Lebendkontrolle

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Kapitel 3

Nina

Als ich auf dem Parkplatz vor der JVA parkte, stellte mein Chef, Tom Tellmann, ebenfalls den Wagen ab. Er wartete auf mich und ich ging lächelnd auf ihn zu. Mit den blonden, kurzen Haaren und den blauen Augen sah er sogar in der Uniform gut aus, was sicher auch an seiner eindrucksvollen Größe lag.

„Guten Morgen, Nina. Schönes Wochenende gehabt?“

„Danke, ich hab viel geschlafen“, antwortete ich ausweichend.

„Ja, an die Nachtschichten muss man sich erst gewöhnen.“

„Ich komme damit klar.“ Tom war für die Schichtpläne zuständig und ich wusste, dass er mich mochte. Auf keinen Fall wollte ich, dass er mir deshalb eine Sonderbehandlung zukommen ließ.

„Jetzt hast du ja erst mal drei Wochen Tagschichten. Was hältst du davon, wenn wir am nächsten Wochenende zusammen ins Kino gehen?“ Entgegen seinem sonst eher lauten Wesen klang er bei der Frage beinah schüchtern und er war eindeutig rot geworden. Süß. Ich wollte zwar nichts mit einem Kollegen anfangen, insbesondere nicht mit meinem Chef, aber warum sollte ich nicht mit Tom ins Kino gehen. War ja nichts dabei und vielleicht fand ich durch ihn ja ein paar neue Freunde. Auf jeden Fall war ein Kinobesuch mit Tom besser, als wieder das ganzen Wochenende heulend auf dem Sofa zu verbringen.

„Ja, warum nicht, wenn etwas Gutes läuft“, antworte ich und bemühte mich, locker zu klingen. Tom strahlte.

„Ja? Das ist super. Wir sehen später nach, was läuft. Heute wird hoffentlich ein ruhiger Tag. Keine Neuzugänge, keine Entlassungen und wie ich gehört habe, ist auch mit Kanter am Wochenende alles gutgegangen.“

Ich war erleichtert, das zu hören, versuchte aber, es mir nicht anmerken zu lassen. Zwischen all dem Selbstmitleid hatte ich am Wochenende immer wieder an Kanter gedacht und war mehrmals kurz davor gewesen, in der JVA anzurufen, um mich nach ihm zu erkundigen.

„Tom, du hast mir ja die Aufgabe mit der Bibliothek gegeben, hast du etwas dagegen, wenn ich Kanter zur Unterstützung hole?“, fragte ich. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Eigentlich ist das Wagners Aufgabe, aber wenn du lieber Kanter willst, okay. Ist deine Entscheidung.“

„Ich dachte nur, dass er nach dem Suizidversuch Beschäftigung braucht und ich kann ihn dann auch besser im Auge behalten.“

„Ja, gute Idee. Lass ihn nur nicht allein in der Bibliothek, nicht dass er etwas findet, womit er sich wieder die Pulsadern aufschneidet.“

Ich schluckte. Obwohl ich von dem Selbstmordversuch wusste, hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wie er es versucht hatte. Verletzungen hatte ich nicht gesehen, aber so genau hatte ich mir seine Arme auch nicht angesehen und als ich seinen Puls gefühlt hatte, war es fast dunkel gewesen.

Als wir ins Aquarium kamen, hatte Christian Rau schon wieder seinen Mörderkaffee gekocht und ich mischte das tödliche Gebräu zur Hälfte mit Milch und viel Zucker.

„Sicher, dass du nicht lieber Kakao trinkst?“, fragte Christian, während er angewidert meine Barista-Arbeit beobachtete.

„Kaffee ist okay, aber ich brauche meine Magenschleimhaut auch in den nächsten Jahren noch.“

Wir waren zu dritt in der Frühschicht, die von 6.00 bis 14.00 Uhr dauerte und mit der Frühstücksausgabe begann. Das Frühstück wurde von Häftlingen, die in der Anstaltsküche arbeiteten, ausgegeben. Mit Christian schloss ich eine Zelle nach der anderen auf, damit sich die Häftlinge ein Tablett mit ihrem Frühstück holten und mit in ihre Zelle nahmen. Als ich die Tür mit der Nummer sieben aufschloss, zitterte meine Hand zu meinem große Ärger und Unverständnis und es gelang mir nur mit Mühe, den Schlüssel umzudrehen. Als ich mit ärgerlichem Gesicht die Tür öffnete, stand Kanter direkt dahinter. Erschrocken wich ich zurück, auch Kanter trat einen Schritt nach hinten und hob beschwichtigend die Hände.

