Kraniche über Otterndorf

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Kraniche über Otterndorf
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Für Gudrun,

die immer an mich und

den Roman geglaubt hat.

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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eISBN 978-3-8271-8399-6

Hedi Hummel

Kraniche über Otterndorf

Ein Nordsee-Krimi


Prolog

Vor 20 Jahren

1,37 m war die Kiste lang und 90 cm breit. Sein Vater hatte sie mit einer durchgesägten alten Federkernmatratze aufgefüllt. Doch es blieb ein Rand von etwa 2 cm, der überstand. Die beiden Zentimeter waren schuld daran, dass Rob sich mehrmals in der Nacht den Kopf oder das Bein anstieß. Am schlimmsten aber war, dass die Kiste einfach nicht lang genug war, um sich darin gemütlich auszustrecken, und er immer irgendwie gekrümmt in seinem Bett lag.

Biegsam war er schon immer gewesen, und das musste er auch sein, um zurechtzukommen. Nicht nur in seinem Bett. Das Zusammenleben mit dem Vater barg so viele Klippen, die es zu umschiffen galt, wollte man einigermaßen ungeschoren durch den Tag kommen.

Da sah er auch schon den Schatten und gleich darauf das Gesicht seines Vaters draußen am Fenster auftauchen, und unwillkürlich duckte er sich. Das braune, halblange Haar nach hinten gekämmt – ein sicheres Zeichen, dass der Vater heute bereit war, sich mit der Welt zu konfrontieren, und entsprechend wachsam blickten seine Augen umher. Dabei blieben seine Lippen fest aufeinandergepresst, seine Züge verkniffen, und Rob ahnte nichts Gutes.

Fred Alsfeldt schwankte zwischen wehleidiger Milde, mit der er an manchen Tagen versuchte, sich Rob zum Verbündeten zu machen, und äußerster Härte, fast verzweifelter Wut, den Jungen aufziehen zu müssen, obwohl er gar nicht sein Sohn war, sondern das Kind seiner Frau, die er über alles geliebt hatte und die vor zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Er mochte ihren Jungen von Anfang an nicht, war manchmal sogar eifersüchtig auf ihn gewesen, weil er die Liebe seiner Frau teilen musste. Wie gerne hätte er ein eigenes Kind mit ihr gehabt. Doch dann kam der Tag, der alles veränderte. Marta wollte rasch nach Otterndorf fahren, um Medizin zu holen, weil Rob sich die Seele aus dem Leib hustete. Da er Fieber hatte, ließ sie den Jungen zu Hause. Gewiss war sie vor Sorge zu schnell gefahren, unvorsichtig gewesen. Der Unfall. Alles wegen Rob. Nichts machte mehr Sinn für Fred. Und doch hatte er genügend Pflichtgefühl, sodass er Rob nicht seinem Schicksal oder einem Heim überließ. Aber wenn dieser sich dann wieder so dumm anstellte oder nur ein falsches Wort sagte, dann hätte er am liebsten draufgeschlagen, und manchmal tat er das auch. Hatte Fred getrunken, ging es nicht ohne blaue Flecken für den Jungen ab, zog er ein paar Joints durch, gab es Schlupflöcher aus der Realität für sie beide. Aber da waren auch die seltenen Augenblicke, in denen ihn Robs Blick oder eine seiner Bewegungen an Marta erinnerte; dann war er zärtlich und gut zu ihm.

Äußerlich hatte Fred Halt gefunden in der Gemeinschaft „Sunrise“. Die Sekte gab sich weltoffen, proklamierte das einfache Leben und eine Rückbesinnung auf ein heidnisches Weltbild. Magische Orte wurden hier als Kraftplätze verehrt, und man unterstützte Fred darin, selbst ein Buch über bestimmte Kraftlinien zu schreiben. Zudem war ihm die Aufgabe zugeteilt worden, gleichaltrige Kinder aus der Gegend zu seinem Sohn einzuladen und sie ein wenig mit dem Gedankengut von Sunrise bekannt zu machen. Dies bereitete ihm sogar Spaß. Er las ihnen gerne Geschichten vor, oder sie durchforsteten gemeinsam die Natur. Diese Zeiten waren für Rob ein Geschenk, bedeuteten sie doch eine Art Waffenstillstand, weil Fred, den er auch wirklich für seinen Vater hielt, sich hier von seiner besten Seite zeigte.

