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»Sie wünschen?«

Danach widmete er sich wieder dem Kaffee, seiner großen Leidenschaft. Er kannte jede exotische Bohne und besaß sie auch.

»Herr Haase, Jens Haase?«, fragte sie lächelnd.

»Ja, was …«

Er stockte, starrte sie mit offenem Mund an, sprachlos. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Sprechen gehörte nicht zu seinen Leidenschaften. Er war der stille Schaffer im Präsidium, mit allen nützlichen Datenbanken per du und gehörte, seit sie sich erinnern konnte, zum Inventar wie das Mobiliar – mit vergleichbarer Präsenzzeit. Sie vermutete schon lange, er wohne im Büro, hatte allerdings sein Bett noch nicht gefunden. Vielleicht brauchte er keins bei dem Kaffeekonsum.

»Bekomme ich auch einen Ristretto?«, fragte sie, um den Bann zu brechen.

»Sie sind es wirklich – das ist ja …«

»Anders, wollten Sie sagen?«

»Praktisch.«

Sie brach in Gelächter aus. Ein besseres Urteil zu ihrer neuen Erscheinung war von seinem analytischen Verstand nicht zu erwarten. Sie nahm es als Kompliment, denn praktisch war die Kurzhaarfrisur allemal, viel praktischer als der Rapunzel-Zopf.

»Herr Haase, hat sie sich bei Ihnen gemeldet?«, fragte Staatsanwältin Winter hinter ihrem Rücken.

Sie drehte sich in Zeitlupe um. »Meinen Sie mich?«

Eine Schrecksekunde blieb es still. Winters Augen blitzten kurz auf, bevor sie in der üblichen, tiefgefrorenen Tonlage fragte:

»Wo stecken Sie die ganze Zeit? Ich habe mehrfach versucht, Sie anzurufen. Kommen Sie!«

Chris hatte eine ironische, ja zynische Bemerkung zur schrägen Ponypartie erwartet und sich auf den Schlagabtausch gefreut – aber nicht nichts. Enttäuscht nahm sie die Tasse, die Haase ihr reichte, murmelte etwas von »leerem Akku« und folgte Winter ins Büro der Staatsanwaltschaft. Sie versuchte, das eisige Schweigen mit der Versicherung zu brechen, der verlangte Abschlussbericht würde pünktlich bis Mittag auf ihrem Schreibtisch landen.

»Es geht nicht darum«, gab die Staatsanwältin nervös zurück.

Als sie sich gegenübersaßen, schob sie eine Akte über den Tisch.

»Das LKA hat Mist gebaut. Lesen Sie!«

Fälle, in denen sie Kollegen an den Karren fahren musste, hasste sie besonders, und Winter wusste es. Sollte das eine Art Strafaktion werden für häufige Alleingänge? Bevor sie die Akte aufschlug, suchte sie die Antwort in Winters Augen, doch da gab es nichts zu lesen.

Der Bericht begann wie einer von tausend Fällen, denen sie in der Abteilung für schwere und organisierte Kriminalität täglich begegnete. Das einzig Ungewöhnliche schien der Ort des Verbrechens zu sein, jedenfalls aus Sicht des Bundeskriminalamts. Zwei deutsche Staatsbürger, das Ehepaar Martha und Tobias Meier aus Berlin, waren in einem Hotelzimmer in Sankt Petersburg erschossen aufgefunden worden. Bei der Lektüre des zweiten Abschnitts konnte sie einen Ausruf der Überraschung nicht unterdrücken.

»Verdeckte Ermittlungen des LKA in Sankt Petersburg?«, murmelte sie ungläubig.

»Verstehen Sie jetzt, was ich mit Mist meine?«

»Allerdings.«

Martha und Tobias Meier waren unter falscher Identität nach Russland eingereist. In Wirklichkeit handelte es sich um die Kommissare Katharina Bach und Malte Friedmann vom LKA. Über den Grund des verdeckten Einsatzes blieb der kurze Bericht vage mit dem Verweis auf die Ermittlerin in Berlin, Hauptkommissarin Monika Weber vom LKA 4, zuständig für organisierte Kriminalität und Bandendelikte.