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken, Frau Larsen.“

„Nein, war meine Schuld, ich war in Gedanken.“ Ich trat beiseite und er ging an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Ich schaute ihm nach und mein Blick fiel automatisch auf seine Arme. Trotz des für heute angekündigten warmen Wetters trug er einen langärmligen blauen Anstaltspullover, von seinem Selbstmordversuch war nichts zu erkennen. Er machte nicht den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Ich hatte ihn zwar erst einmal kurz lachen sehen, aber er hielt sich gerade und sprach mit fester Stimme, wenn er mal etwas sagte.

Der gesunde Eindruck lag sicher auch an seiner guten körperlichen Verfassung. Er hatte breite Schultern, eine schmale Taille und einen sehr knackigen… Bevor ich den Gedanken zu Ende führte, wandte ich mich schnell ab. Was dachte ich denn da!

Als ich zur nächsten Zelle kam, stand Christian schon an der geöffneten Zellentür.

„Träumst du? Bei deinem Tempo verhungern die Häftlinge ja.“

Ich verdrehte die Augen und lief zurück zur ersten Zelle, um wieder abzuschließen. Irgendwann würde mir von der ganzen Ab- und Aufschließerei noch der Arm abfallen.

Das Aufschließen der Zellen, damit die Männer ihre Frühstückstabletts zurückbrachten, überließ ich den Kollegen, stattdessen sah ich mich in der Bibliothek um.

Bibliothek war eine hochgegriffenen Bezeichnung für den zwanzig Quadratmeter großen Raum mit Regalen an drei Wänden und zwei Tischen mit Stühlen in der Mitte. Auf einem der Tische stand ein antiquierter Computer, der für die Erfassung und Verwaltung des Buchbestandes genutzt wurde. Die beiden Fenster waren wie überall in der Abteilung vergittert. Vor einem der Regale stapelten sich zehn Kartons mit gebrauchten Büchern. Eine Spende, die von mir Buch für Buch kontrolliert werden musste, bevor ein Häftling, Kanter, sie in der Datenbank erfassen, mit einem Code bekleben und in die Regale einräumte. Arbeit für mindestens eine, wenn nicht für zwei Wochen. Ich zwang mich zu einem Stöhnen, obwohl ich die Aussicht auf die Arbeit mit Kanter eigentlich erfreulich fand. Bevor ich den Raum wieder verließ, schaute ich in allen Ecken und Winkeln nach, ob etwas Scharfes, wie ein Nagel oder ein Glas herum lag, fand aber nichts Gefährliches.

„Fertig für einen Arbeitstag in der Bibliothek?“, fragte ich, als ich die Tür zu Zelle sieben öffnete. Kanter stand in der Mitte des acht Quadratmeter kleinen Raumes, der aufgrund seiner Körpergröße von über 1,90 m noch winziger wirkte und nickte. Er kam aus der Zelle, als ich die Tür abschloss, sah ich, dass er schmerzlich das Gesicht verzog.

„Kein schönes Geräusch, da haben Sie recht“, sagte ich, aber er reagierte nicht. Würde wohl ein schweigsamer Arbeitstag werden. Vielleicht redete Kanter ja nur nachts, aber für einen Vampir war er eindeutig nicht blass genug.

In der Bibliothek erklärte ich ihm, was wir zu tun hatten und er schaltete den Computer ein, der eine halbe Ewigkeit brauchte, bis die Programme luden. Als ich den ersten Karton auf den Tisch stellen wollte, nahm mir Kanter die schwere Kiste ab.

„Danke“, sagte ich, er nickte nur und setzte sich wieder an den Computer.

