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3

In seinen Gedankenspielen wurde Guntram morgens um 9:41 Uhr jäh vom Klingeln seines Telefons unterbrochen. Das alte, massive schwarze Bakelit-Telefon mit Wählscheibe, an dem seine Eltern sehr gehangen hatten, konnte er eines Tages nicht mehr benutzen, weil sein Telefonanbieter das analoge Fernsprechnetz einstellte und auf digitale Kommunikationstechnik wechselte. Sein Handy benutzte er in der Regel ausschließlich außer Haus, und aus einer nostalgischen Laune heraus hatte er das alte Telefon von einer Computerwerkstatt technisch umrüsten lassen. Es stand wie zu Lebzeiten seiner Eltern stationär auf einer Kommode an der Flurgarderobe und klingelte wie ehemals schrill und fordernd.

Als er nach dem siebten Klingeln an der Kommode angekommen war und den Hörer von der Gabel nahm, meldete er sich wie immer: „Guntram von Franckenbergh am Apparat.“

„Hier spricht Manfred“, kam es aus der Muschel zurück.

„Welcher Manfred?“, wollte Guntram wissen.

„Na, der Manfred!“

„Und weiter?“

„Was weiter?“

„Na, Ihr Nachname!“

„Es gibt keinen. Übrigens, du musst mich duzen.“

„Sie haben keinen Nachnamen und ich soll Sie duzen? Warum?“

„Wenn du mich nicht duzt, leg ich wieder auf.“

„Also gut. Du hast keinen Nachnamen und ich soll dich duzen? Warum?“

„Im Allgemeinen haben Götter keine Nachnamen und werden geduzt.“

„Du bist ein Gott?“

„Aber ja!“

„Und warum rufst du mich an und meldest dich nicht auf andere Weise?“

„Auf welche andere Weise sollte ich mich denn melden?“

„Na, so als Stimme aus dem Off. Vielleicht mit einem leichten Donnergrollen im Hintergrund oder so.“

„Dann würdest du doch glauben, du hast sie nicht mehr alle und wir kämen nicht in einen Dialog.“

„Ja, da hast du allerdings recht.“

„Ich habe immer recht.“

„Und warum rufst du mich auf meinem alten Bakelit-Telefon an und nicht auf meinem Handy?“

„Damit du auch rangehst. Ich habe die Rufnummernunterdrückung aktiviert und ich weiß, dass du meistens nicht an dein Handy gehst, wenn auf dem Display unbekannt erscheint. Dein Bakelit-Telefon hat kein solches Display.“

„Woher weißt du das denn?“

„Ich weiß alles , denn ich bin ein Gott.“

„Ach so. Ist ja klar.“

„Eben.“

Guntram überlegte fieberhaft, wer ihn da wohl auf den Arm nehmen wollte und wie er dem Anrufer auf die Schliche kommen könnte und sein Interesse war geweckt und sein Ehrgeiz, das Rätsel zu lösen, ebenfalls und er wollte sich jetzt keine Blöße geben, sich mit einem ungelösten Rätsel abzufinden und in diesem Spiel den Kürzeren zu ziehen, denn es musste sich um ein Spiel handeln, zu dem er herausgefordert worden war und dem er jetzt nicht mehr ausweichen wollte und außerdem hatte er keine Bekannten oder Freunde, die ihn etwa hätten auf den Arm nehmen wollen. Er musste jetzt handeln und entschied sich für den Gegenangriff: „Ich will einen Beweis.“

„Beweis wofür?“

„Dass du ein Gott bist.“

„Reicht es denn nicht, dass ich immer recht habe und alles weiß?“

„Na, da kann ja jeder kommen und das von sich behaupten.“

„Das ist keine Behauptung, sondern eine Tatsache.“

„Wo warst du denn zum Beispiel gestern Mittag?“

„Na hier.“

„Wo ist denn hier ?“

„Wo ich immer bin eben.“

„Wo bist du denn immer?“

„An jedem Ort des Universums gleichzeitig. Nun, äh, soweit das, was gerade geschieht, in mein Ressort fällt.“

„Und was mir gestern Mittag geschehen ist, fiel nicht in dein Ressort?“

„Du meinst den Vorfall in dem Autobahnrestaurant, in dem ein junger Mann seine Schwester erschossen und dich dabei am Ohr erwischt hat, richtig?“

„Genau“, Guntram war jetzt etwas überrascht, dass sein Gesprächspartner informiert war, doch das konnte er aus den Nachrichten erfahren haben und war keineswegs ein Beweis seiner Göttlichkeit.