Und bei ihren Streifzügen durch die Natur entdeckten sie, dass es zumindest eines gab, was Vater und Sohn verband – ihre Liebe zu den Kranichen. Gelten Kraniche in der Mythologie als glücksverheißend, so bescherten sie auch den beiden immerhin ein paar glückliche Momente und … Arbeit. Der Vater stellte mit einigem Geschick Uhrengehäuse her mit einem tanzenden Kranich auf dem Klappdeckel. Sie verkauften sich gut bei den Touristen in Otterndorf, in Cuxhaven bis hinauf nach Hamburg und versorgten sie mehr schlecht als recht.

Sie lebten auf einem kleinen Hof, einsam gelegen ein Stück hinter Lüdingworth. Ein Vogel-Rastplatz befand sich ganz in der Nähe ihres Hauses. Und irgendwann entdeckten sie auch eine Brutstätte, nahe am Moor.

„Komm, wir gehen die Kraniche beobachten“, sagte der Vater zu Rob. Das klang wider Erwarten nach einem ruhigen Nachmittag, und Rob entspannte sich.

Sie kamen gerade zur rechten Zeit und versteckten sich hinter einem Sandhügel. Eine Gruppe von Kranichen hatte sich auf der Lichtung niedergelassen und stakste auf der Suche nach Nahrung durch das Gras. Immer wieder war Rob hingerissen von der Schönheit der Vögel. Der wohlgeformte Kopf mit roter Haube, der fein gebogene Hals, das weiße, schwarz auslaufende Gefieder, die schmalen langen Beine.

Rob und sein Vater beobachteten einen Kranich, der einem anderen ständig folgte, ihn werbend umtänzelte, mit gespreizten Flügeln vor und wieder zurück hüpfte. Graziös neigte er den Kopf nach unten, als wolle er sich verbeugen, reckte ihn dann wieder selbstbewusst in die Höhe. Sein Gegenüber flüchtete spielerisch, lief mit weiten Schritten davon, der andere hinterher, beide hüpften aufeinander zu, und kurz berührte sich der Flaum ihrer Hälse. Dann umkreisten sie einander wieder, schwangen sich flügelflatternd in die Höhe und stießen mit weit geöffneten Schnäbeln ihre Schreie aus, reckten dabei den Kopf nach hinten, wölbten die Brust nach vorne, beinahe elegant, überaus zärtlich, fast majestätisch.

Rob schob sich durch das hohe Gras nach vorne und schlich dann langsam auf die Vögel zu. So nah war er ihnen noch nie gekommen. Grob griff da eine Hand nach ihm, die Hand seines Vaters. Vorbei war die gute Stimmung, das Gefühl von Gemeinsamkeit.

„Bist du verrückt!“, herrschte der ihn an, „immer willst du etwas Besonderes sein. Lass sie gefälligst in Ruhe!“ Und schallend klatschte eine Ohrfeige auf seine Wange.

Aufgeschreckt stoben die Kraniche auseinander und flogen davon. Der Vater drehte sich um und stapfte zum Haus zurück. Rob blieb im Gras liegen und unterdrückte die Tränen. In solchen Augenblicken hasste er seinen Vater abgrundtief.

Schließlich stand er auf, schüttelte Sand und Blätter von der Kleidung, aber ein Blatt hatte sich an seiner Weste wie festgesaugt. Er riss daran herum und als er es beim dritten Anlauf endlich erwischt hatte und das Blatt auf den Boden segelte, überkam ihn ein solcher Wutanfall, dass er wild und völlig außer Kontrolle auf dem Blatt herumtrampelte und es tief in den Boden hineintrat.

Da flog ein Kranich erneut den Rastplatz an und landete sanft auf der Rasenfläche. Erschrocken hielt Rob inne, erwachte wie aus einem bösen Traum, hatte nur noch Augen für den Vogel. Robs Gesichtszüge entspannten sich, und er konnte gar nicht begreifen, wozu er sich gerade hatte hinreißen lassen. Staunend beobachtete er den Kranich, der plötzlich den Kopf hob und zu ihm herübersah.

„Er sieht mich an“, erschrak Rob und lächelte ihm zu.

Er hatte das Gefühl, als herrsche ein stummes Einverständnis zwischen dem Vogel und ihm. Da erhob sich der Kranich und flog davon. Und Rob ging vorsichtig zu dem Rastplatz hinüber, stellte sich genau in die Mitte, winkelte ein Bein an, wie es der Kranich eben getan hatte. Zunächst schwankte er und musste sein Gleichgewicht suchen, aber er gab nicht auf und probierte es immer wieder. Und schließlich stand er fest und gerade auf einem Bein, senkte den Kopf und stieß ihn wieder empor, schritt dann in würdevollen Schritten umher und vollführte nach etlichen Versuchen in geschmeidigen, fließenden Bewegungen den Tanz des Kranichs.