Die Bücher waren gut erhalten und ich blätterte jedes Einzelne durch, um sicher zu gehen, dass nichts zwischen den Seiten versteckt war. Dann legte ich sie neben den Computer, damit Kanter sie in der Datenbank erfasste.

„Sie kennen sich mit Computern gut aus. Womit haben Sie draußen ihr Geld verdient?“, versuchte ich, ein unverfängliches Gespräch zu beginnen, aber ich bekam keine Antwort.

„Das wird aber eine ganz schön langweilige Woche, wenn Sie nicht mit mir reden.“ Ich setzte mich auf die Tischkante neben die Bücher, die ich bei ihm aufgestapelt hatte.

„Dann hätten Sie jemand anderen bitten sollen, Ihnen zu helfen“, antwortete er, ohne aufzusehen.

„Sind Sie sauer, weil ich Sie Freitagnacht ständig geweckt habe?“

Jetzt sah er doch auf.

„Warum sollte ich deshalb sauer sein, Sie haben nur ihre Arbeit gemacht.“

„Größtenteils ja, aber ich hätte Sie nicht mitten in der Nacht mit Kaffee abfüllen müssen.“ Ich zuckte entschuldigend die Schultern und bemerkte, dass etwas von seiner Anspannung von ihm abzufallen schien.

„Ich fand das eigentlich nett von Ihnen“, antwortete er.

„Ja, ich auch. Ich meine, ich fand es nett, mit Ihnen zu reden.“ Gott, was sagte ich denn jetzt schon wieder! Schnell stand ich auf, um weitere Bücher durchzusehen und mein rotanlaufendes Gesicht zu verstecken. Als ich auch nach einigen Minuten noch immer kein Tastaturgeklapper hörte, sah ich zu Kanter hinüber, der mich nachdenklich betrachtete. Verunsichert schaute ich an mir hinunter. Hatte ich meine Uniformbluse falsch zugeknöpft?

„Was ist?“, fragte ich, als ich nichts Ungewöhnliches entdeckte.

„Sie sind anders, als die anderen Schließer“, sagte er schlicht.

„Hey, Schließer ist aber keine nette Bezeichnung. Ich nenne Sie ja auch nicht Knacki.“ Er zuckte bei meiner Bemerkung fast unmerklich zusammen und mir taten meine Worte sofort leid. Aber ich entschuldigte mich nicht dafür, das hätte lächerlich gewirkt.

„Warum meinen Sie, dass ich anders bin?“, fragte ich stattdessen.

„Sie sind die hartnäckigste Vollzugsbeamtin, die ich in den letzten zwei Jahren kennenlernen durfte“, antwortete er.

„Und ist das gut oder schlecht?“

„Weiß ich noch nicht.“ Er nahm ein Buch vom Stapel.

„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass sie ein wirklich anstrengender Gesprächspartner sind?“, fragte ich.

„In letzter Zeit nicht.“

„Ja, natürlich nicht. Sie sprechen ja mit keinem.“

„Ich spreche doch mit Ihnen.“

 

„Ja, das tun Sie“, sagte ich und lächelte ihn an, was ihn zu verunsichern schien, denn er starrte angestrengt auf das nächste Buch, ohne zu bemerken, dass es falsch herum lag.

„Warum reden Sie nicht mit den anderen Häftlingen?“, ich musste die Gelegenheit nutzen, gesprächig und verunsichert hatte ich Kanter noch nicht erlebt.

„Ich bin lieber für mich“, antwortete er, ohne aufzusehen. Als ich das Buch herum drehte, auf das er noch immer starrte, lächelte er bitter und sah dann mit seinen warmen braunen Augen direkt in meine.

„Ich habe diese Strafe verdient, wissen Sie? Und vier Jahre sind noch viel zu wenig.“

„Und deshalb sind Sie der Ansicht, Sie müssten sich zusätzlich mit Einsamkeit bestrafen, wenn Sie Ihr über Sie selbst verhängtes Todesurteil schon nicht vollstrecken konnten?“

Er hielt meinen Blick eine ganze Minute, dann tippte er weiter.

