Lebendkontrolle

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Lebendkontrolle
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Heike Bicher-Seidel

Lebendkontrolle

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Blau - Die Zeitreisetrilogie

Impressum neobooks

Kapitel 1

Nina

„Hallo Christian. Tut mir leid, dass ich schon wieder so spät bin. Gibt es heute Abend etwas Besonderes?“, sagte ich, als ich abgehetzt das verglaste Dienstzimmer des Wachpersonals betrat, das von den Häftlingen der Justizvollzugsanstalt Saarlouis gern als Aquarium bezeichnet wurde. Die meisten Gefangenen in der Abteilung für männliche Ersttäter verbüßten kürzere Haftstrafen. Vermögensdelikte wie Diebstahl oder Betrug und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz waren häufige Gründe für ihre Verurteilungen.

Ich befestigte den Schlüssel und das Haustelefon am Gürtel meiner blauen Uniform und setzte mich zu meinem Kollegen. Christian Rau saß vor den fünf Monitoren, die die leeren Gemeinschaftsräume und Flure zeigten. Auf dem mittleren Bildschirm zappte er von einer Kamera zur nächsten.

„Hat Tom mit uns Dienst?“, wollte ich wissen.

„Tellmann macht keine Nachtschichten.“

„Muss ja auch Vorteile haben, wenn man der Chef und der Herr der Dienstpläne ist.“ Schade, dass Tom nicht mit uns Dienst hatte, ich arbeitete gern mit ihm.

„Ein Häftling ist heute aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Suizidversuch. Wir werden die nächsten Nächte regelmäßig nachsehen, ob mit ihm alles in Ordnung ist.“ Christian sah besorgt aus, als er im Wachbuch weiterblätterte.

„Wer ist der Gefangene?“, fragte ich. Die morgendliche Lebendkontrolle war Routine, Kontrollen bei suizidgefährdeten Häftlingen fand ich dagegen bedrückend. Je nach Risikoeinschätzung wurde teilweise im Viertelstundentakt nach dem Rechten gesehen.

„Julian Kanter, Zelle sieben. Du kennst ihn noch nicht, er war vier Wochen weg. Willst du seine Akte sehen?“

„Ist er gefährlich?“

„Nein. Er wurde wegen eines Verkehrsdeliktes verurteilt. Nichts Besonderes.“

„Wie häufig sollen wir nachsehen?“

Er wandte sich wieder dem Monitor zu.

„Ich denke, jede Stunde reicht. Warum gehst du nicht rüber und machst die erste Kontrolle? Es ist erst halb elf, er ist sicher noch wach. Kanter ist nicht der gesprächigste Typ, aber vielleicht redet er ja mit dir.“

Als ich den Gang zur Zelle sieben hinunter ging, hörte ich das leise Summen, mit dem sich die Kamera an der Decke bewegte. Christian ließ mich nicht aus den Augen, was ich einerseits nett fand, mich andererseits aber ärgerte. Auch wenn ich erst seit zwei Wochen hier arbeitete und dies die erste Stelle nach der Ausbildung war, war ich mit meinem Bachelor in Sozialpädagogik und der Ausbildung zur Justizvollzugsbeamtin besser vorbereitet, als die meisten Anfänger und fühlte mich sehr wohl in der Lage, allein eine Lebendkontrolle durchzuführen.

Ich klopfte an die Zellentür, wartete einen Augenblick und schloss dann die Tür auf. Das Schloss klemmte und gab ein knirschendes Geräusch von sich.

„Guten Abend, Herr Kanter, alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte ich. Julian Kanter saß auf dem schmalen Bett und hatte ein Buch in den Händen. Seine braunen Haare hätten einen Haarschnitt vertragen können. Er strich sie mit einer Hand zurück und musterte mich aus warmen braunen Augen, bevor er nickte und den Blick wieder in das Buch senkte.

„Darf ich kurz reinkommen?“, fragte ich. Er legte das Buch zur Seite und wies auf den Stuhl an seinem kleinen Tisch.

Es hatte eine Weile gedauert, bis ich mich daran gewöhnte, ungebeten in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzudringen, der sich dagegen nicht wehren konnte, aber das gehörte zum Job.

