eine Familiensache! Die geht dich nichts an! Halt dich da raus!“

„Das hat mir der freundliche Herr dort an der Tür auch schon gesagt, aber ich konnte beim besten Willen keinen Sinn darin entdecken“, sagte Guntram.

„Wieso Sinn?“, fragte der junge Mann.

„Nun, hinter jeder Handlung muss doch ein Sinn stecken, der sie vernünftigerweise begründet. Ohne einen Sinn ist eine Tat doch völlig sinnlos.“ Guntram war sich nicht sicher, ob es sich bei seinem letzten Satz um eine Tautologie oder ein Oxymoron handelte, denn eine Sache ohne Sinn ist immer sinnlos, aber für die Klärung dieser Frage war jetzt keine Zeit. Der junge Mann sah ihn völlig verständnislos an, woraufhin Guntram sich animiert fühlte, fortzufahren: „Es muss doch einen vernünftigen Grund dafür geben, weshalb Sie sich beide so anschreien. Dabei kann ich ja verstehen, dass Sie eine Waffe auf diese Frau richten, wenn Sie damit Ihren Argumenten einen entscheidenden Nachdruck verleihen wollen, aber einen Sinn darin, dass Sie Ihre Diskussion möglicherweise mit einem gezielten Schuss beenden, kann ich nicht entdecken. Dann wüssten Sie ja gar nicht, welche Gegenargumente diese Frau noch vortragen könnte, um Sie vielleicht umzustimmen.“

 

Jetzt sah ihn auch die junge Frau verständnislos an. Der kräftige Mann an der Tür hatte offenbar erkannt, dass er der Unterhaltung nicht mehr folgen konnte und verharrte deshalb in stoischer Ruhe an seinem Platz, als folgte er dem Gespräch in keiner Weise. Ein leichtes Geklapper aus der Küche verriet, dass sich dort vermutlich die Bedienung des Lokals versteckt hielt, sodass Guntram folgerte, dass er, ohne eine entscheidende Beruhigung der Situation wohl nichts zu essen bekäme.

„Da gibt es nichts umzustimmen!“, sagte der junge Mann, während er seine Waffe weiterhin auf die Frau richtete.

„Dann ist doch Ihre Diskussion auch völlig sinnlos. Eine Diskussion hat doch den Austausch von Argumenten zur Grundlage und macht im Prinzip nur Sinn, wenn beide Seiten sich mit den jeweiligen Argumenten des anderen auseinandersetzen.“

„Das ist keine Diskussion!“, meinte der junge Mann.

„Ach so“, kam es von Guntram nachdenklich zurück. „Sie wollen die junge Frau erschießen und vorher noch ein bisschen herumbrüllen?“

Der junge Mann ließ seine Waffe etwas sinken und erläuterte: „Das ist meine Schwester, und sie will ihren Mann verlassen. Das geht nicht in unserer Familie. Damit ist die Familienehre verletzt und sie muss sterben, um die Schande zu tilgen.“

Guntram wandte sich nun an die Frau: „Gibt es einen Grund, weshalb Sie Ihren Mann verlassen wollen?“

„Natürlich!“, schrie die junge Frau. „Er schlägt mich und hat mich vor einer Woche vergewaltigt!“

„Das wäre doch eher ein Grund, den Ehemann zur Rechenschaft zu ziehen, oder?“, meinte Guntram, der sich wieder dem jungen Mann zugewandt hatte. „Hier scheint es sich eindeutig um eine Täter-Opfer-Verwechslung zu handeln.“

„Davon hast du keine Ahnung!“, schrie jetzt wieder der junge Mann. „Das ist eine Familiensache, die du nicht verstehst. Die Frau muss sich dem Mann unterwerfen, und dagegen hat meine Schwester verstoßen. Der Familienrat hat entschieden.“

Der kräftige Mann an der Tür nickte zustimmend.

Guntram legte eine äußerst kurze Denkpause ein, in der er abwechselnd die drei Beteiligten eindringlich musterte, um danach einen erneuten Deeskalationsversuch zu starten: „Also, in meinem Kulturkreis hätte sich ein Bruder zunächst einmal den Ehemann vorgeknöpft. Ich meine, ein Bruder steht seiner Schwester doch wesentlich näher als deren Ehemann, allein schon wegen der familiären Bindung.“

Der kräftige Mann an der Tür nickte auch dazu wieder zustimmend und nahm sehr kurzzeitig einen nachdenklichen Gesichtsausdruck an.