Das war einen Tag vor Robs zwölftem Geburtstag.


Kranichhaus, Otterndorf

23.55 Uhr

Ein dunkler Schatten kreiste über Otterndorf, schwärzer als der Himmel vor Mitternacht. Lautloser Flügelschlag. Der Vogel flog suchend über den Rathausplatz, spähte nach allen Seiten aus. Zwei rote Augen leuchteten bedrohlich aus dichtem Gefieder.

Da öffnete sich die Tür der Kneipe „Zum Goldenen Anker“, und ein Mann trat leicht schwankend auf die Straße. Der Vogel reckte den Kopf in die Höhe und lauschte in die Nacht. Glitt langsam auf den Mann zu. Dieser fühlte sich sicher, geborgen in vertrauter Umgebung, doch alarmiert von einer bösen Vorahnung hob sich sein Blick.

Seine Augen weiteten sich vor Schreck, ein schwarz gefiedertes Etwas stieß auf ihn zu. Er nahm nur Federn und Krallen wahr und dieses stechend-blitzende Augenpaar. Er wollte weglaufen, aber seine Glieder versagten, gelähmt vor Entsetzen. Der Vogel stürzte sich auf ihn herab. Und ein Schrei gellte durch die mondverhangene Nacht.

 

Als die Uhr der St. Severi-Kirche zu schlagen begann, hob der grausame Vogel seinen Kopf, achtete nicht auf das Blut, das aus seinem Schnabel rann. Sein Blick saugte sich fest am barocken Kranichhaus schräg gegenüber dem Rathausplatz.

Der Kranich auf dem Dachgiebel des mächtigen Backsteingebäudes beobachtete ihn, und die Sage wurde lebendig, der Bronzekranich warf die Kugel, die er mit seiner Kralle umklammert hielt, ein paar Stockwerke nach unten zu dem kleinen Kranich über der Tür. Gespenstisch hämmerten die Schläge der Kirchturmuhr von St. Severi zu ihm herüber. Während der junge Vogel die Kugel auffing, reckte sich der andere oben auf dem Giebel, spreizte seine Flügel, und man hatte den Eindruck, als wolle er sich auf den mörderischen Vogel unten auf der Straße stürzen, doch da schlug es die zwölfte Stunde, und gefangen in der Überlieferung, die ihn zur Wachsamkeit, nicht aber zum Eingreifen verdammte, fing er die Kugel wieder auf. Mit erhobener Kralle, die das ihm eigene Gut fest umschloss, versteinerten seine Bewegungen. Und der Kranich stand wieder aufrecht und stolz auf dem Giebel des Daches und blickte grimmig zu dem blutüberströmten Bündel auf dem Boden und dem Vogel, der triumphierend auf der Leiche seines Opfers saß.

*

Kommissar Hartmut Frank kehrte ins Haus zurück. Warum konnte er sich auch das Rauchen nicht abgewöhnen? Zum Glück gab es immer noch hin und wieder einen Zigarettenautomaten. Es war schon ziemlich spät, aber die Fete bei seiner Kollegin Libuše Kipulla war noch in vollem Gange.

„Hey, Hartmut, du warst ja lange weg!“ Jochen Dressler kam auf ihn zu und brachte ihm gleich ein neues Glas Wein mit.

Hartmut Frank nahm es, obwohl er nicht sicher war, ob er überhaupt noch etwas trinken sollte.

„Wo bist du denn herumgelaufen? Bitte zieh deine Schuhe aus, du machst ja alles dreckig!“, regte sich Libuše auf, aber sie lachte schon wieder und prostete ihm zu, denn sie hatte eine kleine Schwäche für ihren Chef.

Mit einer Hand zog er die Schuhe aus, mit der andern hielt er das Weinglas fest, nahm einen kräftigen Schluck und spürte plötzlich so etwas wie Euphorie: „Wisst ihr, worauf es ankommt im Leben – packt man es oder packt man es nicht?“

„Hört, hört“, rief sein auch schon angeheiterter Kollege Helmut Amelung und biss in ein Lachsbrötchen. Jetzt hatte Hartmut die Aufmerksamkeit aller.