„Sie sollten dem Richter glauben, dass die Strafe, die er Ihnen gegeben hat, ausreichend ist. Sie müssen sich nicht zusätzlich selbst bestrafen.“

Er straffte seine Schultern und setzte sich kerzengerade hin, bevor er mich wieder ansah. Sein vorher so warmer Blick hatte jede Sanftheit verloren.

„Frau Larsen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihre sozialpädagogischen Zwangshandlungen und Ihr Gutmenschentum an jemand Anderem ausließen und jetzt bitte ich Sie, mich zurück in meine Zelle zu bringen. Ich fühle mich nicht wohl.“ Damit stand er auf und wartete neben der Tür.

Ich hatte es ja sowas von verbockt! Unprofessionell und dämlich. Nur weil ich einsam war und trotz allem den verdammten Marc vermisste, konnte ich doch nicht einfach fremden Menschen Gespräche aufdrängen! Vor allem nicht Häftlingen, die sich gegen meine Aufdringlichkeiten nicht wehren konnten.

Ich brachte Kanter zurück in seine Zelle.

„Wenn Sie sich morgen besser fühlen und weiter in der Bibliothek arbeiten möchten, sagen Sie es einem der Vollzugsbeamten von der Frühschicht, ich werde erst zur Mittagsschicht hier sein“, erklärte ich, als ich die Tür zu Zelle sieben aufschloss. Er ging hinein, blieb vor dem kleinen vergitterten Fenster stehen und schaute hinaus. Das war wohl die ganze Antwort, die ich von ihm erhalten würde, also schloss ich ihn in der Zelle ein und trottete zurück zum Aquarium.

Bevor ich an diesem Tag nach Hause fuhr, um mich mit einem Glas Wein und meiner liebsten Heul-Musik in die Badewanne zurückzuziehen, ging ich noch beim Hausmeister vorbei, um ihm einen Auftrag zu geben.

Kapitel 4

Julian

Warum ließ mich diese Frau nicht in Ruhe? Sonst scherte sich doch auch niemand darum, ob ich sprach oder nicht. Aber nochmal würde ich ihr nicht in die Falle gehen. Auch wenn die Aussicht, aus dieser Zelle herauszukommen, noch so verlockend war, würde ich mich ihrem Verhör nicht wieder stellen. Ich presste die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer schmerzte und sah stur weiter aus dem Fenster.

Ich zuckte zusammen, wie immer wenn ich das Geräusch des Schlüssels im Schloss der Zellentür hörte und drehte mich widerwillig um. Wenn das die Larsen war, würde ich sie mit so deutlichen Worten rausschmeißen, dass sie sich nie wieder in meine Zelle traute. So unsicher und verletzlich, wie sie wirkte, würde das ein Kinderspiel werden. Aber als die Tür geöffnet wurde, war es nicht die Schließerin, sondern ein anderer Wärter und der Hausmeister.

„Ja, das Schloss klemmt wirklich etwas. Ist aber sicher nichts, was sich nicht mit ein paar Tropfen Öl beheben lässt“, murmelte der Hausmeister und stellte seinen Werkzeugkasten ab. Er baute das Schloss der Zellentür aus, ölte es sorgfältig und baute es wieder ein. Dann ölte er auch noch die Türangeln, verabschiedete sich und der Wärter schloss ab.

Sprachlos hatte ich dem Schauspiel zugesehen und fiel jetzt rückwärts auf mein Bett. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass der Auftrag, das Schloss zu ölen, von Frau Larsen kam. Sie hatte mir angesehen, wie sehr ich darunter litt eingesperrt zu sein und wie verhasst mir das damit verbundene Geräusch des Schlosses war. Sie hatte sich tatsächlich Gedanken gemacht, wie sie mir die Situation erleichtern konnte. Das hier war verdammt nochmal das Netteste, was jemand in den letzten zwei Jahren für mich getan hatte!

