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Die Blondine vor ihm klaubte umständlich ihr letztes Kleingeld zusammen für den Salat, der schon zu welken begann. Wozu sich ärgern? Sein Schaschlik war bereits auf dem halben Weg zur Kasse kalt geworden. Selbst das Glas mit dem Tschai fühlte sich nur noch handwarm an. Eine warme Mahlzeit innerhalb von 24 Stunden, das war eigentlich das Ziel, vor allem eine Mahlzeit, zu der man die Zähne benötigte. Ihn schauderte beim Gedanken an die faden Suppen, von denen sich seine kranke Mutter zu Hause ernährte. Sie lebte nur noch von Suppe und Papirossi, den unsäglichen russischen Zigaretten mit dem Kartonröhrchen anstelle eines anständigen Filters. Für Mamotschka spielte das leider keine Rolle mehr. Ihre Lunge musste längst schwarz sein wie eine Kohlengrube, und jetzt war auch noch Krebs im Endstadium diagnostiziert worden. Sie hustete und rauchte und fluchte nur noch in den dreißig Quadratmetern im Plattenbau, schlürfte hin und wieder etwas Suppe, die auch nach Papirossi stank, und trank Wodka, wenn sie Durst bekam. In Situationen wie dieser erinnerte er sich gerne an die trostlosen Zustände zu Hause. Das wirkte wie eine rosa Brille, durch die selbst eine hoffnungslos überfüllte Stolowaja mit kaltem Schaschlik ihren Charme versprühte.

Das Fleisch am Spieß beschäftigte seine Zähne länger als geplant. Er musste sich beeilen, um die Apotheke noch vor Ladenschluss zu erreichen. Die starken Schmerzmittel bekam er nur dort, auf Rezept und dank dem sanften Druck seines Ersatzvaters Sergei Churkin. Die Familie Churkin, für die seine Mutter jahrelang geputzt hatte, bis es nicht mehr ging, hatte ihn wie einen Sohn aufgenommen, nicht zuletzt als Kameraden für den eigenen Sohn Andrei, mit dem niemand sonst spielen wollte. Vater Churkin war ein einflussreicher und daher gefürchteter Apparatschik mit Verbindungen in höchste Regierungskreise. Das machte ihn in den Augen vieler Leute äußerst verdächtig. Man mied die Familie. Dennoch florierte sein Handelsgeschäft mit Büros an bester Lage am Petrogradskaya Damm. Jedenfalls schwamm Churkin im Geld, hatte seine Ausbildung bezahlt, kam jetzt für die Kosten der teuren Medikamente auf und war für ihn der beste Vater, den er je gehabt hatte – auch der einzige.

Die Apothekerin war dabei, das Geschäft abzuschließen, als er auftauchte. Sie gab ihm die drei Schachteln im Beutel mit dem üblichen Seufzer:

»Ihre Mutter gehört in ein Krankenhaus.«

»Ich weiß, aber auf diesem Ohr ist sie taub.«

Seine übliche Antwort. Mamotschka war noch nicht alt, viel zu jung zum Sterben, aber keine zehn Pferde würden sie in ein Krankenhaus bringen oder überhaupt aus den dreißig Quadratmetern im Plattenbau vertreiben. Sie hätte längst komfortabel und umsonst in Churkins Datscha wohnen können, aber sie hörte gar nicht hin, wenn er davon anfing. Sie hauste lieber in ihrem Loch, umgeben von den wenigen Freunden, die ihr geblieben waren.

Die Metro fuhr nicht einmal in die Nähe der Siedlung aus der Sowjetzeit. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit gefühlten hundert anderen bedauernswerten Passagieren in den Bus pferchen zu lassen. In Sekundenschnelle schwamm er im eigenen Schweiß. Möglicherweise war es der Schweiß der anderen, so genau konnte man das nicht unterscheiden. Es war Hochsommer in Sankt Petersburg und in diesen verdammten Dingern herrschte drinnen wie draußen stets dieselbe Temperatur, als hätte noch niemand Klimaanlagen erfunden. Er hatte vergessen oder verdrängt, wie schlimm die Busfahrt zur Siedlung in der heißen Jahreszeit sein konnte, denn seit er volljährig war, fuhr er mit dem alten Lada zur Arbeit, den sein Freund Andrei Churkin gegen die Mercedes S-Klasse eingetauscht hatte. Leider war das Vehikel nun an den Spätfolgen von Andreis Rennen im holprigen Gelände um die Datscha krepiert. Er musste sich dringend um Ersatz kümmern.