„Jeden Tag gehen wir zur Arbeit, klar, es ist nicht unwichtig, was wir tun, da haben wir noch Glück. Dann guckt man, dass man alles hat, was man so braucht, ein Auto, ’ne Wohnung und dies und das. Manche haben auch einen Partner gefunden. Aber im Grunde geht es darum: Werden wir am Ende ausgespien oder eben nicht!“

Seine Kollegen und ein paar andere Partygäste schauten ihn überrascht und etwas ratlos an.

„Wow“, anerkennend klopfte ihm einer von Libušes Freunden auf die Schulter, „ich wusste gar nicht, dass Sie bibelfest sind!“

Auf Amelungs fragenden Blick erläuterte er: „,Weil du lau bist, weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde‘, steht irgendwo in der Johannes-Offenbarung.“

„Und das beschäftigt dich?“, wollte Libuše wissen und wusste gar nicht, ob sie das nun seltsam oder interessant finden sollte, eigentlich eher Letzteres.

Hartmut war verstummt und sah alle der Reihe nach an, und fast hatte man den Eindruck, als wolle er sich wieder in sich selbst zurückziehen. Aber nein, er hatte sich entschieden, ein anderer zu werden. Und warum sollte ihm das nicht gelingen: „Kinder, ich hab einfach keine Lust mehr auf dieses Herumlavieren, und ich will auch nicht mehr der nette Typ sein, der es allen recht macht!“

„Das kann ich dir nachfühlen, Hartmut“, seine Sekretärin Heidi Lührens nahm ihm das Glas aus der Hand, „ich bin völlig deiner Meinung. Aber ich glaube, für heute hast du genug getrunken.“

*

Jeder Mensch sucht etwas im Leben. Und wie berauschend ist es, wenn er es dann erhält! Nur zu spät darf sie nicht kommen – die Erfüllung. Und wehe dem, der am Ende erkennt, dass sie ein Irrtum war, und er sich eigentlich nach etwas ganz anderem gesehnt hatte …

Hartmut Frank hatte die Liebe gesucht und die Lyrik gefunden. Es gibt wahrlich Schlimmeres, dachte er und machte es sich im Nebenzimmer auf der durchgesessenen Couch mit fast verblichenem Bezug gemütlich. Abseits vom Partytrubel, mit dem Blick auf einen geschwungenen antiken Bücherschrank, überfüllt mit Büchern, die auch noch quer über die anderen geschoben waren. Hier konnte er zu sich kommen. Immer wenn er etwas getrunken hatte, was ja immer seltener vorkam, musste er an Rita Sieversen denken, die Urlauberin, die hier einen Toten gefunden und in die er sich schließlich verliebt hatte. Wie oft hatte er sich ihren herrlichen Augenaufschlag vorgestellt und wie sie ihr Haar nach hinten schnickte. Auch jetzt zauberte dieses Bild sofort wieder ein Lächeln auf sein Gesicht. Er war ihr nachgereist, nachdem der Fall aufgeklärt war, und obwohl er wusste, dass sie frisch verliebt war, wollte er es nicht wahrhaben. Wollte nicht wahrhaben, dass sie ihm eine junge Frau vorgezogen hatte, eine Frau … Aber mit so etwas musste man ja heutzutage rechnen, und er hatte auch gar nichts dagegen, nur wenn man selbst so sehr verliebt war, dass man zum ersten Mal am eigenen Leib spürte, was es heißt, für jemanden einen Stern vom Himmel holen zu wollen … Doch sämtliche Sterne blieben ungepflückt.

Er stand auf und ließ seinen Blick über die Titel der Buchrücken gleiten. Libuše hatte höchst Unterschiedliches zusammengetragen, Werke ihrer tschechischen Heimat lehnten an ausgesuchten Büchern der großen Literatur, daneben gab es deftige Krimikost und tagesaktuelle Romane. Ein paar schmale Bändchen mit Gedichten waren auch dabei. Hartmut zog eins heraus und schlug es auf, da fiel ein getrocknetes Blatt heraus und zerbröselte in seiner Hand. Wie ein kleiner unglücklicher Junge sah er aus, der gerade eine kostbare Weihnachtskugel zerbrochen hatte …

„Na, da haben Sie ja was angestellt“, vernahm er eine weibliche Stimme aus der schattigen Ecke des Zimmers. Es klang freundlich.