„Mein Name ist Larsen, wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin erst seit zwei Wochen hier und da waren Sie ja schon im Krankenhaus.“

„Sie sind nicht aus dem Saarland“, stellte er fest.

Er machte einen gefassten Eindruck. Seine dunkle Stimme klang angenehm und er sah mich direkt an. Auf den ersten Blick schien er mir nicht unter Beruhigungsmitteln zu stehen, ich würde später Christian fragen.

„Stimmt, den saarländischen Dialekt werde ich in diesem Leben nicht mehr lernen. Sind Sie aus dem Saarland?“

Er sah mich verwundert an, offensichtlich war er nicht gewohnt, dass jemand vom Wachpersonal spätabends auf einen Plausch in seine Zelle kam.

„Kennen Sie meine Akte nicht?“

„Ich mache mir gern selbst ein Bild von den Menschen.“ Aufmunternd lächelte ich ihn an und hoffte, er würde darauf anspringen und mir etwas von sich erzählen, aber er schwieg.

„Wo wurden Sie geboren?“, versuchte ich, ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Saarbrücken“, antwortete er.

„Hört man gar nicht. Haben Sie nicht im Saarland gelebt?“

Er sah mich eine Weile schweigend an, bevor er erneut sprach.

„Ich bin müde, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt gern zu Bett gehen.“

„Ja, klar. Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe. Leider werde ich das heute Nacht aber noch mehrmals machen müssen, Sie verstehen?“

„Lebendkontrollen“, sagte er. Ich nickte und wandte mich zur Tür.

„Werden Sie kommen oder einer Ihrer Kollegen?“, fragte er. Ich drehte mich nochmal zu ihm um. Ich hatte nicht bemerkt, dass er ebenfalls aufgestanden war. Er stand nur einen Meter von mir entfernt und überragte mich um beinah einen ganzen Kopf, dennoch empfand ich sein Auftreten nicht als bedrohlich.

„Der Kollege Rau und ich haben heute Nachtdienst. Wenn Sie möchten, komme ich.“

„Dann bis später“, sagte er und wandte sich ab. Ich schloss leise die Tür und drehte den Schlüssel im knirschenden Schloss.

„Hat er mit dir gesprochen?“, fragte Christian, als ich in den Wachraum zurückkam.

„Er hat mich rausgeworfen, wenn das zählt, dann ja.“ Er lachte.

„Das war mehr, als er mit den meisten hier spricht. Komm, setz dich, ich hab Kaffee gekocht.“ Frustriert fiel ich auf einen der beiden Schreibtischstühle vor den Monitoren und bewegte die Flurkamera in Richtung Zelle sieben. Es war nicht gut, wenn sich psychisch angeschlagene Häftlinge von allem und jedem abkapselten. Ich würde ihn noch aus seiner Isolation locken, so schnell gab ich nicht auf.

 

Eine Stunde später machte ich mich wieder auf den Weg zu Zelle sieben. Ich klopfte leise an und öffnete so geräuscharm, wie es das Schloss zuließ. Es war dunkel im Raum. Julian Kanter blinzelte in das durch die Tür hereinfallende Licht der Flurbeleuchtung.

„Bin schon wieder weg“, flüsterte ich und schloss die Tür.

Eine weitere Stunde später zeigte sich mir ein anderes Bild, als ich die Zellentür öffnete. Das Licht war noch immer ausgeschaltet, aber der Häftling schlief nicht, wie ich erwartet hatte, sondern saß auf dem Bett und starrte mich mit großen Augen an.

„Können Sie nicht schlafen?“, fragte ich. Er lächelte bitter, sagte aber nichts.

„Wenn Sie sowieso wach sind, was halten Sie von einem Kaffee? Bei den Kaffeekochkünsten von Rau kann ich zwar Ihr Überleben nicht garantieren, aber wenn Sie sich trotzdem trauen, hol ich Ihnen einen.“ Er fuhr mit beiden Händen durch seine Haare und zu meiner Verwunderung nickte er.

Ich schloss die Tür wieder ab und schlenderte grinsend zurück zum Aquarium. Als ich mit zwei Tassen Kaffee aus der kleinen Teeküche neben dem Wachraum kam, sah mich Christian verwundert an.

„Wollen wir doch mal sehen, ob Kanter nicht doch mit mir redet“, sagte ich siegessicher.