Das Hemd klebte am Körper, nasse Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht wie nach einem Bad in der Newa, als er in der Siedlung ankam. Lautlos wie ein Schatten huschte er an der Tür der Nachbarin vorbei. Er hatte die Wohnung schon fast erreicht, als er den gefürchteten Klick hinter seinem Rücken hörte. Nachbarin Milena war wie stets auf der Lauer und stand eine Sekunde später bei ihm.

»Sie hat heute wieder gar nichts gegessen, Wowotschka«, sagte sie vorwurfsvoll, als hätte er die Suppe verweigert.

Milena und seine Mutter waren die einzigen Menschen, die ihn so nennen durften, schließlich kannten sie ihn seit der Geburt.

»So geht es nicht weiter, mein Junge. Sie muss ins Krankenhaus.«

»Du weißt ja, wie sie reagiert. Sie ist stur wie eine Achtzigjährige.«

»Wem sagst du das, aber so wird sie sterben.«

Er war es überdrüssig, darüber zu reden, solang er doch nichts ändern konnte.

»Sterben müssen wir alle«, antwortete er unwirsch und betrat die Wohnung.

»Bist du das, Wowotschka?«, rief die Mutter, begleitet von trockenem Husten.

Ihrer schleppenden Ausdrucksweise entnahm er, dass die gute Marinka Lukova ziemlich durstig gewesen sein musste. Auch dagegen war er machtlos. Das gute Salär ermöglichte ihm wenigstens, dafür zu sorgen, dass sie anständigen Wodka soff. Statt zu antworten, eilte er ans Fenster, um den abgestandenen Rauch hinauszulassen.

»Willst du mich umbringen?«

Sie schaltete den Ton des Fernsehers aus und betrachtete ihn mit wässrigen Augen.

»Komm her, mein Junge, gib deiner Mamotschka ein Küsschen.«

Er tat ihr den Gefallen, löste sich aber sofort wieder aus ihrer Umarmung.

»Ich bin doch kein kleiner Junge mehr«, sagte er ärgerlich.

»Wo warst du denn die ganze Zeit? Und wie du aussiehst! Ganz verschwitzt.«

»Danke für den Hinweis. Ich war arbeiten. Dein Wowotschka hat einen Job, schon vergessen? Manchmal kann man den Computer nicht einfach um fünf abschalten in meinem Beruf. Das würde Sergei gar nicht gefallen.«

»Ach, Papa Churkin«, seufzte sie und führte die Flasche zum Mund, »ein guter Mann. Weißt du, was er für dich getan hat? Das werde ich ihm nie vergessen.«

Natürlich wusste er es. Er war ja selbst dabei gewesen, sozusagen. Die Antwort sparte er sich. Sie wollte die Geschichte sowieso ungefähr jeden Tag einmal erzählen.

»Weißt du«, begann sie, um sogleich eine Pause einzulegen und die nächste Papirossi anzuzünden. »Weißt du, als ich damals deinen Marschbefehl für Tschetschenien gesehen habe, ist mein Herz stehengeblieben. Ich habe sofort Sergei angerufen, und weißt du, was er gesagt hat?«

Er versuchte, am Fenster etwas frische Luft aufzuschnappen und wartete.

»Keine Sekunde hat er gezögert, der gute Papa Churkin, nicht eine Sekunde. Sein Andrei ist nämlich auch eingezogen worden. Er hat mir nur gesagt: Machen Sie sich keine Sorgen, Marinka. Ich kümmere mich darum.« Sie nahm einen tiefen Zug, bevor sie versonnen lächelnd fortfuhr: »Von da an haben wir kein Wort mehr von der Armiya gehört. Stimmt‘s, Wowotschka? Es hat noch Suppe auf dem Herd, brauchst sie nur zu wärmen.«

»Vielen Dank.«

Sie schaltete den Ton wieder ein. Gleichzeitig klingelte sein Handy. Andrei Churkin war am Apparat.