Kommissar Frank schreckte auf. Da kam sie auch schon auf ihn zu, die unbekannte Beobachterin, bewegte sich geschmeidig wie eine Katze, durchaus bereit, wenn nötig die Krallen auszufahren. Halblange blonde Haare umrahmten ein kluges Gesicht, das immer zum Scherzen bereit schien. Verschwörerisch funkelten ihn ihre grünen Augen an: „Keine Angst, ich verrate nichts.“

Er hatte sich wieder in der Gewalt, brachte sogar ein Lächeln zustande: „Danke, aber natürlich sage ich es Libuše.“

„Ah, Sie sind so ein ganz Ehrlicher?“

Selbstverständlich war er das, aber hatte er sich nicht gerade entschlossen, sich zu ändern? Da er zu lange zögerte, schien sie umzudenken: „… oder vielleicht doch nicht?“ Es klang zwar überrascht, doch auch interessiert.

Ihm war die Veränderung in ihrer Stimme aufgefallen. Es ist doch immer dasselbe, die Frauen wollen keine netten, ehrlichen Männer – nur das Abgründige zählt. Er wollte sich schon resigniert abwenden. Aber nein, er hatte sich doch etwas vorgenommen: „Vielleicht ja …“, er wandte sich ihr ganz zu, „vielleicht nein … finden Sie es doch heraus!“ Jetzt waren wohl sämtliche Pferde mit ihm durchgegangen.

Sie zog die Augenbraue hoch, nickte ihm anerkennend zu und schenkte ihm ein süffisantes Lächeln: „Okaaay, ich nehme die Herausforderung an!“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu und gab ihm die Hand: „Ich bin Elisabeth Lehmann, nennen Sie mich einfach Liz.“

„Hartmut Frank“, fast hätte er gesagt, nennen Sie mich Hardy, doch er schluckte es hinunter.

Es entstand eine Pause, und bevor sie sich weiter ausdehnte, nahm ihm Liz das Buch aus der Hand, das Hartmut immer noch aufgeschlagen festhielt, und las vor: „… und in den Nächten fällt die schwere Erde, aus allen Sternen in die Einsamkeit … wir alle fallen, diese Hand da fällt … und sieh dir andere an: es ist in allen.“

„So mag er fallen“, entgegnete Hartmut, nahm das Buch zurück und klappte es zu. Interesse blitzte auf in ihren Augen. Ein Mann, der Rilke mit Shakespeare parierte, der war ihr bisher noch nicht vorgekommen.

Aufgeregt stürzte Amelung zu ihnen ins Zimmer: „Hartmut, schnell ... wir haben gerade einen Anruf bekommen. Ein Mord ganz hier in der Nähe!“

*

Alle rannten nach draußen.

„Wer kennt sich hier aus?“, fragte Hartmut in die Runde.

„Ich natürlich“, entgegnete Libuše, „Marktstraße/Ecke Rathausplatz. Das ist nur ein paar Straßen weiter.“ Mit eiligen Schritten ging sie voraus, und die anderen folgten ihr.

„Stopp!“, rief Jochen Dressler, der noch am nüchternsten zu sein schien.

„Bitte geht wieder zur Wohnung zurück. Das gibt sonst ein Riesen-Chaos. Kommt um Himmels willen dem Tatort nicht zu nah! Keine Fotos! Und die Handys aus!“ Mit diesen Worten sprintete er vor und schirmte mit beiden Händen seine Freunde und den Rest der Partygesellschaft von der Marktstraße ab, in die sie gerade einbiegen wollten.

Sofort waren Kommissar Frank und seine Kollegen Helmut Amelung und Libuše Kipulla an seiner Seite.

„Keinen Schritt weiter“, rief Hartmut, „entweder ihr bleibt, wo ihr seid, oder ihr geht zurück.“

Unter Murren zogen sich einige tatsächlich zurück, aber die meisten blieben an der Ecke stehen. Genau wie die Schaulustigen, die sich trotz der späten Stunde mittlerweile eingefunden hatten. Auf der anderen Seite hatten die Polizisten der Streife bereits die Straße abgesperrt und ließen jetzt den Wagen der Spurensicherung durch.

Es war ein grässlicher Anblick. Inmitten einer Blutlache lag zusammengekrümmt ein Mann, übersät mit Wunden. Hemd und Jacke zerfetzt und blutgetränkt. Wie ein Wilder musste der Mörder auf ihn eingestochen haben, denn kein Körperteil war unverletzt.

Amelung sah seinen Chef an: „Da hat aber jemand gewütet!“

Hartmut nickte nur, hatte Mühe, sich nicht zu übergeben, da ihm auch der Alkohol zusetzte.