„Nun, das fiel nur teilweise in meinen Aufgabenkreis, also in diesem Fall nur das Geschehen, das unmittelbar dich betraf. Für die anderen drei Beteiligten war ein Kollege zuständig.“

„Und warum habt ihr diese Tat nicht verhindert?“

„Wir beobachten nur.“

„Habt ihr denn nicht die Macht, bei sowas einzugreifen?“

„Doch, natürlich. Aber, wie gesagt, wir beobachten die Menschen bei ihrem Treiben nur.“

„Aber dieser Vorfall machte doch überhaupt keinen Sinn.“

„Ach, ihr Menschen mit eurem ewigen Sinn . Immer muss alles einen Sinn machen. Das führt letztendlich doch zu nichts. Aber zu meiner Ehrenrettung muss ich erwähnen, dass ich versucht habe, den Kollegen zum Einschreiten zu bewegen.“

„Du warst aber nicht besonders erfolgreich bei deinem Versuch.“

„Das ist richtig, aber der Kollege rangiert in einer höheren Kategorie. Wenn er auf mich gehört hätte, wäre es erst zum Schuss gekommen, nachdem du gegessen hättest.“

„Ach, du wolltest nicht die Tat selbst verhindern, sondern sie nur hinauszögern?“

„Ja. Dein eigentliches Begehr war, etwas zu essen. Deshalb hast du das Restaurant betreten und nicht etwa, um diesen Vorfall zu verhindern.“

Manfred war erstaunlich gut informiert, fand Guntram, doch auch das ließ sich durch einen einfachen Rückschluss ermitteln, denn man betritt ein Restaurant üblicherweise in der Absicht, etwas zu essen. Er musste einfach gezielter nach Dingen fragen, die nur er und niemand sonst wissen konnte, aber ihm fiel beim besten Willen auf die Schnelle nichts Passendes ein und daher versuchte er, erstmal das Gespräch am Laufen zu halten, denn er konnte es partout nicht ertragen, wenn jemand versuchte, ihn zum Narren zu halten: „Also, gesetzt den Fall, dass du tatsächlich ein Gott bist…“

„Ja?“

„Warum rufst du ausgerechnet jetzt und ausgerechnet mich an?“

„Langeweile.“

„Aber es gibt doch mehr als genug andere Menschen auf der Welt, mit denen du dich unterhalten könntest.“

„Das stimmt schon, aber es gibt keinen weiteren Menschen, dessen Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind, ihrem Sohn eine ganze Menge Geld hinterlassen haben, der mit einem alten umgebauten Bakelit-Telefon telefoniert, das auf einer Kommode in der Nähe der Flurgarderobe steht und der gleichzeitig ein Sinnermittler ist, der gestern eine sinnlose Tötung miterlebt und seitdem seine Unterhose nicht gewechselt hat. Das hat mein Interesse geweckt.“

„Meine Unterhose? Ich habe heute noch nicht geduscht.“

„Nein, nicht deine Unterhose. Alles zusammengenommen. Das Gesamtpaket.“

Damit war ihm Manfred doch zuvorgekommen. Alles zusammen konnte eigentlich niemand sonst wissen, insbesondere das mit der Unterhose. Ob Manfred nun wirklich ein Gott war, ließ Guntram zunächst dahingestellt. Auf jeden Fall war er ganz offensichtlich ein verblüffend interessanter Gesprächspartner: „Sag mal, Manfred, was interessiert dich an mir so sehr, dass du mich anrufst?“

„Deine Zukunft“, war Manfreds lapidare Antwort.