»Wir müssen sofort in den Bunker.«

Er war der Chef, dem man besser nicht widersprach. Dennoch wagte er, wegen des Horrors im Bus einzuwenden:

»Jetzt noch? Muss das sein?«

»Bist du zu Hause?«

»Ja.«

»Ich hole dich ab. Gib mir zwanzig Minuten.«

Der futuristische Bau aus Metall und Glas am Petrogradskaya Damm strahlte nachts noch mehr selbstzufriedene Zuversicht aus als am Tag. Das halbe Viertel darum herum gehörte der Churkin Handelsgesellschaft. Obwohl er nun schon fast fünf Jahre als Programmierer für Papa Churkin arbeitete, hatte er nur eine vage Vorstellung davon, womit der eigentlich sein Geld verdiente. Sicher, der Handel mit hochwertigen Maschinen und Ersatzteilen vor allem aus Westeuropa war ein einträgliches Geschäft, doch wurde er den Verdacht nicht los, die ganz große Kohle stamme von den geheimen Regierungsaufträgen, die sie im Bunker im achten Stock, unmittelbar unter der Chefetage, ausführten. Mit Handel hatte ihre Arbeit nicht viel zu tun. Eher mit Spionage, oder wie es politisch korrekt heißt: IT Security. Sie produzierten Sicherheitssoftware und veranstalteten Hackerangriffe, um die Sicherheit der Systeme des weitverzweigten Churkin Imperiums, von Regierungsstellen und der Armee zu überprüfen. Bei jedem Hit rollten Köpfe und flossen fette Prämien. Er konnte sich nicht beklagen.

Andrei hatte während der ganzen Fahrt geschwiegen, was sonst kaum je der Fall war. Sichtlich nervös sprang er aus dem Wagen, kaum stand er auf dem Parkplatz in der Tiefgarage, der mit goldener Schrift für ihn reserviert war.

»Willst du mir nicht endlich verraten, was Sache ist?«

»Sitzung mit Gott«, antwortete er nur, hielt seine Karte an den Sensor des Lifts und gab die PIN ein.

Eine Sitzung mit Sergei Churkin persönlich. Kein Wunder war sein Sohn nervös. Der alte Churkin verlangte viel und konnte sehr ungehalten werden, wenn man ihn enttäuschte. Das galt auch für Familienmitglieder. Im Lift gab es keinen Hinweis darauf, dass die Etagen acht und neun überhaupt existierten, obwohl der Zugang nur über den Aufzug möglich war. Panzertüren versperrten die Sicherheitstreppen. Türen, die sich nur im Katastrophenfall automatisch öffneten – wurde zumindest behauptet. Die Bezeichnung Bunker für ihr Büro lag also auf der Hand.

»Na endlich!«, begrüßte sie Fisik, die Physikerin, ungehalten. »Ich wollte schon wieder abhauen. Was gibt es denn so Wichtiges?«

»Abwarten«, murmelte Andrei und gab ihr einen Kuss, den sie nur flüchtig erwiderte.

»Vielleicht klärt uns das Visel auf, wenn der Lider schweigt«, brummte Vanya, der ältere der Brüder Melnikov, den alle nur Ekspert nannten, weil er jeden Fehler in jedem Programm entdeckte.

 

Vladimir fand seinen Spitznamen Visel ziemlich daneben. So flink wie ein Wiesel war er gar nicht oder tickten die andern einfach zu langsam? Andrei hingegen liebte seinen Titel Lider, der Leader. Er war der Boss, und das musste auch der Spitzname widerspiegeln.

Normalerweise herrschte eine gelöste Atmosphäre in Bunker, so hart sie auch arbeiteten. Andrei, der am wenigsten von Hard- und Software verstand, sorgte gerne mit einem lockeren Spruch oder anzüglichen Witzen für Gelächter. Nicht an diesem Abend. Er saß an seinem Pult und starrte abwesend mit eingezogenen Schultern auf sein Smartphone, ängstlich beobachtet von Fedor, dem jüngeren der Brüder Melnikov. Fedor, der Architektor, war das genaue Gegenteil seines extravertierten Bruders Vanya. Er war der stille Konstrukteur, hörte gut zu und entwarf die raffinierteste Systemarchitektur aus dem Nichts, während Vanya lauthals jede Schwachstelle kommentierte und die Software gnadenlos in ihre Bestandteile zerlegte, bis kein unerklärter Befehl und keine dubiose Konstante mehr übrig blieben.

Fisik rückte näher zu ihm, so nah, bis sie ihm ins Ohr flüstern konnte:

»Haben wir etwas falsch gemacht?«

Er zuckte die Achseln, rückte etwas ab. Sie rückte nach. Andrei schien es nicht zu kümmern. Drei kurze, durchdringende Summtöne und der Blinker über dem Eingang kündeten Besuch an.

»Sie sind da!«, rief Lider Andrei wie erlöst und sprang auf.

»Sie?«, flüsterte Fisik ihm mit großen Augen ins Ohr.