„Ja, wenn du ihn durch Schlafentzug folterst, wird er sicher irgendwann um Hilfe rufen.“

„Wenn ich ihn foltere, dann höchstens mit deinem Kaffee. Der ist wirklich furchtbar. Hat dir das schon mal jemand gesagt?“

„Es zwingt dich ja keiner, ihn zu trinken. Und Nina? Lass die Tür auf, wenn du rein gehst.“

„Angsthase“, antwortete ich abfällig und machte mich auf den Weg zu meinem Opfer.

Julian Kanter saß auf dem Bett. Unter seinen Augen waren dunkle Schatten und ich bekam beinah ein schlechtes Gewissen, ihn mitten in der Nacht mit Kaffee abzufüllen.

„Ich wusste nicht, wie Sie ihn trinken“, sagte ich und kramte ein Päckchen Zucker und ein Portionsdöschen Milch aus der Tasche meines blauen Uniformhemdes. Ich zog das Haargummi fest, mit dem ich meine langen dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte - eine nervöse Angewohnheit, die ich kaum noch wahrnahm.

„Ich trinke ihn schwarz, danke“, sagte er und zog eine der Tassen zu sich. Aufgrund der Enge der Zelle musste er nicht vom Bett aufstehen, um den Tisch zu erreichen.

Super, er redet, dachte ich erfreut und überlegte, womit ich ein ungezwungenes Gespräch beginnen konnte, aber Kanter kam mir zuvor.

„Haben Sie Angst vor mir?“, fragte er und wies mit der Tasse in der Hand auf die weitgeöffnete Zellentür.

„Mein Kollege ist etwas übervorsichtig und wenn es ihn beruhigt, tue ich ihm den Gefallen“, sagte ich ausweichend.

„Das ist sehr vernünftig von Ihnen. Wenn man sich mit dem Abschaum der Menschheit beschäftigt, sollte man vorsichtig sein, vor allem als junge Frau.“

„Die Insassen hier sind nicht der Abschaum der Menschheit. Ich mag viele von ihnen und kann es nicht leiden, wenn jemand so über sie redet, auch nicht, wenn derjenige dazu gehört.“ Er sah mich über seine Tasse hinweg nachdenklich an.

„Wie lange machen Sie den Job schon?“

„Sehr lange“, sagte ich und versuchte, mein Grinsen zu verstecken, „schon seit zwei Wochen.“

Es war das erste Mal, dass ich Julian Kanter lachen sah und ich fand den Anblick wirklich schön. Als mir bewusst wurde, was ich da dachte, stieg mir das Blut in die Wangen. Um Ablenkung bemüht, sah ich mich in der Zelle um.

„Sie haben gar keine Bilder aufgehängt, keine persönlichen Gegenstände. Haben Sie noch nicht ausgepackt, seit Sie aus dem Krankenhaus zurück sind?“

„Mir ist es lieber so“, antwortete er dunkel. Schade, lachend hatte er mir besser gefallen. Ich sollte wieder ein unverfänglicheres Thema anschneiden, daher zeigte ich auf das Buch auf dem Bett.

„Lesen Sie gern?“

„Wenn mir mein vollgestopfter Terminkalender Zeit dafür lässt“, antwortete er.

„Wir haben eine große Bücherspende für unsere Bibliothek bekommen und Kollege Tellmann hat mir die ehrenvolle Aufgabe übertragen, die Bücher in der Datenbank zu erfassen und zu markieren. Hätten Sie Lust, mir dabei zu helfen?“

„Ist das eine Anweisung oder eine Frage?“

„Es ist eine Frage“, antwortete ich und betete, dass er ja sagte. Ich sah ihm an, dass er mit sich rang und erwartete eine Abfuhr.

„Ich denke, ich kann da noch einen zusätzlichen Auftrag in meinem Terminkalender unterbringen.“

Mir war klar, dass mein breites Grinsen völlig unpassend und unprofessionell war, aber ich konnte es nicht unterdrücken und wollte es auch nicht. Vielleicht tat es ihm ja gut, dass sich jemand freute, mit ihm zusammenzuarbeiten und in ihm nicht nur den Häftling aus Zelle sieben sah. Er schaute mich mit einem nachdenklichen halben Lächeln an und ich war froh, dass ich seine Gedanken in diesem Moment nicht lesen konnte. Er machte sich mit Sicherheit über die übereifrige Neue lustig.