Guntram fuhr fort: „Wie wäre es denn, wenn Sie den Familienrat erneut einberiefen, und ihn sich mit der neuen Sachlage befassen ließen? Das würde doch Sinn machen, oder?“

Seine Verzweiflung war dem jungen Mann mit der Waffe deutlich anzusehen, als er schrie: „Der Familienrat wusste das alles schon und hat entschieden, wie er entschieden hat! Da gibt es nichts rückgängig zu machen! Wenn ich sie nicht töte, bringe ich weitere Schande über die Familie!“

Erneut tat der kräftige Mann an der Tür seine Zustimmung mit einem entschiedenen Nicken kund. Die zuvor gezeigte Nachdenklichkeit war längst wieder aus seinem Gesicht gewichen.

Von draußen hörte man den Klang von drei nicht wirklich aufeinander abgestimmten Martinshörnern kakophonisch schrillen, und blaue Lichter tanzten eifrig über die sauber glänzenden Glasscheiben des Verkaufstresens, hinter denen weiterhin einladend lecker anmutende Speisen lockten.

Ganz beiläufig bemerkte der kräftige Mann an der Tür: „Polizei“.

Guntram hatte sich umgewandt und sich dabei versehentlich in die voraussichtliche Schussrichtung der Pistole des jungen Mannes begeben, die jetzt wieder in der Hand am Ende dessen ausgestreckten Armes auf die Frau gerichtet war. Plötzlich knallte es ohrenbetäubend. Die Kugel wurde von Guntrams linken Ohr zwar etwas abgebremst, hatte sich aber eine ausreichende Geschwindigkeit bewahrt, um durch das linke Auge der Frau in deren Gehirn einzudringen und damit ihren sofortigen Tod herbeizuführen.

Der junge Mann ließ die Waffe auf den Boden fallen und hob seine Hände, während der kräftige Mann an der Tür drei Polizisten passieren ließ. Weitere drei Polizeibeamte sicherten den Eingang. Die Situation hatte sich nunmehr deutlich entspannt, und die beiden Männer ließen sich widerstandslos festnehmen, als Guntram auf seine Knie fiel und bewusstlos in sich zusammensackte.

In einem Notarztwagen kam er wieder zu sich, als sich ein Arzt um sein linkes Ohr kümmerte. Wie aus weiter Ferne hörte er den Arzt sagen: „Ist halb so schlimm. Da wird zwar ein Loch zurückbleiben, aber heutzutage laufen ja viele Leute mit Löchern in den Ohren herum. Damit werden Sie nicht weiter auffallen.“ Durch die offene Tür sah er einen Leichenwagen vorfahren.

Auf seiner Sinnsuche war er heute nicht entscheidend vorangekommen, und hungrig war er immer noch. Da das Restaurant nunmehr vorübergehend geschlossen war, behalf er sich mit einem Paar heißen Würstchen und einem Stück trockenen Brotes aus der Tankstelle. Er empfand so etwas wie eine leichte Form von Glück. Nicht etwa wegen des Vorfalls in dem Autobahnrestaurant, sondern vielmehr wegen des sich allmählich fortschleichenden Hungergefühls und der Tatsache, dass die Polizei genug mit dem Ehrenmord zu tun hatte, um sich nicht auch noch mit der Verkehrssicherheit seines Autos zu befassen.

Nach seinem Ausflug auf die Autobahn hatte sich Guntram von Franckenbergh in sein Familiendomizil zurückgezogen und dachte darüber nach, ob der Tod der jungen Frau im Autobahnrestaurant einen Sinn gemacht hatte. Im Ergebnis war die Ehre der Familie des jungen Mannes wiederhergestellt. Der junge Mann und sein kräftiger Begleiter kämen nunmehr in Untersuchungshaft und würden dort auf ihre Gerichtsverhandlung warten. Guntram fragte sich, ob diese Tat in deren Kulturkreis wohl strafbar wäre. Aber das hatte mit seiner Sinnfrage nichts zu tun. Wahrscheinlich wäre der Sinn der Handlung eines Menschen eher anhand dessen Herkunft und Kultur zu beurteilen, doch das würde ein Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen innerhalb eines einheitlichen Rechtssystems deutlich erschweren. Und das tat es ja auch!