Sergei Churkin oder Gott, wie ihn sein Sohn nannte, trat ein, gefolgt von einem Unbekannten. Gott grüßte freundlich und stellte dem Unbekannten seine Elitetruppe mit sichtlichem Stolz vor. Der hörte sich alles mit unbeweglicher Miene an. Trotz der Hitze draußen trug er Hut und Mantel, die er auch jetzt nicht ablegte, genauso wie seine undurchsichtige Sonnenbrille. Das verblüffendste Merkmal aber war, dass er offenbar keinen Namen besaß. Churkin stellte ihn nicht vor, und trotzdem schien sich an diesem Abend alles um den Unbekannten zu drehen.

Papa Churkin kam zur Sache und sagte:

»Mein Freund hier hat einen Auftrag für euch.«

Dann wandte er sich an seinen Begleiter:

»Wenn überhaupt jemand dein Problem lösen kann, dann meine Spezialisten.«

Der Unbekannte ignorierte die gewagte Behauptung. Zum ersten Mal öffnete er den Mund:

»Was Sie heute Abend hören und sehen, verlässt diesen Raum nicht, und diese Besprechung hat nie stattgefunden. Haben wir uns verstanden?«

Gott nickte für alle. Seine Spezialisten hüteten sich, etwas zu erwidern. Die Aufforderung des Unbekannten war sowieso überflüssig. Nichts, was im Bunker passierte oder gesprochen wurde, drang je nach draußen. Zu Vladimirs Überraschung zog der Unbekannte ein Mini-Tablet aus der Manteltasche, presste ein paar Buttons und legte es auf den nächsten Schreibtisch.

»Informationen von höchster Brisanz sind in falsche Hände geraten«, bemerkte er dazu. »Hier ist Ihr Auftrag.«

Die Truppe drängte sich um den kleinen Bildschirm wie die Touristen um Raffaels Heilige Familie in der Eremitage. Er musste den Text zweimal lesen, um zu glauben, was er sah. Die Worte blieben ihm im Halse stecken. Sie trauten sich einiges zu. An Selbstvertrauen mangelte es ihnen nicht – aber das konnte nur ein Verrückter geschrieben haben. Die Freunde schwiegen ähnlich betroffen.

»Können Sie das?«, fragte der Unbekannte, als ginge es um eine simple Datenbankabfrage.

Vladimir fragte sich wohl nicht als Einziger, ob der Kerl sie einfach vor Gott in die Pfanne hauen wollte. Das Gesicht des Mannes gab nichts her und Churkin wartete mit zusammengepressten Lippen auf eine Antwort. Fisik brach den Bann. Nüchtern stellte sie fest:

»Das geht nicht ohne Unterstützung vor Ort.«

»Die haben Sie«, antwortete der Unbekannte wie aus der Pistole geschossen.

»Was soll das heißen?«, fuhr Vladimir auf, immer noch nicht überzeugt vom Ernst der Sache.

Der Unbekannte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er antwortete sachlich und emotionslos wie sein Gesicht:

»Sagen Sie uns, was Sie vor Ort brauchen.«

»Heißt das, Sie haben lokalen Zugriff auf die Systeme?«

»Wenn Sie den Zugriff benötigen, bekommen Sie ihn.«

Was der Typ behauptete war schlicht undenkbar. Der Mann wusste nicht, was er sagte. Vladimir warf seinem Boss Andrei einen warnenden Blick zu und murmelte laut genug, damit es auch der Unbekannte hörte:

»Wir brauchen Zeit.«

Wieder kam die Antwort des Unbekannten blitzschnell, als hätte er auf den Einwand gewartet:

»Zeit ist das Einzige, was wir nicht haben. Es gibt ein Fenster von zehn Tagen. Dann ist es zu spät.«

Der Kerl musste total verrückt sein. Wahrscheinlich brauchten sie nur schon zehn Tage, um einen Zugang zum System zu finden, der sich für ihre Zwecke eignete. Die ganze Truppe begann aufgeregt zu diskutieren, bis Andrei Einhalt gebot. Vorsichtshalber wandte er sich an Gott, seinen Vater:

»Wir müssen das seriös analysieren, um endgültig zu entscheiden.«

»Bis wann?«

»Vierundzwanzig Stunden«, behauptete Andrei.

Es klang überzeugend, obwohl er wie alle andern keine Ahnung haben konnte, wie lang sie tatsächlich brauchen würden, um die Machbarkeit zu untersuchen. Der Unbekannte nickte.