Ich legte den Arm über meine Augen und stöhnte. Damit konnte ich sie nicht mehr einfach abblitzen lassen. Unmöglich konnte ich sie nach dieser Aktion so kränken, dass sie mich in Ruhe ließ, so ein Schwein war ich dann doch nicht. Aber das bedeutete, dass ich mich weiter mit ihr auseinandersetzen musste und das würde alles andere als einfach werden. Auch wenn sie mit ihren kaum 1,65 m in ihrer Uniform noch so harmlos aussah, sie war schlau und hartnäckig. Zielsicher fand sie meine wunden Punkte und bohrte darin herum. Aber das Schlimmste an ihr war, dass sie mich an Jessica erinnerte. Jessi wäre zwar niemals ungeschminkt wie Frau Larsen in der Öffentlichkeit herumgelaufen und hätte ihre langen dunkelblonden Haare niemals zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber sie hatten neben der gleichen Haarfarbe und Haarlänge auch etwa die gleiche Größe und Figur.

An den richtigen Stellen füllig, wie ich fand, war Jessi selbst nie mit ihrer Figur zufrieden gewesen. Als ich Frau Larsen am Freitag zum ersten Mal sah, wie sie unschlüssig in der Zellentür stand, war mir beinah das Herz vor Schreck stehengeblieben und später hatte mich ein so heftiger Albtraum im Griff, dass ich mich nicht mehr traute, einzuschlafen. Selten war ich für Kaffee und Gesellschaft so dankbar gewesen wie in dieser Nacht.

Erst nach einer ganzen Weile fiel mir auf, dass ich beim Abschließen der Zellentür keine Panikattacke bekommen hatte. Normalerweise löste das Geräusch des schließenden Schlosses regelmäßig Atemnot bei mir aus, die ich dann minutenlang niederringen musste, bis ich nicht mehr glaubte, zu ersticken. Das klaustrophobische Gefühl blieb allerdings mein ständiger Begleiter.

Vielleicht lag es an meiner Verwirrung über das Verhalten der Schließerin oder einfach daran, dass das Geräusch des Schlosses jetzt nicht mehr nur bedeutete, dass ich eingeschlossen wurde, sondern auch, dass jemand an mich gedacht hatte.

Die Frau war gefährlich. Nach nur einer Nacht und einem Tag mit ihr ging es mir besser, unterhielt ich mich wieder, genoss ihre Gesellschaft und hatte sogar mit ihr gelacht! Das war falsch, so falsch.

Meine Gedanken kreisten und die Spannung in mir stieg von Minute zu Minute, bis ich aufsprang und in der Zelle auf und ab ging, aber dadurch wurde die Anspannung nur größer. Die angenehmen Gefühle standen mir nicht zu, ich musste dem unbedingt etwas entgegensetzen, aber es gab hier nichts, was ich tun konnte, um die Spannung abzubauen. Hilflos sah ich mich um. In Ermangelung einer Alternative begann ich, neben dem Bett Liegestütz zu machen und würde so schnell nicht wieder damit aufhören.

Kapitel 5

Nina

Schlecht gelaunt betrat ich das Aquarium kurz vor Schichtbeginn um 14.00 Uhr. Normalerweise tröstete mich meine Arbeit über mein nicht vorhandenes Privatleben hinweg, aber der gestrige Misserfolg hatte mir nicht mal das gelassen. Christian Rau packte gerade seine Sachen zusammen, um nach Hause zu fahren.

„Hallo Christian. Wer hat heute mit mir Dienst?“

„Der Chef“, sagte er und deutete auf einen der Beobachtungsmonitore, auf denen Tom zu sehen war. Christian hatte schon die Tasche in der Hand, als er sich nochmal an mich wandte.

„Ich soll dir von Kanter ausrichten, dass er gern weiter in der Bibliothek arbeiten möchte. Ich weiß ja nicht, wie du das gemacht hast, aber er scheint langsam aufzutauen.“

Perplex sah ich ihm nach, damit hatte ich nicht gerechnet und meine Laune hob sich sofort merklich.

„Hallo Lieblingskollegin. Was zaubert denn dieses liebenswerte Lächeln auf dein Gesicht? Ich hoffe, es ist die Tatsache, dass du heute mit mir arbeiten darfst“, sagte Tom grinsend und warf sich lässig auf einen Stuhl.

„Bilde dir bloß nichts ein. Das liegt nur am herrlichen Sonnenschein und der Tatsache, dass ich heute ausschlafen konnte.“ Tom Tellmann legte beide Hände auf sein Herz und spielte mir einen unglaubwürdigen Herzinfarkt vor, bevor er wieder breit grinste.