»Ich möchte, dass Sie diesen Fall übernehmen, Dr. Roberts«, sagte die Staatsanwältin. »Finden Sie die Täter von Sankt Petersburg, und finden Sie um Gottes willen heraus, was da im LKA falsch läuft.«

Es war eine Bitte, kein Befehl. In Winters Stimme schwang ein Hauch banger Hoffnung mit. Chris sparte sich die Diskussion um Zuständigkeiten. Sie wussten beide, dass dieser Doppelmord ein Fall für die russischen Behörden war. Aber die Tatsache, dass es sich bei den Opfern um deutsche Polizisten handelte, deren Identität und Aufgabe auf keinen Fall an die Russen durchsickern durften, barg erheblichen Sprengstoff.

»Da werden meine drei Lektionen Russisch nicht weiterhelfen«, versuchte sie zu scherzen.

Winter ignorierte die Bemerkung.

»Dank der grenzenlosen Dummheit der Kollegen vom LKA stehen wir unter einem enormen Druck. Das werden Sie verstehen. Die Sache erfordert äußerstes Fingerspitzengefühl. Der Fall ist Verschlusssache und streng geheim. Ich muss über jeden Schritt informiert sein und ich genehmige jeden Zugriff Dritter auf die Akten. Sonst haben Sie freie Hand. Haben wir uns verstanden?«

»Ich bin also auf mich allein gestellt«, fasste Chris nüchtern zusammen.

Winter versuchte zu lächeln. »So kann man es auch ausdrücken.«

Chris wandte sich zum Gehen. »Haben Sie die Kollegin Weber schon vorgeladen?«

Winter schüttelte den Kopf. Bevor sie das Büro verließ, wandte sie sich noch einmal an sie:

»Dr. Roberts …«

»Ja?«

»Sieht schick aus, die neue Frisur, gefällt mir.«

»Danke«, antwortete sie perplex, nach Hintergedanken forschend.

»Ich habe mir auch schon überlegt, so etwas machen zu lassen.«

Bloß nicht!, dachte sie erschrocken und zog die Tür hinter sich zu. Für einmal konnte sie den Ärger der Staatsanwältin über die Dilettanten im LKA nachvollziehen. Sie war versucht, die harte Tour zu fahren, Hauptkommissarin Weber wie eine Verdächtige vorzuladen und ihr erst einmal die Leviten zu lesen. Nachdem sie Haase mit den notwendigen Informationen über den Fall vertraut gemacht hatte, entschied sie sich für die wissenschaftliche Methode: beobachten, zuhören und erst dann Schlüsse ziehen.

Eine halbe Stunde später betrat sie das LKA-Gebäude am Tempelhofer Damm. Das Erste, was ihr an Monika Weber auffiel, war die tiefe, männliche Stimme. Sanft, angenehm, aber sie passte nicht zu den harten, fast abgehärmten Gesichtszügen. Die Frau, zwanzig Jahre älter als sie, erweckte den Eindruck, als wäre sie schon etliche Male durch die Hölle gegangen, zuletzt wohl am Vortag bei der Nachricht aus Sankt Petersburg. Im Besprechungszimmer wartete ein Mann um die vierzig in betont lässiger Pose.

»Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich meinen Partner zuziehe?« Ohne die Antwort abzuwarten, stellte Monika Weber ihn vor: »Oberkommissar Dieter Vogel, auch LKA 4.«

»Ganz ohne Staatsanwaltschaft?«, fragte er bissig.

Chris ließ sich nicht provozieren. An diesem schönen Tag schon gar nicht.

»Staatsanwältin Winter wird Sie nicht mehr belästigen«, sagte sie lächelnd, »dafür bin ich jetzt da.«

Der Scherz trug nicht zur Entspannung bei. Sie beeilte sich, ihren Auftrag sachlich zu schildern, wobei sie betonte, alle verfügbaren Ressourcen des BKA einzusetzen, um die Tat aufklären zu helfen. Kollege Vogel traute dem Frieden nicht, setzte zu einer Entgegnung an, hielt jedoch den Mund auf ein Zeichen seiner Partnerin.

»Am besten erzählen Sie mir alles, was Sie über die verdeckte Ermittlung der Opfer in Sankt Petersburg wissen«, schlug sie vor.

Monika Weber deutete auf eine Reihe Ordner im Regal an der Wand.

»Im Grunde genommen steht alles da drin. Das sind die Ergebnisse von sieben Jahren Ermittlungsarbeit. Es fällt mir nicht leicht, das Material zusammenzufassen. Das dürfen Sie mir glauben, Dr. Roberts.«

»Chris«, unterbrach sie. »Vergessen Sie den Doktor. Kollegen nennen mich Chris.«

»Also gut, Chris, ich versuch’s. Vielleicht ist es am besten, am Schluss anzufangen, bei der Katastrophe in Sankt Petersburg.«

Ihr Partner breitete schweigend Fotos auf dem Tisch aus, welche die russische Polizei am Tatort geschossen hatte.