»Vierundzwanzig Stunden«, bestätigte er und wandte sich zum Gehen. »Auf dem Tablet finden Sie alle notwendigen Informationen zum Auftrag.«

Gott folgte ihm zur Tür. Bevor sie den Bunker verließen, wandte er sich nochmals an seine Elitetruppe:

»Ich bin sicher, ihr werdet mich nicht enttäuschen – und denkt daran: Was immer ihr braucht, um den Auftrag meines Freundes auszuführen, ihr bekommt es.«

Vanyas Mund klappte zu.

»Was war das denn?«, fragte er ratlos, sonst nie um einen bissigen Kommentar verlegen.

Fisik schüttelte ungläubig den Kopf. »Hat der Allmächtige irgendeine Vorstellung davon, was er gerade gesagt hat? Was immer ihr braucht – wie wär‘s mit einer neuen Serverfarm, damit wir endlich anständig Bitcoins fördern können? Von mir kriegt der eine Wunschliste länger als der Newski-Prospekt.«

»Dein Einsatz in Ehren, meine Liebe, aber so wird es nicht funktionieren«, entgegnete Andrei.

»Aha, und das sagt der Hardwarespezialist.«

Vladimir versuchte, die Wogen zu glätten. Das Gezänk hinderte ihn am Denken.

»Leute, haltet mal die Klappe. Wir haben nicht viel Zeit, also machen wir uns an die Arbeit. Überlegen wir, was wir wirklich brauchen, falls wir den Auftrag annehmen.«

Andrei lachte ihn aus und versicherte:

»Die Option nicht anzunehmen gibt es nicht, Freunde. Falls ihr es nicht kapiert habt: Neinsagen bedeutet Kopf ab für den Alten, und das wollt ihr nicht erleben, glaubt mir.«

Der stille Architektor Fedor unterbrach das betroffene Schweigen, das Andreis Drohung folgte:

»Fisik hat recht. Wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, die starke Verschlüsselung zu knacken, mit der wir rechnen müssen, brauchen wir die Leistung eines Supercomputers.«

»Die sollen uns den Lomonosov zur Verfügung stellen«, schlug Vladimir vor.

Der Supercomputer in Moskau war vor ein paar Jahren immerhin einer der schnellsten in Europa gewesen.

Fisik schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Die 30‘000 Xeons sind ja ganz niedlich, aber ich glaube, es gibt Besseres. Augenblick.«

Sie hüpfte an ihren Arbeitsplatz. Die Finger spielten eine Weile Rachmaninow auf der Tastatur, dann verkündete sie mit breitem Grinsen:

»Ich wusste es. T-Platforms hat das Monster in Testbetrieb genommen. Zehnfache CPU-Leistung gegenüber Lomonosov. Wir müssen nur aufspringen.«

»Das Monster ist eine Legende«, behauptete Vanya mit einer abschätzigen Handbewegung.

Vladimir kannte wie alle in der Szene die Gerüchte über den neuen, wassergekühlten Supercomputer, aber eben nur Gerüchte.

»Bist du sicher?«

»Euch ist nicht zu helfen. Überzeugt euch doch selbst.«

Sie wandte sich beleidigt ab und widmete sich ihrem Smartphone. Auf dem mittleren der drei Bildschirme, die aus dem Chaos der Platinen, Chips, Trafos und Kabel auf ihrem Pult herausragten, konnten sie es lesen. Irgendwie war es ihr gelungen, in den geheimen Bereich des Armeenetzwerks einzudringen, wo die Pläne, Protokolle und aktuellen Berichte über die Inbetriebnahme des Supercomputers der nächsten Generation verwaltet wurden. Die Spezifikationen der Anlage rechtfertigten durchaus den Spitznamen Monster. Wenn irgendeine Maschine moderne Verschlüsselungen in nützlicher Frist knacken konnte, dann wohl dieses Monster. Andrei klopfte seiner Freundin anerkennend auf die Schulter.