Claus Ritter von der Spurensicherung schaltete sich in ihr Gespräch ein: „Ich will ja den Kollegen von der Rechtsmedizin nicht vorgreifen. Aber wenn Sie mich fragen, sind das keine Messerstiche, es kommt mir eher vor, als sei ein Raubtier über ihn hergefallen.“

Er zeigte auf den Unterarm, der übersät war mit Kratz-, und beinahe war man versucht zu sagen, auch mit Bisswunden. Er schüttelte nachdenklich den Kopf: „Aber irgendetwas stimmt hier nicht …“

Libuše kam zu ihnen herüber, warf einen Blick auf die Leiche: „Sieht ja aus wie bei Hitchcocks ,Vögel‘!“

Alle starrten sie an.

„Hab ich was Komisches gesagt?“

„Ein Raubvogel“, sagten Ritter und Kommissar Frank wie aus einem Munde.

„Also ich plädiere eindeutig dafür“, bekräftigte Ritter das eben Gesagte und zeigte auf die Umgebung des Toten, „denn hier fehlt etwas Entscheidendes – die Fußspuren. Rund um die Leiche ist alles blutig, da müssten Spuren zu sehen sein. Da ist nichts. Nada.“

Das konnte ja heiter werden, Hartmut Frank sah schon wieder einen komplizierten Fall auf sich zukommen. Da wandte man sich doch am besten erst mal den Routineaufgaben zu, zumindest dabei bewegte man sich auf sicherem Boden.

Sie begannen mit den Befragungen. Libuše sprach mit den umstehenden Passanten, Amelung vernahm die Nachbarn, die immer noch am Fenster standen. Die anderen würde man am nächsten Tag vernehmen. Hartmut Frank und Jochen Dressler nahmen sich die Kneipe vor, die sich eine Straße weiter befand und deren Wirt die Polizei verständigt hatte. Kaum öffneten sie die Tür des gediegenen Lokals, als sie auch schon die raue eindringliche Stimme Bonnie Tylers in die 80er-Jahre zurückversetzte: „Total Eclipse of the Heart“, der Song passte ja wirklich zu dieser Nacht …

Der Wirt kam den beiden Beamten entgegen. Hartmut stellte sich und seinen Kollegen vor, und alle schüttelten sich die Hand.

„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“, fragte er, korrigierte sich auf ihr Kopfschütteln hin, und nachdem er sie etwas genauer in Augenschein genommen hatte: „Vielleicht ein Wasser oder besser einen Kaffee?“

Dressler grinste schief, weil er sofort registrierte, worauf der Wirt anspielte. Kommissar Frank ignorierte die Frage völlig.

„Sie haben den Toten gefunden und die Polizei alarmiert?“, fragte er.

Der Wirt zog die Stirn in Falten, nickte traurig und sah auf einmal um Jahre älter aus. „Kurz nachdem Holger gegangen war, bin ich erst noch im Keller gewesen und hab eine Flasche grauen Burgunder geholt. Da hörte ich den Schrei …“

Er war vor Entsetzen verstummt, nahm sich aber zusammen: „Vorne am Marktplatz haben wir ihn gefunden. Da lag Holger, blutverschmiert, auch auf dem Trottoir war alles voller Blut. Er sah fürchterlich aus. Ich bin natürlich gleich zu ihm hin, hab seinen Namen gerufen … den Puls gefühlt hab ich nicht mehr“, sagte er beinahe schuldbewusst, „man sah ja, dass er tot war. Ansonsten hab ich auch nichts angefasst.“ Mit dieser Aussage nahm er die nächste Frage vorweg.

 

„Wie spät war das etwa?“, wollte Dressler wissen.

„Kurz vor zwölf ist es gewesen, als er ging. Er faselte immer wieder, er wolle eigentlich noch heute ins Bett, aber gleich sei es schon wieder morgen“, er musste lächeln, „er hatte schon einiges intus.“

„Ist dieser Holger ein häufiger Gast von Ihnen? Kennen Sie ihn näher?“, hakte Hartmut nach.