»Sieht auf den ersten Blick wie eine fatale Abrechnung unter Eheleuten aus«, bemerkte Chris. »Wer ist das Mädchen?«

Monika Weber zuckte die Achseln. »Wir wissen es nicht, und die Kollegen der Kripo in Sankt Petersburg konnten ihre Identität bisher auch nicht feststellen.« Sie verstummte für kurze Zeit, bis sie mit einem Kloß im Hals sagte: »Ich weiß, wie das für Sie aussehen muss. Wir lassen zwei Leute undercover in Sankt Petersburg ermitteln, wozu wir gar nicht berechtigt sind, und tappen zudem im Dunkeln darüber, was die beiden im Hotelzimmer gewollt haben. Sie müssen glauben, wir hätten komplett den Verstand verloren.«

Chris hätte es nicht besser ausdrücken können. Laut sagte sie:

»Ich bin sicher, die Geschichte hört sich aus Ihrer Sicht ganz anders an.«

»Da haben Sie verdammt recht«, schaltete Kollege Vogel sich ein.

Die Erklärung überließ er wieder seiner Partnerin.

»Es begann wie gesagt vor rund sieben Jahren mit dem nächtlichen Brand einer Villa in Charlottenburg. Die Besitzer weilten zu der Zeit in der Oper und konnten erst ermittelt werden, nachdem das Haus fast bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Ein Unfall, ausgelöst durch einen Kurzschluss. In den Überresten fand man die verkohlten Leichen zweier Kinder, Knaben im Alter von sechs und sieben Jahren. Die Ermittlungen haben ergeben, dass sie sich zur Zeit des Unglücks allein im Haus befanden, eingesperrt in einem fensterlosen Kellerraum.«

Chris schauderte unwillkürlich. »Was für Eltern tun so etwas?«

»Das nette Ehepaar besaß gar keine Kinder«, warf Dieter Vogel düster ein. »Die Kleinen waren auch nicht zufällig zu Besuch im Haus.«

»Die Kinder lebten illegal in Berlin, gekauft von Kinderhändlern«, stellte seine Partnerin klar.

»Der reine Horror!«, war alles, was Chris dazu einfiel.

Sie begann zu begreifen, woher die verhärteten Gesichtszüge ihres Gegenübers stammten. Monika Weber schwieg eine Weile nachdenklich, bevor sie leise fortfuhr:

 

»Wir wissen nicht, was diese kleinen Jungen erdulden mussten während der zwei Jahre, die sie in der Villa verbrachten.« Wieder stockte sie, dann murmelte sie: »Ist wohl auch besser so. Der einzige Trost in dieser Tragödie ist, dass die beiden wahrscheinlich bewusstlos waren, als sie das Feuer erfasste. Kohlenmonoxid.«

»Was geschah mit ihren Peinigern?«

»Die bleiben auf unbestimmte Zeit verwahrt, schweigen aber bis heute.«

»Kinderhandel«, murmelte Chris bedrückt.

Die Galle kroch in ihr hoch. Abscheu und Ärger erfüllten sie angesichts der unbeschreiblichen Zustände, die sich hinter harmlosen, gutbürgerlichen Fassaden verbargen.

Monika Weber nickte. »Kinderhandel, Kinderprostitution, Pädophilie, Kinderpornographie – das ganze Programm. Jahrelang haben wir nach Hintermännern, Verbindungen und weiteren Fällen gesucht, auch im Ausland über Europol. Das Resultat finden Sie in diesen Ordnern.«

»Und wo ist der Link zu Sankt Petersburg?«

Kollege Vogel klärte sie auf:

»Die beiden Knaben stammten aus Sankt Petersburg. Zumindest müssen wir davon ausgehen, denn das saubere Pärchen hat sie dort gekauft, genauso wie Dutzende andere Opfer in Sankt Petersburg gekauft worden sind. Die Fälle sind alle im Detail dokumentiert. Wenn Sie wissen wollen, wie es in der Hölle zugeht, lesen Sie diese Akten.«

»Ich hoffe, Sie besitzen Nerven wie Drahtseile«, warf Monika Weber ein, »sonst rate ich Ihnen dringend von der Lektüre ab.«

»Sie vermuten eine kriminelle Organisation dahinter, die aus Sankt Petersburg heraus operiert?«