»Gut gemacht, Kleines. Wir werden freien Zugang zum Monster fordern. Da kann der Freund des Alten beweisen, wozu er fähig ist.«

Während der Diskussion über den Supercomputer hatte der Systemarchitekt Fedor am Whiteboard begonnen, einen Lösungsansatz zu skizzieren. Obwohl auch er die genauen Voraussetzungen und Randbedingungen für den Auftrag noch nicht kannte, folgte seine Skizze einer zwingenden Logik. Es war nicht das erste Mal, dass sie in ein gut gesichertes System eindringen mussten. Das Vorgehen war grundsätzlich bekannt. Dieser Auftrag aber verlangte viel mehr als das simple Kopieren fremder Daten oder die Lähmung des Systems durch ›denial of service‹ Attacken. Diesmal mussten sie die Kontrolle über das ganze Peripherie-Subsystem übernehmen, das die Daten verwaltete. Nur so war es möglich, den Auftrag des Unbekannten auszuführen. Fedors Skizze zeigte wie immer klar und ohne unnötigen Schnickschnack einen plausiblen Weg auf, wie sie dieses Ziel erreichen könnten. Andrei nickte zufrieden.

»Khorosho! Nehmen wir das als Arbeitshypothese.«

Er benutzte die Skizze, um die Aufgaben zuzuordnen, eine Arbeitsteilung, die sowieso aufgrund ihrer unterschiedlichen Fertigkeiten auf der Hand lag.

»Ganz zentral ist der Trojaner, der lang genug unentdeckt bleiben muss«, fuhr er fort. »Visel?«

Vladimir nickte. »Hab‘s begriffen.«

Trojaner gehörten zu seinen Spezialitäten. Er besaß eine ansehnliche Sammlung solcher Softwarekomponenten für alle möglichen Betriebssysteme. Sein Design erlaubte es ihm, die Schadsoftware mit wenigen Parametern für den jeweiligen Zweck umzuprogrammieren. Er war ein professioneller Hacker, der Software produzierte, um ein Ziel zu erreichen, kein Bastler, der zum Zeitvertreib an Spaghetti-Code herumschraubte.

Andrei kopierte die Information aus dem Tablet auf den Datenserver, damit sie arbeiten konnten. Bis spät nachts sprachen sie kaum mehr ein Wort miteinander, dann verließen zuerst die Brüder Melnikov den Bunker. Andrei folgte. Er versuchte vergeblich, seine Freundin Fisik zu überzeugen, ihn zu begleiten, um über die Angelegenheit zu schlafen. Beischlafen sollte es wohl besser heißen. Gegen Mitternacht stellte Vladimir verblüfft fest, dass er fast allein im Bunker saß. Fisik schien vor ihren Bildschirmen eingenickt zu sein. Den Kopf auf einer Kabelrolle, hing sie in ihrem Sessel und rührte sich nicht. Nur die Brust hob und senkte sich regelmäßig. Er beachtete sie nicht weiter.

Eine Minute vor der Geisterstunde zog er sein zweites Handy aus dem Geheimfach und begann zu tippen. Der auf Englisch abgefasste Text war kurz wie jede SMS an die heimliche Geliebte, die so unerreichbar weit entfernt lebte.

Ganz herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Liebste. Ich denke jeden Tag an unsere Nacht in Sankt Petersburg.

Jene Nacht im Hotel war nicht nur die schönste, sondern vor allem die einzige Erinnerung an sie, die Bezeichnung Geliebte also eine ziemlich unverschämte Übertreibung. Aber sie hatte bisher alle seine Kosenamen ohne Weiteres akzeptiert und stets rasch und warmherzig auf die etwas hölzernen Texte reagiert. Das fachte die Flamme in seinem Herzen jedes Mal aufs Neue an. Kaum war die SMS abgeschickt, stand Fisik sozusagen auf seinen Füßen. Mit einem anzüglichen Lächeln fragte sie:

»Du vögelst doch nicht etwa mit einer heimlichen Geliebten?«

Sie ahnte nicht, wie nah sie an der Wahrheit vorbeischrammte. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Es lag nicht an Fisiks aufgeladener Weiblichkeit. Das Handy war sein Problem. Es musste unter allen Umständen geheim bleiben, denn es war sein einziger privater Draht nach draußen, der nicht von den Kollegen gehackt werden konnte. Das Telefon schien sie nicht weiter zu interessieren. Er steckte es mit einem stillen Seufzer ein und beglückwünschte sich einmal mehr für die weise Voraussicht, zwei identische Handys angeschafft zu haben.

 

»Mir kannst du es ruhig verraten«, flüsterte sie und rückte noch einige Zentimeter näher. »Ich sag‘s bestimmt nicht weiter.«

Was führte sie im Schilde? Die körperliche Nähe brachte ihn unwillkürlich ins Schwitzen. Fisik war der Hardwareguru im Bunker, nichts weiter – bisher.

»Ich denke, du solltest dich ein wenig entspannen«, sagte sie.