„Aber klar. Holger Kling, er hat … hatte mein Alter, 54, wir haben zusammen die Schulbank gedrückt und kennen uns ganz gut, waren zwar nicht befreundet, aber in letzter Zeit war er häufig im ‚Goldenen Anker‘!“

„War Herr Kling immer alleine hier, oder kam er auch mal mit Freunden oder einer Freundin?“

„Er war immer allein“, kam es wie aus der Pistole geschossen, „ich glaube, er war recht einsam nach seiner Scheidung, das dürfte so zwei Jahre her sein, seitdem kam er eigentlich ziemlich regelmäßig, meistens mittwochs und samstags.“

„Hatte das einen bestimmten Grund?“

„Nein, er wollte einfach in Ruhe sein Bier trinken, so zwei bis drei am Abend. Und manchmal haben wir eben ein bisschen gequatscht. Über dies und das, selten was Persönliches.“

„Hatte Herr Kling denn Kinder? Und machte er in letzter Zeit einen anderen Eindruck als sonst, besonders heute Abend?“

„Also von Kindern weiß ich nichts, das Thema Ehefrau war tabu, insofern kam auch kein Nachwuchs zur Sprache. Ansonsten kaum Stimmungsschwankungen, meistens war er ganz umgänglich, manchmal ein bisschen melancholisch.“

„Was hat er denn gearbeitet?“, meldete sich Dressler wieder zu Wort.

„Früher war er Beamter, aber dann erbte er viel Land bei Kehdingbruch, und das ließ er sich … na ja … das ließ er sich vergolden.“

„Wie darf ich das verstehen?“

„Ich hab keine Ahnung, was einem Grundeigentümer so eine Windkraftanlage bringt mit einem oder wer weiß wie vielen Windrädern. Man munkelte, bis zu 100.000 Euro pro Anlage und Jahr. Wenn man Verhandlungsgeschick hat und die Stromertragsbeteiligung über die 10 Prozent nach oben treibt, dann ist man bald ein gemachter Mann.“

„Und“, wollte Jochen Dressler wissen, „war er ein gemachter Mann?“

„Allerdings! Obwohl da unten ja schon eine große Windkraftanlage existiert, ließ er auf seinem Acker- und Weideland noch mal neun Windräder errichten.“

Dressler überschlug die Summe der Einnahmen und nickte anerkennend: „Nicht schlecht, aber dann steht ja dort ein Windrad am anderen?“

Der Kneipenwirt zuckte mit den Achseln: „Ich glaube, das war ihm egal. Aber irgendwie hat es ihm kein Glück gebracht. Denn in dieser Zeit ging seine Ehe in die Brüche.“

„Steht das vielleicht im Zusammenhang miteinander?“, schaltete sich Kommissar Frank ein.

„Da bin ich überfragt“, musste der Wirt zugeben.

„Okay, darüber reden wir dann mit seiner Ex-Frau. Und hier im Lokal – hat er sich da vielleicht mit jemandem angefreundet oder öfter mal unterhalten?“

„Das lässt sich doch gar nicht vermeiden. Wenn man den ganzen Abend an der Bar sitzt, mit Pieter hat er mal geredet und mit Claussen glaub ich auch, die waren aber beide heute nicht hier.“

Hartmut und Dressler befragten die vier Gäste, die noch im Lokal waren, aber das brachte rein gar nichts. Dressler wurde von einem Kollegen nach draußen geholt, und auch Kommissar Frank verließ die Gastwirtschaft. Er blieb für einen Augenblick alleine in der Marktstraße stehen, trat dann einige Schritte vom Tatort zurück und ließ alles noch einmal auf sich wirken.

Er stellte sich die Straße vor, wie sie wohl üblicherweise gegen Mitternacht aussah, und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen darauf. Dann öffnete er die Augen abrupt, um alle Veränderungen in sich aufzunehmen. Wie bei diesen Bilderrätseln in Zeitschriften ‚Original und Fälschung‘, wo es nur winzige Details gab, die im zweiten Bild anders waren, musterte er minutiös jeden Straßenabschnitt.

Natürlich war da jetzt mittlerweile mit Kreide die Stelle markiert, wo der Tote gelegen hatte. Das Lokal „Goldener Anker“ war nach wie vor erleuchtet, an den umliegenden Häusern fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf. Er sah hinüber zur Absperrung, forschte im Gesicht eines jeden Schaulustigen, die sich immer noch nicht hatten vertreiben lassen, nach einer Gefühlsregung, die sich von purer Sensationsgier unterschied, verfolgte den Einsatz seiner Kollegen von der Spurensicherung. Da fiel ihm ein kantig zusammengeknülltes Stück Papier auf dem Trottoir ins Auge. Wenn er den Tatort quasi wie ein Gemälde betrachtete, so kam ihm das Papierknäuel wie die Signatur des Malers am rechten unteren Bildrand vor. Während er hinüberging, streifte er sich seine Handschuhe über und wollte das Fundstück in eine Plastiktüte stecken. Da meinte er das Geräusch von Vogelschwingen in der Luft zu hören. Das konnte doch gar nicht sein, es musste sich um eine Sinnestäuschung handeln. Er hob den Blick und schaute hinüber zum Kranichhaus genau ins Auge des Wächters auf dem Dach, das ihn abschätzig, fast drohend musterte. Du hast alles gesehen, dachte Hartmut, da wurde ihm schwindlig, und er musste sich übergeben.