„Hast du schon nachgesehen, was Samstag im Kino läuft?“, fragte er. Ich schüttelte verneinend den Kopf.

„Ich sehe nach und sag es dir später, okay?“

„Ja. Ich geh dann mal wieder in die Bibliothek.“

„Du machst deine Arbeit wirklich gut, Nina. Bisher ist noch keiner an Kanter rangekommen und er scheint sich durch die Arbeit mit dir positiv zu entwickeln.“

„Danke. Es bedeutet mir viel, dass du das sagst.“ Und das tat es tatsächlich.

Schon als ich den Schlüssel in der Zellentür mit der Nummer sieben drehte, merkte ich, dass sich meine gestrige Bestechungsaktion per Schokoriegel bei unserem Hausmeister ausgezahlt hatte. Fast lautlos öffnete sich das Schloss. Diesmal erschrak ich nicht, als Kanter direkt hinter der Tür stand. So schnell würde ich mich nicht wieder von ihm aus der Fassung bringen lassen.

„Hallo, Herr Kanter, bereit für die Arbeit?“, fragte ich und trat beiseite, aber er machte keine Anstalten, die Zelle zu verlassen.

„Danke“, sagte er und wies auf das Schloss.

„Gern geschehen.“ Ich konnte das Strahlen nicht unterdrücken und nach einem Moment erwiderte er mein Lächeln.

„Können wir dann?“, fragte ich und er ging vor mir in Richtung Bibliothek.

Kanter schien heute guter Stimmung zu sein, vielleicht öffnete er sich mir ja noch etwas weiter.

„Und, worüber sollen wir uns heute unterhalten?“, fragte ich, um nicht wieder unbeabsichtigt ein heikles Thema anzuschneiden und setzte mich zu ihm an den Tisch.

„Ich beantworte Ihre Fragen, wenn Sie mir meine beantworten“, sagte er und lächelte. Der Anblick war so ungewohnt, dass ich ihn beinah nicht wiedererkannte.

„Einverstanden. Aber bevor Sie wieder sauer werden, wenn ich eine Frage stelle, die Ihnen nicht gefällt, sagen Sie passe. Okay?“ Er nickte und ich fuhr fort: „Erste Frage. Sind Sie ein Außerirdischer, der den Körper von Julian Kanter übernommen hat?“

Er grinste.

„Passe!“

„Oh, da hab ich jetzt aber wirklich Angst vor Ihnen. Los, Sie sind mit Fragen dran.“ Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

„Sie wollen das wirklich durchziehen, so wie in Das Schweigen der Lämmer?“

„Gut, dann hab ich eben Angst vor Ihnen, weil Sie ein genialer Kannibale sind.“

„Ich dachte, ich bin der junge, gutaussehende FBI Agent und Sie die kannibalische Serienmörderin.“

„Natürlich, die Rolle passt gut zu mir, aber ich hoffe, Sie kommen nicht wegen meiner Ähnlichkeit mit Antony Hopkins auf diese Rollenverteilung.“

„Nein, ich denke, deshalb müssen Sie sich keine Sorgen machen.“

Ich nahm das erste Buch in die Hand und wartete, dass er eine Frage stellte, aber er blieb still. Dann würde ich eben anfangen.

„Warum haben Sie sich entschieden, weiter mit mir zu arbeiten?“ Es war riskant, gleich mit so einer tiefgehenden Frage anzufangen, aber seine gute Laune machte mich mutig.

„Das Schloss“, sagte er schlicht und ich musste erst einen Moment darüber nachdenken, bevor mir klar wurde, was er meinte.

„Das Geräusch hat Sie wirklich gestört, was?“

„Ich bin dran. Warum haben Sie mich ausgesucht?“, fragte er.

„Ich mag Herausforderungen und ich denke, Sie sind eine von den ganz Großen, Herr Kanter.“

„Julian“, sagte er und blickte direkt in meine Augen.

„Ich weiß nicht, ob das gut ist. Wäre nicht sehr professionell.“

„Nur während wir FBI Agent und Serienmörderin sind. Bitte.“

Scheiß auf die Professionalität, dachte ich mir.