Ihr T-Shirt löste sich vor seinen Augen in nichts auf. Die nackten Brüste bekräftigten ihre Bemerkung auf eine Weise, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass seine Gedanken immer noch um die ferne Geliebte kreisten. Jedenfalls fiel die Antwort seines Körpers auf den unerwarteten Striptease zu ihrer vollen Entzückung aus. Die CPU der Großhirnrinde fuhr herunter. Der Autopilot des Stammhirns übernahm die Kontrolle. Das genügte vollkommen für den Rest der Nacht. Im letzten Moment hinderte ihn der Klingelton des offiziellen Handys daran, in ihren Mund zu entladen.

»Verdammt, weißt du, wo Fisik steckt?«, fragte Andrei gereizt.

Ahnungslos, was er antworten sollte, da sein Großhirn ausgeschaltet war, ließ er sich das Telefon aus der Hand nehmen. Fisik unterbrach die Arbeit am steifen Glied und sprach ins Handy:

»Hallo?«

»Verdammt, wo steckst du? Warum ist dein Telefon ausgeschaltet?«

Andrei sprach so laut, dass sein Stammhirn jedes Wort hörte.

»Ich bin beschäftigt. Dringender Auftrag von Gott persönlich, schon vergessen?«

»Du kommst heute nicht mehr?«

»Blöde Frage, und überdies ist es schon morgen.«

Sie unterbrach die Verbindung und schaltete sein Handy vorsichtshalber aus. Ein kurzer Zungeneinsatz brachte seinen Schwanz wieder in Stellung.

»Jetzt aber richtig, mein Lieber!«, rief sie aus und saß auch schon auf seinem Schoß.

Mehr als ein paar wenige rhythmische Stöße hielt sein Stammhirn nicht aus. Das System kollabierte gleichzeitig mit dem Samenerguss. Reboot. Sie war noch nicht soweit, presste die Hinterbacken zusammen, um den lahmenden Schwellkörper im Schoß zu halten, während sie masturbierte wie auf Speed, bis sie mit einem Aufschrei über ihm zusammenklappte.

»Andrei!«, war der erste müde Gedanke, den das wiedererwachte Großhirn an sein Bewusstsein sandte.

Fisik zog sich ohne ein weiteres Wort in die Dusche zurück. Zur Not diente der Bunker auch als Wohnung. Bei ihren Projekten war die erforderliche Präsenzzeit kaum abschätzbar. Es würde nicht auffallen, wenn sie zwei hier übernachteten, falls Andrei nicht schon misstrauisch geworden war. Seine Gedanken drehten sich im Kreis oder besser: kreisten in einer Achterbahn um zwei Frauen. Computerprogramme und Betriebssysteme oder Papirossi im Plattenbau kamen nicht vor. Er fühlte sich plötzlich hundemüde. Nach kurzer Toilette legte er sich unter seinem Pult auf dem harten Betonboden schlafen. Jacke und Tasche dienten als Bettzeug.

Vanyas Stimme weckte ihn am frühen Morgen.

»Hat sich die Nacht wenigstens gelohnt?«, wollte er von Fisik wissen.

Sie stand wie aus dem Ei gepellt in frischen Kleidern vor ihrem Gemischtwarenladen, Lötpistole in der Hand.

»Ich kann mich nicht beklagen«, murmelte sie und beugte sich über ein Werkstück, das einem gewöhnlichen Netzwerkkabel von der Stange glich.

»Was bastelst du da?«

Sie versteifte sich, drehte sich langsam zu Vanya um, die Lötpistole gefährlich nah an seinem Auge.

»Ich bastle nicht«, zischte sie.

Vladimir fürchtete, sie würde zustechen und zuckte unwillkürlich zusammen.

»Ich löse Probleme«, fuhr sie weiter, »während du auf deinem Hausboot die Sau rauslässt. Du stinkst.«

Vanya grinste. Er verstand die Schelte als Bestätigung seiner rauen Männlichkeit.

»Die Nacht war wohl doch nicht so erfolgreich«, sagte er lachend und setzte sich an seinen Arbeitsplatz.

Vladimir fiel es schwer, sich auf den Programmcode zu konzentrieren. Immer wieder schweifte sein Blick verstohlen zu Fisik hinüber. Sie reagierte nicht, konzentrierte sich auf ihre Arbeit, als erinnerte sie sich nicht an die Nacht. Er verstand diese Frau nicht, wollte sie im Grunde auch nicht verstehen. Im Übrigen war er damit beschäftigt, seinen Kater mit Tee aus dem Samowar zu lindern. Er fühlte sich wie nach einer Flasche Wodka, übel und leer.