»Und zwar in ganz Europa mit Schwerpunkt Berlin. Nach unseren Ermittlungen gibt es keinen Zweifel daran. Die Bande kauft Kinder von Not leidenden Familien zu einem Spottpreis, meist unter dem Vorwand, sie an westliche Paare zur Adoption zu vermitteln, ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen. Das funktioniert ohne großen Druck. Noch einfacher geht es mit ein paar Rubel in Waisenhäusern. Die Empfänger im Westen zahlen Unsummen für die bedauernswerten Opfer.«

»Vielleicht gibt es ja nicht nur Opfer.«

»Sie meinen anständige Adoptiveltern? Klar gibt es die, aber vergessen Sie nicht, dass die Kinder illegal einreisen. Es ist schwierig bis unmöglich, die Adoption zu legalisieren. Wir müssen leider davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit der Kinder auf Nimmerwiedersehen im pädophilen Sumpf verschwindet.«

»Stimmt nicht ganz«, widersprach Kollege Vogel mit bitterem Lächeln. »Viele davon tauchen im Internet wieder auf. Möchten Sie eine Auswahl der Filmchen sehen?«

»Zynismus hilft auch nicht weiter«, murmelte Monika Weber.

»Das alles ist eine einzige Katastrophe«, seufzte Chris.

Bis vor einer Stunde hatte sie noch geglaubt, bei der Arbeit am BKA schon in jeden Abgrund geblickt zu haben. Was für ein Irrtum! Möglich, dass sie besonders empfindlich auf Kinder als Opfer reagierte, weil sie selbst eins erwartete. Sie ahnte noch vor dem ersten Blick in die Akten, dieser Fall würde sie fordern wie kaum einer zuvor.

»Was war der konkrete Anlass für den Einsatz in Sankt Petersburg?«

Die beiden Kollegen hätten das Risiko sicher nicht auf einen bloßen Verdacht hin auf sich genommen. Vogel antwortete:

»Malte ist es gelungen, in einem einschlägigen Internetforum Kontakt aufzunehmen. Die verwendeten Codes waren dieselben, die in mehreren unserer Fälle aufgetaucht sind.«

»Malte Friedmann alias Tobias Meier?«

»Genau der. Es war die erste gelungene Kontaktaufnahme seit Jahren.«

»Wir mussten schnell handeln«, warf Monika Weber ein. »Es blieb keine Zeit für den langen Dienstweg.« Nach einer kurzen Pause fügte sie leise hinzu: »Das wird die Hinterbliebenen allerdings kaum trösten.«

»Wer wusste von der Aktion?«

»Nur wir zwei, der Dienststellenleiter – und die Opfer.«

»Trotzdem sind die Kollegen in eine Falle getappt, wie es aussieht«, sagte Chris. »Sie haben sich sicher auch schon die Frage nach dem Leck gestellt …«

»Die ganze Zeit denke ich an nichts anderes«, unterbrach Vogel wütend.

Seine Partnerin schüttelte entschieden den Kopf und betonte:

»Wer in Gottes Namen sollte hier ein Motiv zu so einem Verrat haben?«

»Mir würden da schon einige Gründe einfallen«, gab Chris zu bedenken, »Geld, persönliche Konflikte, Rache, um nur die Üblichen zu nennen. Verstehen Sie mich richtig: Damit will ich nicht andeuten, dass mich diese Theorie überzeugt.«

»Das ist Blödsinn«, stimmte Vogel zu. »Die Kollegen waren allseits beliebt und geachtet, lebten in geordneten Verhältnissen. Wir kennen – kannten – beide auch privat seit vielen Jahren.«

Dieses Argument überzeugte zwar nicht, aber sie verzichtete auf Widerspruch. Es gab ein Dutzend andere Möglichkeiten, wie eine derart heikle Operation auffliegen konnte. Am wahrscheinlichsten erschien ihr ein tödlicher Fehler der Ermittler als Erklärung. Sie brauchte den Gedanken nicht auszusprechen. Monika Weber tat es für sie und provozierte eine heftige Auseinandersetzung mit ihrem Partner, offenbar einem guten Freund des ermordeten Malte Friedmann.

»Wir alle machen Fehler«, warf sie ein, um die fruchtlose Diskussion zu beenden. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt mit dem Aktenstudium beginnen. Sie halten mich bitte auf dem Laufenden über die Entwicklung in Sankt Petersburg.«

Die beiden Kommissare erhoben sich. Vor dem Verlassen des Zimmers sagte Monika Weber düster:

»Ich habe Sie gewarnt.«

Der Tag hatte so gut begonnen.