„Also gut, Agent Julian.“

„Ich kenne nicht mal Ihren Vornamen“, sagte er und ein dunkler Schatten legte sich über seine Augen.

„Nina, mein Name ist Nina.“

„Dr. Nina Lecter, es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen.“ So schnell der Schatten aufgezogen war, so schnell war er wieder verschwunden.

„Warum sind Sie ins Saarland gekommen, Nina?“

„Wegen des Jobs. Warum reden Sie mit niemandem?“

„Weil ich nichts zu sagen habe.“

Ich sah ihn abschätzend an.

 

„Ich verstehe schon. Also fange ich mit meiner Antwort nochmal von vorn an.“

Julian nickte und lächelte. Er würde mich nicht mit oberflächlichen Antworten davonkommen lassen, wenn ich Tiefgründiges von ihm erwartete.

„Als meine Eltern vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben kamen, hat mich das ziemlich aus der Bahn geworfen. Statt wie geplant meinen Master in Sozialpädagogik zu machen, hab ich eine Ausbildung zur Justizvollzugsbeamtin gemacht und da es nach der Ausbildung keine Stelle in der Nähe gab, hab ich meine Zelte im Ruhrgebiet komplett abgebrochen und bin her gezogen. Also, Julian, warum reden Sie mit niemandem?“

Er sah mich ernst an und nickte. Für meine Offenheit würde ich eine ehrliche Antwort von ihm erhalten, aber es fiel ihm offensichtlich schwer, diese in Worte zu fassen.

„Weil ich die Ablenkung nicht verdiene.“

„Das verstehe ich nicht.“

Er presste die Kiefer so fest zusammen, dass man das Spiel der Wangenmuskeln sah, als er mich anblickte.

„Sie wissen wirklich nicht, was ich getan habe“, stellte er leise fest.

„Ich möchte es nur wissen, wenn Sie es mir erzählen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ist schon in Ordnung. Wir müssen nicht darüber reden, aber ich bin da, wenn Sie sich eines Tages anders entscheiden.“

Er sah auf seine Hand und erst jetzt merkte ich, dass ich meine daraufgelegt hatte. Ich wollte sie zurückziehen, aber er drehte seine schnell um und hielt mich fest. Vorsichtig strich er mit dem Daumen über meinen Handrücken.

„Es ist mir egal, was Sie getan haben. Ich freue mich, dass Sie überhaupt mit mir reden, es müssen nicht gleich die ganz schweren Themen sein“, sagte ich.

„Es ist schön, mit Ihnen zu sprechen. Sie sind etwas Besonderes, Nina.“ Als er mich ansah, flogen tausend Schmetterlinge in meinem Bauch auf und ich zog erschrocken die Hand zurück. Was tat ich denn da? Ich musste dringend hier raus. Fahrig stand ich auf.

„Ich denke, wir sollten eine kleine Pause machen. Ich hole uns einen Kaffee.“

Bevor er antwortete, war ich schon aus dem Raum geflohen und den halben Gang zu den Waschräumen hinunter. Als mir einfiel, dass ich vergessen hatte abzuschließen, lief ich schnell zurück und holte das nach. Dann flüchtete ich in die Damentoilette.

Aus dem Spiegel blickte mir eine Frau mit großen, erschrockenen Augen und geröteten Wangen entgegen.

„Scheiße, bin ich echt so verzweifelt, dass ich schon Häftlinge anmache?“, flüsterte ich und wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser. Lange konnte ich nicht fortbleiben, ich durfte Julian nicht allein in der Bücherei lassen, schließlich waren noch nicht alle Kartons kontrolliert und es konnte sonst was rumliegen.

So, wie sich Julian verhielt, war die Suizidgefahr keinesfalls gebannt und ich machte das Ganze mit meinem pubertären Verhalten nur noch schlimmer. Wie konnte ich nur mit einem Gefangenen Händchen halten? Und ihm war dabei nicht der geringste Vorwurf zu machen, schließlich hatte ich damit angefangen.