„Meine Zukunft?“, fragte Guntram überrascht. „Ich dachte du weißt einfach alles.“

„Ja, prinzipiell schon. Vergangenheit und Gegenwart, wobei die Gegenwart doch so eng mit der Vergangenheit verbunden ist, dass sie mit der Vergangenheit quasi eine Einheit bildet, denn einen Wimpernschlag nach ihrem Geschehen gehört sie ihr bereits an. Mit der Zukunft ist es ein bisschen kniffliger, weil wir ja bekanntlich nur beobachten und nicht eingreifen. Das macht die ganze Geschichte ja so wahnsinnig interessant.“

Nachdem sich Guntram mit einem sehr vorsichtigen Kniff in den Unterarm vergewissert hatte, dass er nicht etwa träumte, fasste er die Sache eher für sich selbst zusammen: „Du gehörst also zu einer Gruppe von Göttern, die das Treiben der Menschen aus Interesse beobachten und ihr greift prinzipiell nicht in das Geschehen ein.“

„Wir beobachten nicht nur die Menschen, sondern einfach alles, was so im Universum geschieht“, verbesserte Manfred.

„Ihr beobachtet einfach alles, was so im Universum geschieht und greift grundsätzlich nicht in das Geschehen ein.“

„Korrekt.“

Guntram wollte der Sache etwas weiter auf den Grund gehen: „Aber, wenn du jetzt gerade mich beobachtest und sogar mit mir sprichst, gehen dir dann nicht die anderen Dinge, die im Universum aktuell passieren, durch die Lappen?“

„Eigentlich nicht, denn das, was ich gerade mache, geht so rasend schnell, dass praktisch keinerlei Zeit vergeht.“

Guntram sah auf seine Uhr, die immer noch 9:41 Uhr anzeigte: „Das heißt, wir könnten uns jetzt über das Leben, das Universum und einfach alles unterhalten und es wäre danach immer noch 9:41 Uhr?“

„Ja.“

„Okay“, Guntram merkte, dass er jetzt den Horizont seiner geistigen Fähigkeiten erreichte und setzte einige Level tiefer wieder an: „Gibt es denn im gesamten Universum nichts Interessanteres zu beobachten als die Erde und die Menschen und dabei zudem ausgerechnet mich?“

„Du stellst aber einfache Fragen.“

„Ich bin ja auch einige Level zurückgegangen“, gab Guntram zu.

„Verstehe“, erwiderte Manfred. „Es gibt durchaus andere interessante Orte, die es zu beobachten lohnte, doch mein Aufgabenbereich beschränkt sich auf organisches Leben und da ist die Erde zurzeit wirklich das spannendste Objekt.“

„Was meinst du mit zurzeit ?“

„Die letzten zwei bis drei Millionen Jahre.“

„Du meinst seit der Entstehung intelligenten Lebens auf der Erde, wie Lucy, Homo erectus, Homo sapiens usw.?“

 

„Seit der erneuten Entstehung bewussten Lebens auf der Erde. Mit dem Begriff intelligentes Leben wäre ich da ein bisschen vorsichtig“, korrigierte ihn Manfred.

Guntram war verblüfft: „Willst du damit sagen, es gab bereits vorher, also bevor sich der Homo sapiens entwickelte, denkende Wesen auf der Erde?“

„Aber ja! Doch die waren bei weitem nicht so putzig wie das, was sich danach entwickelt hat. Sie haben nicht an ihrer Selbstzerstörung gearbeitet. Zu ihrem Aussterben bedurfte es tatsächlich eines kosmischen Ereignisses…“

„Das wird mir jetzt zu kompliziert“, unterbrach ihn Guntram. „Beschränke dich bitte lieber auf die letzten zwei bis drei Millionen Jahre.“

„Gerne! Unter allen bewussten Lebensformen des Universums beobachte ich die Menschen auf der Erde am liebsten, weil sie so vollkommen aus der Art schlagen, dass sie einfach unvergleichlich unvollkommen sind.“

„Es gibt also aktuell noch weitere bewusste Lebensformen im Universum?“

„Selbstverständlich. Doch was ich so erstaunlich an euch Menschen finde, ist eure geistige Entwicklung.“

Guntram wusste, dass jetzt etwas Überhebliches von Manfred zu erwarten war, ließ sich aber gleichwohl zu der Bemerkung hinreißen: „Ja, unser Fortschritt und unsere geistigen Fähigkeiten sind schon enorm.“