Sankt Petersburg, Russland

Major Sofia Yeltsova von der Kripo Sankt Petersburg blieb mitten auf dem Flur des Betreuungszentrums stehen. Ihr Partner Gregori Makarov ging zwei Schritte weiter, bis er es bemerkte.

»Was ist jetzt schon wieder?«, brummte er ungehalten. »Wir sind so schon zu spät.«

»Ach was, ich glaube, du verkennst die Lage.«

»Welche Lage? Wir versuchen, die Kleine zum Sprechen zu bewegen. Was ist daran so schwer zu verstehen?«

»Genau das ist es. Du verstehst es nicht.«

»Verdammt, kannst du vielleicht Klartext reden, oder willst du mich nur ärgern? Das ist dir nämlich gelungen.«

»Ist ja auch nicht schwierig bei dir.«

Er drehte sich um und ging weiter. Es gab schon gute Gründe, weshalb er nach dem Tod seiner Frau Einsiedler geblieben war. Ihm fehlte das masochistische Gen, um eine wie Sofia auch noch außerdienstlich zu ertragen.

»Jetzt warte doch mal! Hör zu!«

Widerwillig blieb er stehen. Ihre Stimme klang besorgt, als sie weitersprach:

»Ich meine, es wäre besser, wenn ich mich erst einmal allein mit der Kleinen unterhalten würde, so von Frau zu Frau, verstehst du?«

»Was macht dich so sicher, dass sie weniger Angst vor Drachen als vor Drachentötern hat?«, fragte er giftig.

»Du willst es nicht kapieren, oder? Die Kleine ist total traumatisiert. Niemand weiß, was die Schweine mit ihr angestellt haben …«

»Schon klar, aber wer sagt uns, dass es männliche Schweine waren, dass sie Angst vor Männern haben soll?«

»Darum geht es doch nicht. Ich möchte es einfach so sanft und langsam wie möglich angehen. Wenn wir jetzt zu zweit einfahren, war‘s das vielleicht schon.«

Er verspürte ohnehin keine Lust auf die Psycho-Nummer, also gab er seinen Widerstand auf.

»Versuch‘s meinetwegen. Ich besorge mir etwas zu trinken.«

Er kehrte zum Kiosk zurück, der sich neben dem Eingang im Erdgeschoss befand. Nach kurzem Zögern nahm er ein ›Kvass‹ aus dem Regal. Das pasteurisierte, süße Zeug schmeckte ihm nicht, aber es schmeckte wenigstens nach etwas, nicht wie Wasser. Sein Großvater hatte ganz anderes ›Kvass‹ gebraut, das nach zwei Wochen Gärung am besten schmeckte. In einer Einrichtung für Seelenklempner konnte man natürlich keinen anständigen Drink erwarten. Mürrisch legte er die paar Münzen auf den Tisch bei der Kasse und wollte gehen, als ihm eine Schale mit ›Alenka‹-Riegeln auffiel. Er nahm zwei heraus, legte mangels Kleingeld einen Geldschein auf die Theke und wartete. Das Mütterchen an der Kasse rührte keinen Finger.

»Worauf warten Sie?«, fragte er nach einer Weile.

»Vielleicht fällt dem Herrn ja noch etwas ein«, keifte die Frau.

Russen genießen nicht, sie ertragen – er müsste es allmählich wissen.

»Wenn Sie keinen Wert auf mein Geld legen, konfisziere ich die Schokolade«, sagte er beiläufig und zeigte den Dienstausweis.

Der Geldschein verwandelte sich vor seinen staunenden Augen in ein paar Kopeken Wechselgeld. Das ging so schnell, dass er die Handbewegung des Mütterchens kaum wahrnahm.

»Spasibo.«

Er nickte ihr freundlich grinsend zu, steckte die Riegel ein und verließ ihr Königreich.

Sofias Methode schien nicht sehr erfolgreich zu sein. Er traf sie aufgeregt mit der Betreuerin diskutierend auf dem Flur vor dem Spielzimmer.

»Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, an die Kleine heranzukommen«, sagte sie händeringend.

Die Betreuerin, eine Kinderpsychologin, wie er auf dem Namensschild las, lächelte verständnisvoll.