Er fühlte sich wieder ganz am Anfang seiner Sinnsuche und kam dabei auf den Gedanken, dass nicht jede Handlung, die einem bestimmten Zweck dient, gleichzeitig einen Sinn machen muss. Aber der Unterschied zwischen Sinn und Zweck erschien ihm gleichwohl etwas unscharf zu sein.

2

Sabine Sundermann stand vor zwei schweren Entscheidungen. Sie war jetzt im vierten Semester ihres Modedesignstudiums und konnte der Mode zu ihrem Bedauern nicht mehr viel abgewinnen. Wenn sie das Studium zum Abschluss brächte, würde sie sich beruflich damit befassen, wie sich Menschen kleiden sollten, um damit irgendwie besser auszusehen. Sie hatte schon unzählige Modenschauen besucht und von Mal zu Mal erschienen ihr die darin vorgestellten Ideen der Modeschöpfer immer verrückter. Das Studium hatte sie gelehrt, dass sich die Ergebnisse solcher Inszenierungen eher meilenweit von den ursprünglichen Ideen entfernten. Mode sollte ja tragbar sein. Auch für Menschen, die sich mit ihren Alltagsfiguren durch die Stadt bewegen. Es gab nur sehr wenige Realmenschen, die sich trauten, mit dem Ursprungsdesign herumzulaufen, und die sahen dann meist ziemlich lächerlich aus. Zumindest in ihren Augen. Um wirklich erfolgreich in ihrem einmal angestrebten Beruf zu sein, müsste sie schon sehr abstruse Entwürfe liefern und das, was sie entwarf, war aktuell nur eine Weiterentwicklung von bereits tragbarer Kleidung. Der große Wurf mit einer völlig neuen Idee wollte ihr einfach nicht gelingen. Doch wollte sie das wirklich? Wollte sie wirklich Teil dieser künstlichen Welt werden? Nun, sie und ihre beste Freundin hatten sich schon als Teenager zusammen die ausgefallensten Klamotten genäht und waren dafür in der Schule teils bewundert und teils verspottet worden. Die beiden fanden das damals ziemlich cool, sich von den anderen abzuheben, wenn auch nur durch die äußere Erscheinung. Eigentlich war das der Grund für ihre Berufswahl gewesen. Dann hatte ihre beste Freundin irgendwann einen Jungen kennengelernt, mit dem sie nach Kathmandu gegangen war und Sabine hatte nie wieder von ihr gehört. Allein hatte sie das extravagante Outfit in der Schule nicht mehr durchstehen können und war alsbald auch äußerlich wieder normal geworden. Sie fand ihre Gedanken jetzt äußerst banal und oberflächlich. Hätte sie aufgrund ihrer Bildung nicht etwas Geistreicheres denken können? Vielleicht so etwas wie die Frage nach dem Sinn des Lebens? Offenbar in diesem Moment nicht, denn das Thema Modedesignstudium brannte ihr unter den Nägeln und hatte sich absolut in den Vordergrund gearbeitet. Ihre Kommilitoninnen waren allesamt so lebensbejahend, ein bisschen ausgeflippt zwar, aber überaus witzig. In den ersten beiden Semestern hatte sie da noch mithalten können, aber seit einem halben Jahr quälten sie Zweifel, die größer und größer wurden. Sie war mittlerweile dermaßen antriebslos geworden, dass es immer wieder zu Reibereien mit den beiden Mitbewohnerinnen ihrer Wohngemeinschaft kam. Meistens ging es um den Abwasch und das Einkaufen. Das war angesichts ihrer aktuellen Probleme in ihren Augen ebenso banal wie oberflächlich. Sie ließ den Abwasch in der Spüle stehen und beschloss, dass ihr gemeinsamer Kühlschrank zumindest heute leer bleiben würde. Im Internet fand sie nach einigem Suchen verschiedene Portale, die sich mit ähnlichen Problemen befassten, verzichtete aber darauf, dort irgendetwas zu posten, sondern las lediglich die Beiträge, bis sie schließlich auf den Gedanken kam, dass sie sich offenbar in einer Sinnkrise befand. Das war ja zumindest schon einmal eine Diagnose. Sie erinnerte sich daran, dass sie heute vor zwei schweren Entscheidungen stand, die weder mit dem Abwasch noch mit dem Einkaufen zu tun hatten. Es ging darum, ob sie ihr Studium hinschmeißen und ob sie sich das Leben nehmen sollte. Bei der finalen Idee des Suizids könnte sie sich wenigstens die Exmatrikulation sparen. Dann bliebe nur noch diese eine schwere Entscheidung zu treffen.