„Wenn man das satirisch betrachtet, hast du wohl recht.“

Ich habe es doch gewusst , dachte Guntram und forderte: „Wie meinst du das?“

„Nun, wenn ihr euch etwas nicht erklären könnt, vermutet ihr, dass irgendein höheres Wesen dafür verantwortlich sein muss. Dann sind aber einige wenige von euch mit dieser Vermutung nicht zufrieden und denken so lange über das Unerklärliche nach, bis eine irgendwie schlüssige Erklärung gefunden ist.“

„Das ist doch ein Beweis von Intelligenz!“, warf Guntram rasch ein.

„Wenn du meinst…“, erwiderte Manfred, um dann fortzufahren: „Das Lustige an der Sache ist aber, dass die weitaus überwiegende Masse von euch nicht gern lernt, sondern an einmal liebgewonnenen vermeintlichen Erkenntnissen hartnäckig festhält und die neuen Ergebnisse partout nicht anerkennen will.“

Guntram nahm die Rolle eines Verteidigers ein: „Das führt doch aber dazu, dass neue Erkenntnisse stets bewiesen werden müssen und wir nicht blind allen neuen Ideen folgen. So wird eben alles so lange einer gründlichen Prüfung unterzogen, bis das Ergebnis wirklich gesichert ist.“

„Ein prinzipiell kluger Einwand, wenn es denn wirklich so wäre. Das Schlüsselwort für das Verhalten der Masse ist Ablehnung und nicht Prüfung . Deshalb kommt ihr nicht oder wenn, dann nur sehr langsam voran. Allerdings könnte man bei näherer Betrachtung zu dem Ergebnis kommen, dass ihr in den letzten zweihundert Jahren doch gewaltige Fortschritte gemacht habt…“

„Sag ich doch!“, beharrte Guntram.

„Wenn es denn euer Plan wäre, euren Planeten zu zerstören“, fuhr Manfred fort. „In dieser Hinsicht seid ihr hinter der nächsten Kurve bereits auf der Zielgeraden.“

„Warum ändert ihr Götter das denn nicht? Ihr hättet doch die Macht dazu, oder?“

„Wir sind doch nicht für euch verantwortlich! Wir beobachten nur und ein Eingreifen würde die Spannung dabei bloß verderben.“

„Wir sind doch schon dabei, unsere Sünden aus der Vergangenheit zu erkennen und Maßnahmen zu verabreden, den Weltuntergang noch zu verhindern. Den Atomkrieg haben wir vermieden …“

„Ja, damit wäre es in der Tat schneller gegangen.“

„Und wir haben uns aktuell vorgenommen, die Belastung der Atmosphäre mit Treibhausgasen zu verringern …“

„Ihr habt es euch vorgenommen , aber ihr setzt es nicht um!“

„Was könnte die Erde denn noch retten?“

„Euer Aussterben. So, genug geplaudert.“

„Halt!“

„Was denn noch?“

„Wie kann ich dich erreichen?“

„Gar nicht. Wenn nötig, melde ich mich wieder.“ Manfred beendete das Gespräch.

Guntram stand an der Kommode in der Nähe der Flurgarderobe mit dem Telefonhörer am Ohr und hörte das Freizeichen. Dass die Leute aber auch immer so ungeduldig sind, es hatte doch erst sieben Mal geklingelt. Na, dann wird es nicht so wichtig gewesen sein , dachte er bei sich und sah auf seine Uhr. Es war 9:41 Uhr. Er würde jetzt duschen und die Unterhose wechseln.

4

Sabine hatte ihren Kaffee ausgetrunken und studierte die spärlich vorhandenen Wohnungsangebote in der Zeitung, als die Bedienung an ihren Tisch kam, um wegen des Schichtwechsels zu kassieren.