Als unsere Tassen geleert waren, stand ich auf.

„Sie sollten schlafen gehen, Sie sehen müde aus und ich brauche am Montag einen ausgeruhten Bibliothekskollegen.“

„Sie halten mich doch die ganze Zeit vom Schlafen ab“, antwortete er in spielerischem Ton.

„Ich spreche mit dem Kollegen Rau, vielleicht können wir die Kontrollintervalle ja etwas verlängern, dann bekommen Sie mehr Schlaf. Und wenn es Ihnen recht ist, klopfe ich nicht an, dann wecke ich Sie nicht jedes Mal auf.“ Er nickte und sah mir nach, als ich die Zelle verließ und wieder abschloss.

Christian war überrascht über das lange Gespräch mit Kanter und war damit einverstanden, dass ich nur noch zweimal in dieser Nacht eine Kontrolle durchführte. Er war jedoch nicht einverstanden, dass ich ihn dabei nicht aufwecken wollte, da dann nicht sicher festgestellt werden konnte, dass er tatsächlich lebte.

Als ich gegen drei Uhr in der Frühe die Zelle sieben wieder öffnete, lag Kanter in seinem Bett auf der Seite, ein Arm ruhte auf der Decke. Er schlief und nicht mal das knarrende Schloss hatte ihn geweckt. Ich schlich leise in den Raum und ging vor dem Bett in die Hocke. Im Dämmerlicht erkannte ich nicht, ob er atmete, also fühlte ich seinen Puls am Handgelenk. Der war ruhig und kräftig, alles in Ordnung.

Ohne eine sonstige Bewegung schlug er plötzlich die Augen auf und sah mich an.

„Schlafen Sie weiter, das war die letzte Kontrolle für heute“, flüsterte ich und merkte erst jetzt, dass ich noch immer sein Handgelenk festhielt. Schnell zog ich die Hand zurück, lächelte verlegen und machte, dass ich raus kam. Als ich die Tür abschloss, fluchte ich innerlich. Warum hatte ich das nur gemacht? Erst drängte ich ihm mitten in der Nacht einen Kaffee und ein Gespräch auf und dann betatschte ich ihn auch noch, während er schlief. Unprofessionell, aufdringlich, nervend. Wenigstens hatte er jetzt zwei Tage Zeit, um sich von mir zu erholen.

Kapitel 2

Nina

„Verdammt!“, fluchte ich und stolperte zur Wohnungstür, „wehe, das ist nicht wichtig“. Es war erst 11.00 Uhr und nach der gestrigen Nachtschicht war ich noch lange nicht ausgeschlafen.

„Ja“, blaffte ich in die Gegensprechanlage.

„Ich bin‘s, Marc.“ Völlig perplex brauchte ich einen Augenblick, um mich zu sammeln. Was machte mein Ex vor meiner Tür?

Vor drei Wochen war ich aus unserer Wohnung in Essen ausgezogen, aber die Beziehung hatte bereits Monate vorher schon nur noch pro forma bestanden. Mehr als Hallo und Tschüss hatten wir uns nicht mehr zu sagen gehabt, deshalb war die Funkstille seit meinem Auszug auch keine Überraschung für mich gewesen, hatte aber dennoch nicht weniger wehgetan.

Acht gemeinsame Jahre und Marc hatte mich einfach kommentarlos gehenlassen. Kein Versuch, mich zum Bleiben zu überreden, keine Liebesbeteuerungen. Dass er mit meinem Auszug nicht einverstanden war, hatte ich nur daran gemerkt, dass er mir nicht beim Packen half und ich meine wenigen Habseligkeiten allein schleppen durfte. Erst als es erneut klingelte, drückte ich den Türöffner der Haustür und öffnete die Wohnungstür.

„Hallo Kätzchen, ich dachte schon, du lässt mich nicht rein.“ Marc spazierte mit dem ihm eigenen Selbstbewusstsein an mir vorbei und wartete, bis ich die Wohnungstür hinter ihm schloss.