Sie sah auf die digitale Zeitanzeige ihres Computermonitors. Es war bereits 13:36 Uhr und ihre Mitbewohnerinnen würden wohl bald auftauchen. Sie fürchtete sich vor der leidigen Diskussion um Abwasch und Einkauf. Deshalb entschied sie, die Wohnung alsbald zu verlassen und sich auf die stets eiligen und gehetzten Mitmenschen in der Großstadt einzulassen. Kaum hatte sie die Wohnungstür hinter sich zugezogen, rasselten auch schon die drei unerzogenen halbwüchsigen Rabauken aus dem fünften Stock grußlos und geräuschvoll an ihr vorbei. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, ihnen einen prächtigen Sturz aus großer Höhe zu wünschen, als der letzte der unerträglichen Racker auf sein offenes Schnürband trat und tatsächlich die neun Stufen bis zum ersten Stock auf seiner rechten Schulter- und Beckenpartie nahm. Er schrie auf und blieb schluchzend auf dem Treppenabsatz liegen. Die beiden anderen waren sehr viel schneller gewesen und Sabine hörte schon die schwere Haustür unten ins Schloss fallen. Im gesamten Haus tat sich nichts. Sie hatte den Eindruck, als wären sie und der Zwölfjährige im Moment die einzigen Menschen auf der Welt. Der kleine Junge war ansprechbar. Sabine verbesserte ihre Erkenntnis gedanklich mit den Worten verbal reaktionsfähig . Der Ausdruck ansprechbar erschien ihr schon immer unpassend, denn ansprechen kann man geradezu alles, aber eine verbale Reaktion kann man nur von Menschen erhalten, die bei Bewusstsein und des Sprechens mächtig sind. Der kleine Junge war also bei Bewusstsein und sie sprach ihn an: „Kannst du dich bewegen?“ Er nickte. Sie verbesserte ihre Erkenntnis mit der Einschränkung zumindest reaktionsfähig . Sie stellte fest, dass ihre medizinischen Kenntnisse für eine Diagnose unzureichend waren und als sie sagte: „Ich hole uns Hilfe“, wurde ihr bewusst, dass sie sich mit dem Jungen verbündet hatte und ihr nunmehr gemeinsames Problem zu lösen versuchte.

 

„Nicht weggehen!“, flehte der Kleine und begann am ganzen Körper heftig zu zittern.

„Sind deine Eltern zuhause?“

Der Junge schüttelte den Kopf: „Auf Arbeit.“

„Ich rufe jetzt einen Krankenwagen, damit du versorgt werden kannst.“

Er nickte kraftlos und ergab sich in sein Schicksal.

Zuerst deckte sie ihn mit ihrer Jacke zu, um ihn zu wärmen und wählte dann auf ihrem Handy die 112. Der Stimme, die sich am anderen Ende der Verbindung meldete, schilderte sie die Situation, beantwortete die Frage, ob der Junge ansprechbar sei mit einem lapidaren „Ja“ und verzichtete auf eine Diskussion über die Wortwahl, weil mit dem Gesprächsteilnehmer Einigkeit darüber bestand, was gemeint war. Während der fünfzehn Minuten, die sie gemeinsam auf den Notarzt warteten, bemerkte Sabine, dass sie sich in ihrer neuen Rolle eigentlich ganz wohl fühlte. Jemand brauchte ihre Hilfe und sie konnte ihm diese bieten. Sie versuchte, sich an eine vergleichbare Situation in ihrem Leben zu erinnern, blieb dabei jedoch erfolglos.