„Haben Sie noch einen Wunsch?“

„Oh, nein, danke. Ich möchte hier nur noch ein paar Minuten sitzen bleiben.“

Es war schon fast halb fünf und Sabine scheute sich davor, schon jetzt in die Wohngemeinschaft zurückzukehren. Ach was, d achte sie sich, es wird schon nicht mehr viel Diskussionsbedarf geben. Die haben mich ja ohnehin schon rausgeschmissen. Sie blätterte noch ein wenig in der Zeitung und stieß auf eine kleine, unscheinbare Anzeige, in der ein Sinnermittler seine Dienste anbot und gleichzeitig einen Assistenten oder eine Assistentin suchte. Komische Dienstleistung. Was der wohl macht? Sie war interessiert, hatte aber momentan keine Idee, was sich dahinter verbergen mochte. Deshalb steckte sie die Zeitung ein und nahm sich vor, darüber in Ruhe nachzudenken. Vielleicht würde sie morgen früh einfach mal da anrufen. Nur so zum Spaß. Rein interessehalber. Ihre Probleme von heute Morgen waren für den Moment in den Hintergrund getreten. Vordringlich war jetzt die Wohnungssuche. Sie spürte wieder etwas Lebensmut aufkeimen. Offenbar hatte ihre Gesamtsituation sie in diese Krise geführt. Ihr Entschluss, das Studium an den Nagel zu hängen, stand nun fest, und diese eher beiläufig getroffene Entscheidung erzeugte in ihr ein deutliches Gefühl der Befreiung, das durch die Tatsache noch verstärkt wurde, dass sie bald nicht mehr Teil dieser problematischen Wohngemeinschaft wäre. Mit einer seit langer Zeit nicht mehr empfundenen Zuversicht machte sie sich auf den Weg in ihre zukünftige Ex-Wohnung. Schon morgen würde sie die Weichen für ihr weiteres Leben neu stellen.

Das Zusammentreffen mit ihren Mitbewohnerinnen gestaltete sich erstaunlich locker und freundlich. Keine Vorwürfe und Anfeindungen mehr. Sabine meinte darüber hinaus, so etwas wie Mitgefühl für ihre aktuelle Lage bei den beiden zu verspüren und fragte sich, warum das Zusammenwohnen in letzter Zeit eigentlich so streitbefangen gewesen war. Sie saßen an diesem Abend sogar gemeinsam bei einigen Gläsern Wein im Wohnzimmer und ließen die fraglos auch sehr schönen Zeiten aus den Anfängen ihrer Wohngemeinschaft Revue passieren, sodass Zweifel an der Notwendigkeit ihrer Trennung aufkamen, die Sabine mit den Worten ausräumte: „Nein, es ist alles gut so. Unsere Trennung gibt mir die Möglichkeit, mein Leben jetzt umzukrempeln und ganz von vorn anzufangen.“

Als sie am nächsten Morgen an ihrem Schreibtisch saß, hatten ihre Mitbewohnerinnen die Wohnung bereits verlassen und Sabine konnte sich voll und ganz auf ihre neue Zukunft konzentrieren. Sie griff nach der Zeitung, die sie gestern aus dem Café mitgenommen hatte und sah sich nochmal die unscheinbare Anzeige dieses Sinnermittlers an. Er sucht also einen Assistenten oder eine Assistentin für was auch immer er macht. Vom Geschlecht „divers“ hat er offenbar noch nichts gehört. Er muss ein Mann sein, denn er nennt sich „Sinnermittler“ und nicht „Sinnermittlerin“. Wenn ich mein Studium hinwerfe, brauche ich einen Job. Also los!

Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass es 10:14 Uhr war. Zu dieser Zeit könne man anrufen, ohne zu stören, befand sie und wählte die in der Anzeige angegebene Nummer.

Nach einer Weile meldete sich eine Stimme: „Guntram von Franckenbergh am Apparat.“

„Guten Tag, hier spricht Sabine Sundermann. Ich melde mich auf Ihre Zeitungsannonce.“

„Als Kundin oder Bewerberin?“, wollte die Stimme wissen.

„Das kann ich noch nicht so genau sagen“, antwortete Sabine.

Guntram forderte sie mit einem „Aha?“ heraus und gab ihr somit Zeit, sich näher zu erklären.

„Ich weiß nicht, was ein Sinnermittler macht und deshalb ebenso wenig, was die Aufgaben seiner Assistentin wären“, gab sie zu.