Andrei traf erst gegen Mittag ein. Er warf ein paar bedruckte Seiten auf Vanyas Schreibtisch, die dem Ekspert einen verwunderten Ausruf entlockten.

»Wer zum Teufel verwendet denn heute noch Faxe?«

»Die glorreiche russische Armee«, grinste Andrei.

»Die mit dem modernsten verdammten Supercomputer? Betreiben die den noch mit Dampf?«

Fisik hatte das Fax schon gelesen. Sie strahlte.

»Sieh dir lieber an, was da drin steht. Wir haben das Monster!«

Jubel brach aus im Bunker, in den sogar der stille Fedor einstimmte. Andrei sah auf die Uhr.

»O. K., Leute, uns bleiben noch genau sechs Stunden, um die Machbarkeit zu verifizieren. Schaffen wir das?«

Er erhielt keine Antwort, erwartete auch keine. Es gibt Fragen, die kann man erst im Nachhinein beantworten, also schenkt man sich die Antwort.

»Countdown läuft«, sagte er nur.

Von nun an zählte die große Digitaluhr an der Wand rückwärts: 6:00:00, 5:59:59, 5:59:58 … Sechs Stunden bedeuteten für einen Computer eine halbe Ewigkeit, für einen Programmierer leider nur einen Wimpernschlag. Es war die Aufgabe der Brüder Melnikov, das Monster in die Architektur ihres Systems einzubinden und die benötigten Funktionen zu testen. Sie planten, den Supercomputer als Zahlenfresser zu benutzen, um die Verschlüsselung des Zielsystems zu knacken. Für alle andern Arbeiten trauten sie nur ihren eigenen Systemen. Vladimir sah, wie die beiden schwitzten, und hätte ihnen gerne geholfen, wäre er nicht selbst in Verzug geraten mit der Arbeit am Trojaner. Es bereitete ihm immer noch Mühe, sich zu konzentrieren. Dass Fisik jetzt in aufreizender Pose vor ihm stand, machte die Sache nicht leichter.

»Was liegt an?«

Sein Blick schweifte überallhin, um nicht an den Brustwarzen haften zu bleiben, die sich unter der Bluse abzeichneten. Sie gab ihm das Werkstück, das Vanya als Bastelei interpretiert hatte.

»Das ist unser kleiner Helfer«, sagte sie. »Du brauchst ihm nur noch Leben einzuhauchen.«

Das Ding war nicht zu unterscheiden von einem Kabelende, wie es dutzendweise in jedem Netzwerkserver steckte. Es würde im Kabelgewirr keines Computerraums auffallen. Ihr Design und die Ausführung konnte er nur als genial bezeichnen. Das Gehirn des kleinen Helfers befand sich unsichtbar im Stecker. Das Stück Kabel diente nur als Tarnung. Ein Stecker ohne Kabel würde jedem Techniker sofort auffallen. Nüchtern gab sie die Spezifikationen des nicht einmal Fingernagel großen integrierten Schaltkreises bekannt:

»1 GHz ARM Prozessor, 512 MB RAM, 8 GB Flash Speicher. Du hast ein voll funktionsfähiges Linux System zur Verfügung, mein Lieber.«

»Genial«, wiederholte er laut.

Er steckte das Wunderding in einen freien Port an seinem Computer. Nach wenigen Befehlen öffnete sich ein Fenster mit der bekannten Linux Oberfläche auf seinem Hauptmonitor. Der Zwerg lebte. Er brauchte ihn nur noch für seine Zwecke zu konfigurieren.

»Khorosho«, murmelte sie.

Sie kehrte zu ihrer Werkstatt zurück, um baugleiche Chips in weitere Typen von Steckern einzubauen, wie er vermutete. Da sie nicht genau wussten, was sie vor Ort erwartete, mussten sie für alle gängigen Anschlüsse vorbereitet sein.

Nachdem auch der Tarnanzug des Trojaners zu seiner Zufriedenheit funktionierte, baute er die Schadsoftware zum ersten Mal in Fisiks Zwerg ein, ein trivialer Kopiervorgang. Etwas mehr Mühe bereitete der Probelauf. Der Zwerg musste automatisch anspringen, sobald er eingesteckt wurde. Das klappte erst nach einem Eingriff der Schöpferin, deren Hinterteil ihm dabei gefährlich nahe kam.