Die beiden älteren Brüder des Jungen trafen gemeinsam mit den Sanitätern am Unfallort ein und zeigten sich für Sabine unerwartet betroffen von der Situation ihres kleineren Bruders. Der älteste, vielleicht fünfzehnjährige der drei Rabauken reichte ihr die Jacke, mit der sie den Kleinen gewärmt hatte und bedankte sich überraschend höflich für ihre Hilfe. Er übernahm jetzt die Verantwortung für den Kleinen, wies seinen anderen Bruder an, in die Wohnung zu gehen und die Eltern telefonisch zu benachrichtigen und erklärte, dass er seinen Bruder in die Klinik begleiten würde. Sabine war damit entlassen und konnte nun ihren ursprünglich geplanten Weg fortsetzen.

Als sie die schwere Haustür ins Schloss hatte fallen lassen, sah sie noch kurz auf den mit Blaulicht vor dem Haus stehenden Rettungswagen und entschied, dass sie sich im nächstbesten Lokal zur Beruhigung einen Kaffee gönnen würde. Sie fühlte sich ein bisschen als Heldin, doch die an ihr vorbeihetzenden Passanten würdigten sie keines Blickes und konnten daher den sie umgebenden Glorienschein nicht erkennen, weil die überwiegende Mehrheit dieser Menschen mit ihren Handys mehr zu tun hatten, als auf ihre Umwelt zu achten. Ihr Gedanke, dass ihr Leben zumindest darin einen Sinn erhalten hatte, auf Treppen gestürzten Zwölfjährigen zu helfen, wurde jäh von einem Motorrad unterbrochen, das laut knatternd auf der Hauptstraße dahinbrauste. Sie konterte diesen unerträglichen Lärm mit dem Wunsch, das Motorrad könne sich in seine Einzelteile zerlegen. Kurz darauf vernahm sie einen lauten Knall, der von einem funkensprühenden Scheppern begleitet wurde. Der Auspuff des Motorrades war abgefallen und über die Straße geschlittert. Autos bremsten und hielten an, um den gestürzten Motorradfahrer nicht zu überfahren. Danach war es ruhiger geworden und Sabine konnte ihren Gedanken von vorhin wieder aufnehmen: Es machte für sie einen gewissen Sinn, anderen Menschen in Notsituationen zu helfen und sie überkam ein überraschend warmes Gefühl, das sie bereits auf der Treppe ihres Wohnhauses gespürt hatte, als der Kleine sie bat, nicht wegzugehen. Es war ein durchaus angenehmes Gefühl.

In dem Café, das sie nun aufsuchte, waren nur wenige Tische besetzt und Sabine suchte sich ein ruhiges Plätzchen. Zunächst sicherte sie sich die liegengelassene Zeitung vom noch nicht abgeräumten Nebentisch, dann rief sie die Bedienung und bestellte sich aus dem vorgetragenen, reichhaltigen Sortiment verschiedenster Kaffeeformen eine Tasse Filterkaffee. Während sie auf ihren Kaffee wartete, beobachtete sie eine Kleingruppe älterer Damen, die sich bei Kaffee und Torte allerhand zu erzählen hatte. Sie entschied, dass es nicht zu ihren Lebenszielen gehörte, im Alter Bestandteil einer solchen Gruppe zu werden und bemerkte dabei, dass sie gar nicht in die Verlegenheit käme, sich dereinst als Teil einer solchen Gesellschaft wiederzufinden, wenn sie ihre Suizidoption wählte. Aber war das wirklich noch eine Option für sie? Nun, eigentlich war die Selbsttötung ja immer eine finale Option. Aber die bliebe ihr doch stets erhalten und sie könnte jederzeit darauf zurückgreifen, sodass es gar nicht erforderlich war, bereits heute darüber zu entscheiden. Der Unfall des kleinen Zwölfjährigen in ihrem Treppenhaus hatte in ihr den Eindruck der völligen Sinnlosigkeit ihres Lebens fragwürdig werden lassen und sie beschloss, zunächst einmal abzuwarten, wie sich ihr Tag weiterentwickelte und verdrängte erfolgreich den Gedanken an das wohl unvermeidliche Zusammentreffen mit den Mitbewohnerinnen ihrer Wohngemeinschaft.