Wegen der jungen Stimme seiner Gesprächspartnerin ließ er ein langsam gesprochenes großväterlich nachdenklich sonores „So so …“ folgen, damit sie den Eindruck bekäme, er würde sich Gedanken über seine Formulierung in der Zeitungsanzeige machen, was er aber nicht tat, denn er hatte seine Berufsbezeichnung in der Anzeige bewusst so gewählt, um dadurch eine gewisse Neugier zu erzeugen, was in diesem Fall ganz offensichtlich gelungen war. Es störte ihn auch nicht, dass Sabine die erste Interessentin war, die sich auf seine sechste, auch schon wieder fünf Tage alte Annonce meldete, denn so passte es exakt in seinen Plan. Neugierig sollten die Menschen in seiner Umgebung schon sein, sowohl Kundschaft als auch Angestellte.

Sabine stellte sich ihren Gesprächspartner als einen zerstreuten, älteren, leicht verstaubten Herrn um die sechzig in einem altmodischen Tweed-Anzug vor. Ja, weißhaarig, zumindest stark graumeliert, möglicherweise in einem weißen Kittel. Noch bevor der Alte womöglich gedankenversunken den Hörer wieder auflegte, hielt sie das Gespräch mit den Worten am Leben: „Also, unter dem Begriff Sinnermittler finde ich in meinem Wortschatz zurzeit noch keine Entsprechung, daher hoffe ich, dass Sie mir Ihre Tätigkeit einmal näher erläutern.“

Guntram wollte seine Interessentin nicht wegen einer zu schnellen Erklärung wieder vom Haken verlieren, vermutete aber, da sie auch auf sein Stellenangebot eingegangen war, dass sie vornehmlich an einem Job, als an einer Dienstleistung interessiert war, deren Inhalt sie nicht kannte: „Haben Sie irgendwelche Referenzen?“

Sabine störte es etwas, dass ihr Gesprächspartner sie offenbar als mögliche Kundin schon ausgeschlossen und sie als Bewerberin eingeordnet hatte und konterte: „Muss man Referenzen vorweisen, um Sie als Sinnermittler zu engagieren?“

Oh, sie wollte es weiterhin offengelassen wissen, ob sie sich als mögliche Kundin oder als Bewerberin meldete. Was mochten ihre Beweggründe für den Anruf sein? Es konnte nach seinem Dafürhalten nur zwei Gründe geben: Entweder war sie ein reiches, verzogenes Mädel, das sich aus purer Langeweile irgendwelche Dienstleistungen erbringen lassen wollte, dann wäre sie seine erste Kundin. Oder sie suchte tatsächlich einen Job. In beiden Fällen wäre sie durchaus interessant für ihn. Außerdem gefiel ihm ihre Schlagfertigkeit. Um sie nicht versehentlich zu vergrämen, musste er jetzt einlenken: „Ich muss gestehen, dass ich wohl manchmal etwas unhöflich bin. Sie haben mich gebeten, Ihnen den Gegenstand meiner Tätigkeit zu erläutern und ich frage Sie nach Referenzen. Das war wirklich nicht sehr nett. Es ist allerdings nicht ganz einfach, mein Sachgebiet in wenigen Sätzen umfassend zu erklären und ich glaube, das Telefon ist nicht unbedingt das passende Medium dafür. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns an einem Ort Ihrer Wahl treffen und ein persönliches Gespräch haben, wenn Sie einverstanden sind.“

Meine Taktik geht auf , dachte Sabine, ich habe schon ein Vorstellungsgespräch und antwortete: „Ja, damit bin ich einverstanden. Wollen Sie zu mir kommen oder soll ich Sie in Ihrer Praxis oder Ihrem Büro aufsuchen?“

Meine Taktik geht auf , dachte Guntram, ich habe eine potenzielle Kundin oder eine potenzielle Assistentin. Wenn wir uns, wie sie anbietet, bei mir träfen, wäre meine Position eine günstigere , sodass er sagte: „Sie können sehr gern zu mir kommen. Wann passt es Ihnen zeitlich?“

Sabine tat so, als würde sie in ihrem Terminkalender blättern: „Machen Sie einen Vorschlag.“

Guntram tat so, als würde er in seinem Terminkalender blättern: „Heute Nachmittag um 15:00 Uhr hätte ich Zeit für Sie. Anderenfalls …“

„Was für ein Zufall!“, rief Sabine. „Das passt mir ausgesprochen gut.“ Hoffentlich klang das nicht zu euphorisch , dachte sie sofort, nachdem sie ihre Worte in ihr Smartphone gesprochen hatte.