*

Der Schatten des Flügels zog Kreise über der Lichtung des kleinen Waldstücks, in dem Rob Zuflucht suchte. Überdimensional bewegte er sich am Firmament, und selbst wenn Rob seine Augen schloss, nahm er in gleichmäßigen Abständen dunkle Balken wahr. Sssst … ssst … ssst … ssst … ssst … dieses Geräusch drang tief in sein Bewusstsein und trat nur für kurze Zeit in den Hintergrund, wenn er völlig in seine Gedanken versunken war. Er lag im Gras und sah nach oben, und kein Vogel schwirrte da über ihn hin. Sondern die riesigen Arme des Windrads. Ssst … ssst … ssst … ssst … ssst … ssst ... hell – dunkel – hell – dunkel – Sonne – Rauschen – Surren.

Doch wie oft trugen ihn seine Gedanken mit sich fort, drehten sich in den Himmel hinein und breiteten sich dort aus, wurden zu einem Körper, zu echten Flügeln, zu staksigen Beinen, einem Schnabel und erhoben sich als Kraniche in die Luft … und folgten dort den Linien, den heiligen Linien, die über das ganze Land verteilt waren, es in gute und gefährliche Bezirke aufteilten. Die Linien, über die sein Vater ein Buch geschrieben hatte, das Rob wie seinen Augapfel hütete und aus dem er ihm und den anderen Kindern an guten Tagen vorgelesen hatte. Bruchstücke davon würde er stets in seinem Innern bewahren, wo er auch sein würde, was immer auch geschah … und es würde etwas geschehen, er spürte es in seinem Blut, in seinem Herzen, und er hatte Angst vor dieser Ahnung, Angst vor dem Kommenden, Angst vor sich selbst.

Ssst … ssst … ssst … von oben, ein Surren und Trompeten von vorn, da kamen sie … Flügel an Flügel … krarr … krruh … krarr … krruh … wie in Wellen wurden die Rufe zu ihm herübergetragen … ein Schwarm von Kranichen am Horizont … ein wundervoller Anblick … Rob blinzelte in die Sonne, beschattete seine Augen mit der einen Hand – es war ein gewaltiges Schauspiel … um Robs Mundwinkel trat ein milder, weicher Ausdruck. Vergessen waren alle Befürchtungen, denn wenn Kraniche in seiner Nähe waren, so fühlte er sich leicht und beschwingt und in Sicherheit. Er lag im Gras und lächelte.

Da hörte er ein dumpfes Geräusch und gleich darauf ein schrilles Krächzen. Er sah nach oben, musste mit der Hand die Sonne abschirmen, bevor er etwas erkennen konnte. War da nicht ein Vogel in der Luft, ganz oben in der Nähe des Windrades? Oder hatte er sich getäuscht? Da, was war das – er sah etwas Dunkles vom Himmel fallen. Vielleicht einer der Kraniche, die eben vorbeigezogen waren?

Rob sprang auf. Nie kam er der Windkraftanlage näher als bis zu dieser Waldlichtung. Nun überwand er seinen Widerwillen und stapfte durch das hohe Gras, zwängte sich durch einige Büsche hindurch, bis er vor dem mächtigen, tonnenschweren Stahlkörper des Windrades stand. Der untere Teil war in mattgrüner Tarnfarbe angelegt, die dann immer blasser wurde und schließlich ins Weiße überging. Auf einem Beton-Fundament verankert, mit einer kleinen Eisentreppe zur Eingangstür hinauf, umringt von einem Meer von Brennnesseln. Er schaute vom Fuße des Windrades zu den Rotorblättern hinauf: Wie ein ewig langer, immer spitzer werdender Schornstein bohrte sich der Turm in die Wolken. Rob stieg die paar Stufen der Treppe hinauf und blickte sich um. Überall Brennnesseln, dann Sträucher und Bäume, aber kein Tier, das Hilfe brauchte. Doch da bewegte sich etwas dicht neben einem Busch! Vorsichtig näherte sich Rob der Stelle. Da lag tatsächlich ein Kranich auf dem Boden!