Als die Bedienung mit dem Kaffee kam, hatte Sabine die Zeitung schon in der Hand und sich dem ersten Artikel gewidmet. Dort wurde über eine verheerende Flutkatastrophe in Südostasien berichtet, bei der hunderte Menschen ums Leben gekommen waren und tausende Helfer unter Einsatz ihres eigenen Lebens nach ebenso vielen Vermissten suchten. Mehrere Spendenkonten seien eingerichtet worden und die Zeitungleser wurden aufgefordert, den dortigen Menschen mit Geldspenden zu helfen. Auch Sabine fühlte sich irgendwie angesprochen, einen Beitrag zu leisten, um die armen, in entsetzliche Not geratenen Menschen zu unterstützen. Die Bundesregierung hatte sich dem Spendenaufruf bereits angeschlossen. Auf derselben Seite berichtete die Zeitung über mehrere Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer, die auf dem Weg nach Europa gesunken waren. Vermutlich wären hunderte Menschen dabei ertrunken. An die sechzig Flüchtlinge wären von einem Rettungsschiff aufgenommen worden, das jedoch von europäischen Ländern keine Erlaubnis erhielte, in einen rettenden Hafen einzulaufen. Dieser Artikel enthielt keinen Spendenaufruf. Eine Politikerin wurde zitiert, die die Schuld an diesem Unglück bei den geldgierigen Schleuserbanden sah, die gegen horrende Preise nur unzureichende Schlauchboote für die Flucht dieser Menschen zur Verfügung stellten. Diesen Schleuserbanden gehöre endgültig das Handwerk gelegt. Sabine konnte nicht wirklich einen gravierenden Unterschied zwischen der Not der Menschen in Südostasien und der Not der Flüchtlinge auf dem Rettungsschiff erkennen. Welchen Sinn machte es wohl, für die Menschen in Südostasien Spenden zu sammeln und für die Menschen auf dem Rettungsschiff hingegen nicht? Sie nahm sich vor, später intensiver darüber nachzudenken, als sich ihr Handy meldete. Es war eine der beiden Mitbewohnerinnen ihrer Wohngemeinschaft. „Sag mal, Sabine, wo bist du denn? Der Abwasch ist nicht erledigt und der Kühlschrank ist leer!“

„Ja, also, einer der Jungen aus dem fünften Stock ist die Treppe hinuntergefallen und ich musste ihm helfen. Krankenwagen rufen und so. Da hatte ich keine Zeit mehr für den Abwasch. Und jetzt muss ich mich erstmal von dem Stress erholen.“

„Das ist ja mal eine ganz neue Ausrede! Du weißt, dass wir dir ein Ultimatum gestellt hatten. Wir können unsere Wohngemeinschaft mit dir nicht mehr fortsetzen. Claudia hat auch schon einen Nachmieter gefunden. Wir sind der Meinung, dass du zum Monatsende ausziehen musst, also hast du noch etwas mehr als zwei Wochen Zeit, dir eine neue Bleibe zu suchen.“

„Aber…“

„Da gibt es jetzt kein Aber mehr. Wir haben das endgültig so beschlossen.“

Sabines Mitbewohnerin hatte das Gespräch unvermittelt beendet und gab ihr keine Gelegenheit zur Widerrede. Man hatte ihr die Karte gezeigt, die ein Fußballschiedsrichter gemeinhin in der Gesäßtasche verwahrt. In ihr breitete sich eine große Leere aus. War das Gottes Dank für ihre Hilfsbereitschaft gegenüber dem kleinen Jungen auf der Treppe? Die Leere in ihr wich nunmehr einer großen Wut gegen die ganze verdammte Welt mit ihren gleichgültigen, Ich-bezogenen Menschen. Sie dachte: Alle denken nur an sich, nur ich denk an mich und musste unwillkürlich bei diesem Gedanken grinsen. Sie zog ein innerliches Resümee:

1 Studium: Sinnlos.

2 Suizid: Letztes Mittel. Kann noch warten.

3 Wohnung: In gut zwei Wochen passé.

4 Abwasch und Einkaufen: Für die nächste Zeit nicht erforderlich.

5 Hilfsbereitschaft: Gibt ein gutes Gefühl.

6 Ist-Zustand: In Not, doch weniger schwer, als die Menschen in Südostasien und auf dem Rettungsschiff und der kleine Bengel im Krankenhaus.

7 Plan: Erstmal Kaffee trinken. Wird sonst kalt.

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