„Was...“, machst du hier, sollte eigentlich folgen, aber er schnitt mir das Wort ab, indem er mich in seine Arme zog und mir einen Kuss auf die Lippen drückte.

„Ich hab dich vermisst“, sagte er.

Automatisch schlang ich meine Arme um Marcs Taille und legte den Kopf an seine Schulter. Die Umarmung fühlte sich gut an.

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie einsam ich mich in den vergangenen Wochen gefühlt hatte.

Ich hatte nicht nur ihn in Essen zurückgelassen, sondern auch jeden Kontakt zu unseren Freunden abgebrochen und Verwandte hatte ich nicht mehr. Er roch angenehm nach Marc und Zuhause. Trotz der Enttäuschung über sein ignorantes Verhalten nach dem Unfalltod meiner Eltern vor drei Jahren, hatten wir auch gute Zeiten gehabt. Wenn er jetzt, nur für mich, 350 Kilometer fuhr, war er vielleicht doch bereit, an unserer Beziehung zu arbeiten und meine Entscheidungen zu akzeptieren oder wenigstens Kompromisse zu suchen. Fernbeziehungen waren schwierig, aber eine langsame Wiederannäherung war möglicherweise genau das, was wir brauchten.

Ich lehnte mich in Marcs Arm zurück, um ihn anzusehen. Seine blonden Haare waren wie immer akkurat geschnitten, die blauen Augen strahlten mich an und seine Lippen umspielte ein wissendes Lächeln.

„Du hast mich auch vermisst.“

Ich nickte und lächelte vorsichtig zurück.

„Mein dickköpfiges Kätzchen, warum hast du mich nicht einfach angerufen, als du es endlich eingesehen hast.“ Er strich meine vom Schlaf zerzausten Haare zurück und mir wurde bewusst, dass ich nur mein altes Schlafshirt trug.

„Sorry, für den Aufzug. Ich hatte Nachtschicht und bin noch nicht richtig wach.“

„Das macht doch nichts. So verschlafen bist du besonders niedlich.“ Sein nächster Kuss war fordernder und ließ mich alles andere als kalt. Seine Hände strichen über meinen Rücken bis zum Po und er drückte mich an sich. Ein angenehmer Schauer durchlief mich, als ich Marcs Erregung fühlte. Ohne darüber nachzudenken klammerte ich mich an ihn. Er hob mich mühelos hoch und ich schlang die Beine um ihn.

„Schlafzimmer?“, murmelte Marc an meinen Lippen. Ich wies ihm die Richtung und er trug mich zum zerwühlten Bett. Als er mein Shirt abgestreift hatte, betrachtete er mich einen Augenblick.

„Du bist dünn geworden. Liebeskummer?“

Ich sah ihn unwillig an, er lächelte.

„Nicht böse sein. Steht dir gut, wirklich. Ich fand deine Pölsterchen sexy, aber jetzt. Wow!“

„Marc, ich weiß nicht, ob das hier eine gute Idee ist.“

Er legte sich neben mich und küsste mich zärtlich.

„Das hier ist die beste Idee, die wir seit Monaten hatten. Ich liebe dich und du liebst mich. Warum quälst du uns beide. Lass es geschehen, du willst es doch auch.“

Seine sanfte Stimme, unterbrochen von liebevollen Küssen und streichelnden Berührungen, lullte mich ein. Marcs Nähe fühlte sich so vertraut an und Sex war nie unser Problem gewesen. Also ließ ich los, ließ mich trösten von seiner Zärtlichkeit und aus meinem einsamen neuen Leben davontragen. Als er meinen schwindenden Widerstand spürte, streifte er seine Kleidung ab.

„Kätzchen, ich bin so froh, dass du es endlich eingesehen hast und ich jetzt nicht mehr ohne dich leben muss.“ Sein Körper war warm, ich fühlte das Spiel der durch zahlreiche Besuche im Fitnessstudio definierten Muskeln unter meinen Händen und in diesem Moment wollte ich ihn genauso wie er mich.

„Du hast mir so gefehlt“, flüsterte er, als er sich hingebungsvoll meinen Brüsten widmete. Ich kicherte, weil es kitzelte und er grinste diabolisch. Seine Hände wanderten an meinem Körper nach unten und ich bog mich der Berührung entgegen. Unser beider Atem beschleunigte und ich zog ihn ungeduldig zu mir. Marcs Blick glühte, als er sich zwischen meinen Schenkeln platzierte und in mich eindrang.