Als ich mich einigermaßen gefangen hatte, ging ich zurück zur Bibliothek. Julian hatte sich keinen Millimeter bewegt, seit ich den Raum verlassen hatte. Er lächelte wissend und sah auf meine leeren Hände. Mist, den Kaffee hatte ich vergessen. Ich drehte mich um und wollte den Raum wieder verlassen, aber er war mit drei Schritten bei mir und hielt mich am Arm zurück. Gequält sah ich ihn an.

„Es ist alles okay. Sie müssen keine Angst haben, dass ich etwas in Ihr Verhalten hinein interpretiere, was nicht da ist. Ich bin ein Häftling und Sie tun ihren Job, indem Sie sich mit mir beschäftigen.“

Ich wollte ihm widersprechen, ihm sagen, dass er für mich mehr als irgendein Gefangener sei, er sollte sich nicht wie eine Nummer fühlte, aber er bot mir einen so einfachen Ausweg aus meiner Misere, dass ich nicht widerstand.

„Ja, interpretieren wir nichts hinein. Vielleicht arbeiten wir einfach noch etwas weiter, sonst werden wir mit dem Bücherberg niemals fertig“, sagte ich feige.

In den nächsten zwei Stunden arbeiteten wir schweigend. Ich hatte bereits drei Kartons kontrolliert und auch Julian kam mit der Erfassung in der Datenbank gut voran. Nur langsam ließ meine Spannung nach und ich warf immer wieder verstohlene Blicke auf den Mann am Computer. Julian sah kaum von seiner Arbeit auf.

Als die Tür geöffnet wurde, war ich von dem plötzlichen Geräusch so überrascht, dass ich erschrocken zusammenfuhr. Tom kam in die Bibliothek und grinste mich an.

„Kann ich dich mal kurz sprechen?“ Ich nickte und folgte ihm auf den Flur, die Tür ließ ich einen Spalt offen.

„Wie läuft es mit ihm?“, fragte Tom.

„Oh, gut. Wir kommen voran.“

„Ja, du machst das wirklich toll, hab ich dir ja schon gesagt. Ich hab mir das Kinoprogramm angesehen. Es läuft Ein ganzes halbes Jahr und so ein Action-Streifen. Ich dachte, du möchtest den schmalzigen Frauenfilm sehen.“

„Nett von dir, dass du dich opfern willst, aber Action ist mir lieber.“

„Ja, Dramen haben wir hier ja genug.“ Er sah auf die Tür zur Bibliothek, aber ich konnte seinen Blick nicht deuten.

„Wann läuft der Film?“, fragte ich.

„Um acht Uhr geht es los. Möchtest du vorher etwas mit mir essen gehen?“

„Oh, das hört sich aber schwer nach einem Date an. Ich dachte, wir gehen nur als Kollegen ins Kino.“

„Auch Kollegen müssen essen, aber wenn du nur ins Kino willst, hole ich dich um halb acht ab. Du wohnst doch in der Innenstadt?“

„Ja, in dem Apartmenthaus an den Kasematten. Nummer sieben. Kannst du dir das merken, oder soll ich dir die Adresse aufschreiben. Sieben wie die Zellennummer von Kanter.“

Tom sah mich mit erhobenen Augenbrauen an.

„Danke für die Eselsbrücke, das kann ich mir merken.“

„Okay, ich gehe dann mal wieder rein und arbeite weiter.“

Ich schloss die Tür der Bibliothek hinter mir und lehnte ich mich erleichtert dagegen. Als ich aufsah und in Julians undurchsichtiges Gesicht blickte, zuckte ich zusammen. Ich war so froh, Tom loszuwerden, bevor er mir meinen aufgewühlten Zustand anmerkte, dass ich vergessen hatte, dass ich nicht allein war.

„Ein Date mit dem Boss. Sie verstoßen wohl gern gegen die Regeln, Frau Larsen.“

„Das ist kein Date“, beteuerte ich, aber wem wollte ich etwas vormachen? „Halt die Klappe, Julian und hau in die Tasten“, sagte ich und schnappte mir das nächste Buch.

Das Klappern der Tastatur mischte sich mit seinem leisen Lachen, aber ich sah nicht rüber. Ich würde ganz bestimmt nicht mein verkorkstes Liebesleben mit einem Häftling diskutieren!