„Ausgezeichnet, dann sehen wir uns um drei“, sagte Guntram zufrieden.

Sabine ordnete ihre Gedanken: Die Praxis oder das Büro des Sinnermittlers liegt in einem Villenviertel der Stadt. Ob er da auch wohnt? Zum Glück hat er das Treffen bei sich vorgeschlagen, denn wenn er mich hier in der WG besucht hätte, wäre ihm sofort klar, dass ich einen Job brauche und mir seine Dienste kaum leisten könnte. Vor allem muss ich mich angemessen kleiden. Ältere Herren, glaube ich, achten auf sowas ganz besonders. Allerdings darf ich auch nicht übertreiben. Das Outfit muss für beide Rollen, also Kundin und Assistentin, passen. Referenzen kann ich nicht aufweisen, ich muss mich auf andere Weise qualifizieren. Ach, ich wünschte, mir würde jemand helfen.

 

Ihr Smartphone kündigte ein Telefonat an. Sie sah auf die Uhr. Es war 10:43 Uhr und auf dem Display ihres Smartphones erschien „unbekannt“. Ob es sich der Sinnermittler anders überlegt hatte? Sie meldete sich unsicher mit „Sundermann …“.

„Wolfgang am Apparat. Hallo Sabine!“, klärte sie die Stimme auf.

„Welcher Wolfgang?“, wollte Sabine wissen.

„Na, der Wolfgang!“

„Und weiter?“

„Was weiter?“

„Na, Ihr Nachname!“

„Es gibt keinen. Übrigens, du musst mich duzen.“

„Sie haben keinen Nachnamen und ich soll Sie duzen? Warum?“

„Wenn du mich nicht duzt, leg ich wieder auf.“

Sabine war neugierig geworden. „Also gut. Du hast keinen Nachnamen und ich soll dich duzen? Warum?“

„Im Allgemeinen haben Götter keine Nachnamen und werden geduzt.“

„Du bist ein Gott?“

„Aber ja!“

„Ich glaube nicht an Götter!“, gab Sabine schroff zurück. „Insbesondere, wenn sie Wolfgang heißen.“

„Das ist aber schade, denn du hast mich gerufen.“

„Wenn ich mich recht erinnere, hat mein Smartphone geklingelt, somit hast du mich gerufen, oder?“

„Du hast gerade gewünscht, dir würde jemand helfen und dieser Jemand bin ich.“

„Du bist also eine Art Flaschengeist?“

„Wenn du so willst. Aber kein Geist und ohne Flasche.“

„Ich habe jetzt andere Sorgen und keine Lust, mich am Telefon zum Narren halten zu lassen.“

„Närrin.“

„Hä?“

„Gender! Du bist eine Frau und würdest dich, wenn es denn so wäre, zur Närrin halten lassen und nicht zum Narren.“

„Ein Flaschengeist, der gleichzeitig Klugscheißer ist!“, seufzte Sabine.

„Ich bin lediglich korrekt“, verteidigte sich Wolfgang.

„Also gut, Wolfgang, ich habe heute ein Date und deshalb keine Zeit, mich mit einem Geist zu unterhalten.“

„Einem Gott“, korrigierte Wolfgang. „Zugegeben, ein Gott aus den eher hinteren Reihen, aber kein Geist. Für Geister gibt es andere Zuständigkeiten.“

„Ich habe auch keine Zeit, mich mit Göttern zu unterhalten, nicht mal mit solchen aus den vorderen Reihen.“

„Es vergeht keine Zeit, während wir sprechen und du wirst unser Gespräch auch vergessen haben, sobald du auflegst.“