„Du gehörst mir, Nina“, keuchte er und bewegte sich mit steigendem Tempo. „Sag, dass du mir gehörst“, forderte er schmeichelnd. Ich schloss die Augen und versuchte, mich nur auf meinen Körper zu konzentrieren.

 

„Sag es!“ Seine Stimme eine Nuance schärfer, störte meine Konzentration.

„Nicht reden. Bitte“, hauchte ich und versuchte, wieder in den Taumel aus Leidenschaft zurückzufinden, in dem ich eben noch versunken war. Doch Marcs fester Griff in meinen Haaren und sein schneidender Ton holten mich wieder in die Realität zurück.

„Du gehörst mir und wirst ab sofort Vernunft annehmen.“ Ich legte meine Hände auf seine Brust und versuchte, ihn von mir zu schieben, aber er war wesentlich stärker als ich und unter ihm gefangen hatte ich keine Chance, zu entkommen.

„Du willst spielen?“, fragte er mit einem dunklen Lächeln und griff nach meinen Handgelenken, um sie links und rechts neben meinem Kopf auf die Matratze zu drücken.

„Lass mich los!“, fauchte ich. Verwirrt sah er mich an und nur langsam dämmerte ihm, dass ich meine Meinung zu unserem Versöhnungssex geändert hatte.

Er ließ mich los und zog sich von mir zurück. Ich rutschte von ihm fort und zog die Decke schützend über mich.

„Aber du wolltest es doch auch!“, sagte er konsterniert.

„Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun sollen“, antwortete ich. Er stand auf und zog sich an. Aus Verwirrung war inzwischen Wut geworden.

„Verdammt, Nina. Du tust, als hätte ich dich vergewaltigt. Du hast mich doch sofort besprungen, als ich kaum durch die Tür war!“

„Du hast ja recht, ich habe da wohl falsche Signale ausgesandt.“

Fassungslos sah er auf mich hinunter.

„Falsche Signale? Noch eine Minute und du wärst so laut gekommen, dass es die ganze Nachbarschaft mitbekommen hätte!“ Da hatte er nicht ganz unrecht und sofort beschlich mich ein schlechtes Gewissen. Ich streckte meine Hand nach ihm aus und er ließ sich zögernd auf der Bettkante nieder.

„Wir müssen reden. Ich ziehe mich schnell an und dann klären wir das“, erklärte ich. Er nickte und sah mir traurig nach, als ich ins Bad huschte.

Als ich zurück ins Schlafzimmer kam, war Marc nicht mehr da. Schnell zog ich Jeans und T-Shirt über und ging barfuß nach nebenan. Er saß mit einem Kaffee an meinem Esszimmertisch und hatte auch eine Tasse für mich hingestellt.

„Danke“, sagte ich und trank einen Schluck. „Warum bist du gekommen?“, fragte ich, ohne aufzusehen.

„Ich dachte, du wärst endlich zur Vernunft gekommen.“ Er klang bitter und verletzt.

„Das eben tut mir wirklich leid. Es war meine Schuld. Verzeihst du mir?“, fragte ich. Als ich aufblickte, nickte er und atmete tief durch.

„Hör zu. Ich war nicht auf Sex aus, als ich herkam. Ich wollte mit dir reden. Gegen Versöhnungssex nach dem Gespräch hätte ich natürlich nichts gehabt.“ Sein jungenhaftes Lächeln ließ meinen Widerstand bereits wieder schmelzen.

„Und worüber wolltest du mit mir reden?“ Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum.

„Frank, der mit dem Malergeschäft, hat mir erzählt, dass er den Auftrag bekommen hat, dein Elternhaus zu streichen und zwar nicht von dir.“

Ich kaute unschlüssig auf meiner Unterlippe, antwortete aber schließlich doch.

„Ich habe es verkauft.“

„Das habe ich mir schon gedacht.“ Er wartete auf eine Erklärung, aber was hätte ich sagen sollen? Seit ich das Haus vor drei Jahren geerbt hatte, lag er mir mit dem Verkauf oder zumindest mit einer Vermietung in den Ohren. Er hatte nie nicht verstanden, warum ich das Haus leerstehen ließ, während wir nur ein paar Kilometer weiter zur Miete wohnten. Immer wieder hatten wir uns deshalb gestritten und mit jedem Streit war meine Verbitterung über sein nicht mal rudimentär vorhandenes Verständnis für meine Trauer gewachsen.