»Ich weiß, es ist für Laien schwer zu verstehen, aber das Verhalten des Mädchens ist unter den gegebenen Umständen völlig normal. Es leidet unter einem schweren Schock. Darauf reagieren Kinder im Wesentlichen auf zwei verschiedene Arten. Die einen reden und hören nicht mehr auf, bis alles gesagt ist, was sie bedrückt. Andere schweigen wie ein Grab, weil sie nicht über das Erlebte sprechen können. Sie erinnern sich nicht, oder die Erinnerung ist so schmerzhaft, dass ihr Gehirn sie temporär verdrängt, ein Selbstschutzmechanismus.«

»Und wie lange dauert dieses Schweigen?«, wollte er wissen.

»Tage, Monate – ich weiß es nicht. Im Moment wären wir schon froh, sie würde wenigstens etwas essen. Wahrscheinlich verschwenden Sie nur Ihre Zeit. Sie können nichts erzwingen.«

Sofia schüttelte den Kopf. »Ich versuch‘s trotzdem noch einmal.«

Diesmal ließ er sich nicht abwimmeln. Sie betraten das Spielzimmer, argwöhnisch beobachtet von der Psychologin. Das Mädchen saß in einer Ecke am Boden, eine Stoffpuppe auf dem Schoß, mit der es aber nicht spielte. Apathisch sah es den andern drei Kindern zu, die mit einer Betreuerin den Kinderreim »Soroka, Soroka« – »Elster, Elster« übten und dazu klatschten.

»Gibt es ein Zimmer, wo wir sie allein sprechen können?«, fragte er leise.

Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Hier fühlt sie sich einigermaßen geborgen. Warten Sie, ich schicke die Gruppe weg.«

Nachdem sie einige Worte mit der andern Betreuerin gewechselt hatte, forderte die ihre Kinder auf, ihr zu folgen. »Polonez« war das Stichwort, worauf das Grüppchen klatschend und tanzend das Zimmer verließ. Die Kleine mit der Puppe folgte mit den Augen, regte sich aber nicht. Sofia näherte sich vorsichtig, ging in die Hocke und begann ruhig zu sprechen, ein warmes Lächeln im Gesicht, soweit es das zuließ. Sie fragte nach dem Befinden und stellte ihren Partner mit Vornamen vor. Das Mädchen hörte stumm zu. Die Blicke ruhten abwechselnd auf den drei Erwachsenen. Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, sie kehrten häufiger zu ihm zurück als zu den zwei Frauen. Sofia deutete auf die Puppe und fragte:

»Verrätst du mir, wie sie heißt?«

Der Blick des Mädchens wanderte wieder zu ihm, als wüsste er die Antwort. Einer Eingebung folgend, sagte er:

»Lass mich raten. Heißt sie – Anastasia?«

Es war der erste Name, der ihm einfiel, außer Sofia. Die Kleine schüttelte fast unmerklich den Kopf, die erste Reaktion auf eine Frage. Ihre Augen hingen an seinen Lippen. Es blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Während er tief in seiner Erinnerung nach andern, beliebten Mädchennamen forschte, versuchte es Sofia mit Vorschlägen, die allesamt unbeachtet verhallten. Er war am Zug. In seiner Not erinnerte er sich an die Schokoriegel. Sein Gesicht strahlte wie das Mädchen mit dem Kopftuch auf der Verpackung, als er einen davon aus der Tasche zog und fragte:

»Heißt sie vielleicht – Alenka?«

Die Reaktion überraschte alle. Die Kleine packte den Riegel, legte ihn mit der Puppe neben sich auf den Boden, sprang auf und begann, sich zu entkleiden. Er erschrak dermaßen, dass er unwillkürlich zwei Schritte rückwärts taumelte und dabei fast seine Partnerin zu Boden riss. Das Mädchen hielt verstört inne, ein Glück für alle Beteiligten. Die Psychologin schien als Einzige zu begreifen, was geschah. Im Nu ließ sie den ›Alenka‹-Riegel verschwinden, zog das Mädchen sanft zu sich und sprach beruhigend auf sie ein. Gleichzeitig bedeutete sie den Kommissaren mit energischen Handbewegungen, das Zimmer zu verlassen.

 

»Hat ja wunderbar geklappt«, fauchte Sofia ihn wütend an.

Noch immer perplex von der Reaktion des Kindes, hörte er nicht zu. Als Laie, der nicht einmal verstand, was in seinem eigenen Kopf vorging, begriff er nur, was offensichtlich war. Der Schokoriegel wirkte als Auslöser für das seltsame Verhalten, oder war es der Name Alenka?

»Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«

Es konnte nichts Gutes sein, schloss er aus dem Wetterleuchten in ihren Augen. Er brauchte nicht zu antworten. Die Tür ging auf. Die Psychologin, das Mädchen an der Hand und sichtbar erleichtert, winkte sie herein. Kaum im Zimmer, hörten sie das erste Wort aus dem Mund der Kleinen: »Natascha«.

»Du heißt Natascha?«, fragte Sofia erfreut.

Das Mädchen schüttelte den Kopf, streckte die freie Hand aus und wiederholte den Namen: »Natascha.«

Es kommunizierte, wenn auch einigermaßen rätselhaft. Wieder war es die Psychologin, die das Mädchen verstand.

»Die Puppe!«, rief sie aus. »Du meinst die Puppe. Sie heißt Natascha, nicht wahr?«

Das Mädchen wand sich los, holte die Puppe und presste sie ans Herz. »Natascha«, flüsterte es wiederholt. Tränen traten in seine Augen. Das Kind begann leise zu schluchzen.

»Es ist besser, wenn Sie uns jetzt wieder allein lassen«, flüsterte die Psychologin.

Rein, raus – allmählich verlor er die Geduld. Die Situation überforderte ihn. Nicht nur ihn, wie ihm Sofias Achselzucken auf seine Frage nach dem »Wie weiter?« signalisierte.

Er zog den zweiten Riegel aus der Tasche und hielt ihn Sofia hin.

»Alenka?«

Sie nahm die Schokolade ohne Zögern und begann schweigend zu essen. Sekunden später hatte sie das süße Zeug verschlungen und reichte ihm die zerknüllte Verpackung. Er rang sich ein ironisches Lächeln ab.

»Spasibo. Fahren wir zurück ins Büro?«

Sie schüttelte den Kopf und fand endlich die Sprache wieder.

»Jetzt nicht. Ich habe das Gefühl, sie wird bald reden nach deiner Schokotherapie.«

»Die wirkt offenbar auch bei dir.«

»Nein im Ernst, Gregori. Was immer dein Schokoriegel ausgelöst hat, es wird uns weiterhelfen.«

»Toll, dass ich helfen konnte«, brummte er, ohne ihren Optimismus zu teilen.

Er glaubte nicht daran, dass das immer noch namenlose Mädchen selbst überhaupt wusste, woher es kam und wer es ins Hotelzimmer verschleppt hatte. Langsam aber sicher sehnte er sich zurück ins Büro, ein Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte.

»Was wird aus der Kleinen?«, fragte er.

Er kannte die Antwort, überließ es aber gerne seiner Partnerin, die brutale Wahrheit auszusprechen. Sie tat es ohne Wenn und Aber:

»Sie wird in ein Waisenhaus gesteckt, wo man sie bei nächster Gelegenheit an eine andere Bande verkauft – oder an dieselbe.«

»Das dürfen wir nicht zulassen.«

»Nein.«

Damit war das Thema vorerst erledigt. Keiner kannte ein Rezept, um die Zustände zu ändern. Wie Angehörige vor dem OP gingen sie schweigend auf dem Flur auf und ab, bis sich die Tür zum Spielzimmer wieder öffnete. Die Psychologin trat heraus, zufrieden lächelnd.

»Jelena zeichnet.«

»Jelena?«, riefen sie wie aus einem Mund.

Die Psychologin nickte. »Sie heißt Jelena, einfach nur Jelena. An einen Nachnamen erinnert sie sich nicht. Natascha heißt übrigens ihre Freundin.«

»Die Puppe.«

»Auch, aber die heißt nur so wegen ihrer echten Freundin. Sie vermisst sie und will sie suchen. Sie kennt ihre Adresse nicht, aber ich habe ihr vorgeschlagen, das Haus zu zeichnen.«

»Sie sollten bei der Polizei arbeiten«, sagte er mit breitem Grinsen.

Die Hoffnung kehrte zurück. Der Ausflug in die Tiefen der Kinderseele war womöglich doch nicht ganz sinnlos. Erstaunt stellte er fest, dass Jelena an seinem Schokoriegel knabberte, während sie mit Farbstiften malte. Sie verhielt sich wie ein normales Kind, als hätte sie auf einen Schlag alles Schreckliche vergessen, was sie erlebt hatte. Sie antwortete auf Sofias vorsichtige Fragen, ohne von der Zeichnung aufzublicken.