Sabine sah auf die Uhr, die immer noch 10:43 Uhr anzeigte. So langsam begann das Gespräch sie zu interessieren. „Wenn keine Zeit vergeht und ich unser Gespräch sofort vergesse: Wie willst du mir dann helfen?“

„Nun, weil ich ein Gott bin, kann ich da durchaus etwas arrangieren“, gab sich Wolfgang ein wenig angeberisch. „Übrigens ist dein Wunschtrick von mir.“

„Welcher Wunschtrick?“

„Das hast du noch gar nicht bemerkt? Wenn du dir etwas wünschst, dann geht es in Erfüllung, allerdings nur, wenn es auch machbar und nicht übertrieben selbstsüchtig ist.“

Sabine wollte es sofort ausprobieren: „Na, wenn das so ist, dann wünsche ich mir jetzt …“

„Halt!“, unterbrach Wolfgang hastig. „Die Anzahl deiner Wünsche ist begrenzt! Du solltest sie nicht einfach leichtfertig verballern.“

„Wie viele Wünsche sind es denn genau?“

„Keine Ahnung. Wenn du sie verbraucht hast, ist es damit einfach vorbei. Eigentlich hätte ich dir diese Gabe gar nicht verleihen dürfen, denn ich darf nur beobachten und keineswegs eingreifen.“

„So ein richtiger Eingriff ist es doch überhaupt nicht, denn du weißt ja nicht, was genau ich mir jeweils wünsche.“

„Das ist exakt die Ausrede, die ich mir für den Fall des Falles zurechtgelegt habe, aber ich glaube, sie wird bei der Obrigkeit nicht wirklich durchgehen.“

„Was erwartet dich denn, wenn sie dich erwischen?“

„Ich würde nicht befördert oder sogar zurückgestuft und das, wo ich kurz vor einem Upgrade in die dritte Kategorie stehe.“

„Ich werde dich auf keinen Fall verraten“, versicherte Sabine.

„Danke, das ist sehr nett von dir. Ach ja, dabei fällt mir ein: Ich sollte dir bei deinem Outfit und bei deiner Qualifikation als Assistentin des Sinnermittlers helfen.“

„Das stimmt.“ Sabine hörte ein Geräusch, das von ihrem Kleiderschrank herrührte.

Wolfgang meinte daraufhin stolz: „In deinem Kleiderschrank findest du die Kollektion, die ich für dein Date zusammengestellt habe. Es sind die Sachen, die eben vom Bügel gerutscht sind, das war das Geräusch von vorhin, und für deine Bewerbung greifst du dann auf den Wunschtrick zurück. Das wars dann für mich erst mal.“

„Halt!“, rief Sabine eilig. „Wie kann ich dich denn erreichen?“

„Gar nicht. Wenn nötig, melde ich mich wieder.“ Wolfgang beendete das Gespräch.

Sabine hatte ihr Smartphone am Ohr und hörte das Freizeichen. Merkwürdiger Anruf , dachte sie bei sich und sah auf die Uhr. Es war 10:43 Uhr.

Sabine legte ihr Smartphone auf den Schreibtisch und öffnete ihren Kleiderschrank, um ihr Outfit für heute Nachmittag zusammenzustellen. Einige Kleidungsstücke waren von den Bügeln gerutscht und lagen auf dem Schrankboden. Es waren ihre jüngsten Entwürfe, die sie eigentlich endgültig wieder verworfen hatte. Sie bestanden aus einem großzügig dekolletierten dunkelroten kniefreien Kittelkleid, einem hauchdünnen Top und hautengen lindgrünen Leggins. Einer Laune folgend, über die sie sich selbst wunderte, zog sie die Sachen an und betrachtete sich im Spiegel. Ganz schön gewagt, aber doch gar nicht mal so übel , befand sie. Ob das dem älteren Herrn wirklich gefiele? Egal, ich bringe ja mich mit und niemand anderen . Sie war über ihr plötzlich zurückgekehrtes Selbstbewusstsein erstaunt und erfreut zugleich. „Es wird schon gutgehen“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Zumindest werde ich, auch wenn ich den Job nicht bekomme, nach dem Treffen wissen, was ein Sinnermittler macht.

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