„Seit ich mitbekommen habe, dass du endlich auf mich gehört hast, habe ich auf eine Nachricht von dir gewartet, Kätzchen. Ich dachte, vielleicht wolltest du deine Fehler damit wiedergutmachen.“ Er griff nach meiner Hand.

„Welche Fehler?“, fragte ich irritiert.

„Na, wegzulaufen, zum Beispiel. Die bescheuerte Idee, dein Studium hinzuschmeißen und dich stattdessen um diese Asozialen zu kümmern.“ Ich zog meine Hand aus seiner und endlich dämmerte mir, was mich vorhin so gestört hatte.

„Ich habe mein Studium mit dem Bachelor in Sozialpädagogik beendet und nicht geschmissen und ich liebe meinen Beruf. Das waren keine Fehler.“ Er winkte ab und lehnte sich zurück.

„Ich will dich doch gar nicht daran hindern, dich selbst zu verwirklichen.“ Er deutete mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft an. „Ich verdiene genug für uns beide, von mir aus musst du gar nicht arbeiten. Such dir eine Beschäftigung, die dir Freude macht, vielleicht etwas mit Kindern, aber doch nicht mit Verbrechern.“

Mit offenem Mund starrte ich ihn an.

„Wenn wir erst verheiratet sind und Kinder haben, hat sich das doch sowieso erledigt. Ich verstehe nicht, warum du so ein Theater veranstaltest“, ergänzte er.

„Und was erwartest du jetzt von mir?“, fragte ich. Sein Lächeln kam zurück.

„Pack deine Sachen und wir fahren nach Hause. Du bist noch in der Probezeit und kannst diesen sinnlosen Job schnell loswerden. Bis zum Ende der Kündigungsfrist besorgen wir dir eine Krankmeldung und für deine Wohnung finden wir bestimmt einen Nachmieter. Ist ja ganz hübsch und zentral gelegen.“ Er sah sich zum ersten Mal wirklich um.

„Das ist eine Eigentumswohnung“, sagte ich, noch immer geschockt über seine Ignoranz.

„Bist du bescheuert? Was hast du dafür bezahlt?“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

„Du kannst doch nicht einfach unser Geld zum Fenster rauswerfen, ohne mich zu fragen!“, sagte er mit erhobener Stimme.

Es war einer dieser Momente, in denen man sein Leben von oben beobachtet und endlich das ganze Bild sieht. Warum hatte ich acht Jahre gebraucht, um zu sehen, dass Marc sich nur für einen Menschen auf der Welt interessierte und das war er selbst. Ernüchtert sah ich ihn an.

„Warst du schon immer so ein Arschloch und ich zu blöd, um das zu bemerken oder ist das neu?“

„Was?“ Eben noch in Rage, war er jetzt nur noch verwirrt.

„Du solltest gehen. Danke für deinen Besuch.“ Ich ging zur Wohnungstür und öffnete sie.

„Aber ich bin drei Stunden gefahren, nur um mit dir zu reden!“

„Du hättest vorher anrufen sollen.“ Ich nickte zur offenen Tür. Wütend stapfte er an mir vorbei und verließ ohne ein weiteres Wort mein Leben.

Als ich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, räumte ich die Kaffeetassen in die Spülmaschine und ging dann hinaus auf meine Dachterrasse. Ich drehte mich einmal im Kreis. Das hier war jetzt mein Leben. Mein altes Leben war vorbei. Endgültig. Ich war allein, hatte keine Verwandte, keine Freunde, aber ich hatte auch niemanden mehr, der mir das Leben schwermachte. Ich hatte einen Job, der mir Freude bereitete, Kollegen, die mich mochten. Der Rest würde sich ergeben. Ich musste nur daran glauben, daran arbeiten. Dann würde ich bald auch nicht mehr so allein sein. Ganz sicher. Trotzig sah ich auf den Park unter mir und blinzelte die Tränen fort, die meinen Blick verschleierten.