Nicht nur ihr Bild, auch das Bild vor seinem geistigen Auge nahm Konturen an. Jelena und ihre etwas ältere Freundin Natascha hatten offenbar nicht in einem Waisenhaus gelebt, eher in einer Art Wohngemeinschaft, zusammen mit fünf weiteren Mädchen und einer wechselnden Gruppe Erwachsener. Aus Angst vor einem Rückfall wagten sie nicht zu fragen, was diese Leute mit ihnen angestellt hätten. Wichtig war zuerst einmal, das Haus zu finden. Seine Hoffnung schwand ein gutes Stück, als er erfuhr, dass die Kinder dort nur im Dvor, im Innenhof, spielen durften. Jelena hatte das Haus nur einmal kurz von außen gesehen, als sie zum Hotel gefahren wurde.

Die Zeichnung war fertig. Sie zeigte eine rote Fassade mit winzigen Fenstern, vier Stockwerke hoch, die unterste Reihe der Fenster vergittert. In der Mitte der Fassade befand sich ein schwarzes Loch, das offenbar das geschlossene Tor zur Straße darstellte. Im Hof standen sieben Strichmännchen, die sieben Kinder. Von den Erwachsenen fehlte jede Spur. Jelena blendete sie aus. Gregori konnte es ihr nicht verdenken. Ein vierstöckiges rotes Haus mit Innenhof – davon gab es Dutzende, wenn nicht Hunderte in Sankt Petersburg.

»Gibt es noch etwas, was du am Haus oder in der Nähe gesehen hast, Jelena?«, fragte er.

Sie schluckte den Rest der Schokolade hinunter, leckte sich die Finger und dachte nach. Plötzlich griff sie zum schwarzen Stift und zeichnete etwas neben den Fenstern auf die Fassade. Es sah aus wie ein großes Strichmännchen, aber es besaß Hörner.

»Dyavol«, erklärte sie dazu. »Jemand hat den Teufel an die Wand gemalt.«

Ein Graffiti – im Innenhof, auch nicht gerade selten und nicht eben hilfreich, um das Haus zu finden.

»Erinnerst du dich sonst noch an etwas? Liegt das Haus vielleicht an einer großen Straße, an einer Kreuzung, fährt die Bahn vorbei?«

»Nein, nein, die Straße liegt an einem Kanal. Wir sind über eine Brücke gefahren.«

»Gibt es außen am Haus auch solche Graffiti wie der Dyavol?«

»Nicht wie der Dyavol, nur schwarze Striche.«

Die Kleine hatte eine Menge beobachtet, obwohl sie wahrscheinlich die ganze Zeit im roten Haus gefangen gehalten worden war.

»Danke, Jelena, du hast du uns sehr geholfen«, sagte Sofia.

Die Erleichterung war ihr anzuhören. Mit etwas Glück würden sie das Haus mit diesen Angaben finden. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Rotes Haus, Graffiti, Kanal – die Kombination weckte Erinnerungen. Im Moment, als ihm einfiel, woran er sich erinnerte, fragte Jelena:

»Gehen wir jetzt Natascha suchen?«

»Genau das machen wir«, platzte er heraus, bevor die beiden Damen etwas entgegnen konnten. Er streckte die Hand aus. »Kommst du mit? Wir brauchen deine Hilfe.«

Völlig überrumpelt, bearbeitete Sofia ihn mit strafenden Blicken.

»Ich glaube, ich weiß, wo wir suchen müssen«, beruhigte er.

»Das geht nicht!«, wehrte sich die Psychologin, sobald sie die Sprache wiedergefunden hatte.

»Doch, das geht«, widersprach er lächelnd. »Jelena möchte es so, und wir sind die Polizei.«

»Ich muss verrückt sein«, murmelte Sofia, bevor sie in den Dienstwagen stieg.

»Es ist unsere einzige Chance«, gab er ebenso leise zu bedenken.

Jelena saß angeschnallt auf dem Rücksitz und sollte nichts von Unmut und Zweifel bemerken. Optimismus war jetzt angesagt.

»Wir werden deine Natascha finden«, behauptete er und lächelte dem Rückspiegel zuversichtlich zu, als er sich ans Steuer setzte.

Sofia saß eine Weile schweigend neben ihm, bis er nach rechts abbog, Richtung Neva.

»Wo fährst du hin?«

»Jedenfalls nicht auf den Newski-Prospekt, nicht jetzt, am Vorabend der weißen Nächte. Ich habe keine Lust auf ein Touristenmassaker.«

»Pass auf, was du sagst, wir sind nicht allein!«, zischte sie.

»Entschuldigung – aber es ist doch wahr. In diesen Tagen könnte man glauben, es gäbe keine andere Straße als den Newski-Prospekt in unserer Stadt.«