Station 9

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Kapitel 2

Wien

Für ein »Guten Morgen« hatte es immerhin gereicht. Nun benutzte Jamie jede Gelegenheit, sich mit Kollegen am Kongress zu unterhalten, offensichtlich bemüht, nicht mit ihr sprechen zu müssen. Mona war es auch aufgefallen.

»Was hat er nur?«

Chris zuckte die Achseln. »Vielleicht die Nervosität vor seinem Referat.«

»Ist ja wohl nicht sein erstes.« Nachdem sie Jamie und Nick eine Weile beobachtet hatte, kam sie auf den Punkt: »Ihr habt euch gestritten. Meinetwegen?«

»Da kann ich dich beruhigen«, sagte Chris abwesend, während sie versuchte, Nicks Lippen zu lesen.

Von nun an war alles wichtig, was der Besitzer der Klinik Seeblick sagte. Die ersten Zuhörer betraten den Saal, in dem Jamie seinen großen Auftritt feiern würde. Um Boden gutzumachen, bemühte sie sich um einen Platz in der vordersten Reihe. Als Chemikerin war sie nicht vom Fach, aber jahrelange Übung im Umgang mit der Staatsanwaltschaft hatte sie gelehrt, bei jedem Thema einen kompetenten Eindruck zu machen. Nicks und Monas gespannte Erwartung war nicht gespielt, ebenso wenig die der versammelten Mediziner und Biologen im Saal. Nichts Geringeres als eine medizinische Sensation hatte der Konferenzleiter angekündigt.

»Dear Collegues«, begann Jamie, »ich möchte Ihnen heute von einer Entdeckung berichten, die ich mit meinem Team in Berlin machen durfte. Wir glauben, den Schlüssel gefunden zu haben, Gene Editing und damit künftige Gentherapien sicherer und um mehrere Größenordnungen effizienter zu gestalten.«

Man hätte einen Schmetterling flattern hören, so still war es jetzt im Saal.

»Es mag vermessen erscheinen, so kurz nach der Jahrhundert-Entdeckung von CRISPR/Cas-9 schon wieder von einem Durchbruch zu sprechen – aber entscheiden Sie selbst.«

Er hätte sie schon verloren, wäre sie nicht durch seine begeisterten Monologe in der Küche zu Hause gut vorbereitet gewesen. Er verglich die Entdeckung der CRISPR/Cas-9 Methode mit der Erfindung des Mikroskops. Die Genetiker besaßen damit ein neues Werkzeug, mit dem sie präzise jede Stelle der Erbsubstanz adressieren und verändern konnten. Das Potenzial für die Heilung von Erbkrankheiten konnte noch gar nicht abgeschätzt werden. Die Methode stieß die Tür zu einem bislang völlig unbekannten Feld der medizinischen Genetik weit auf.

»Mit der geradezu lächerlich einfachen Methode lässt sich durch geeignete synthetische RNA jede Stelle eines DNA-Strangs punktgenau anfahren«, fuhr er fort. »Das assoziierte Cas-9 Protein zerschneidet dann die DNA genau dort, wo zum Beispiel ein krankes durch ein gesundes Gen ersetzt werden soll. Das funktioniert nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis ganz gut, wie wir alle wissen.«

Um das Gesagte zu unterstreichen, projizierte er eine Grafik an die Wand, welche als Illustration der CRISPR/Cas-9 Methode auch durch die Tagespresse verbreitet worden war. Mit gequältem Lächeln nahm er den Faden wieder auf.

»Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen, spielt die Natur auch in diesem Fall nicht immer genau nach unsern Regeln. Lassen Sie mich kurz die zwei wichtigsten Probleme beschreiben, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Off-target-effects sind am gefährlichsten, da werden Sie mir zustimmen. Das Protein Cas-9 schneidet nicht immer ganz präzise an der gewünschten Stelle. Fast immer, aber eben nicht immer. Dadurch können unerwartete Einschübe und Löschungen in der DNA, sogenannte INDELs, entstehen, Nebeneffekte mit unbekannten Auswirkungen. Unser Team hat die Methode so verfeinert, dass bei mittlerweile über tausend Versuchsreihen keine einzige unerwünschte INDEL aufgetreten ist.«

Ein Raunen ging durch den Saal, was Jamie dazu benutzte, sich Wasser nachzuschenken und sie dabei genau zu beobachten.

»Das zweite Problem ist die Adressierung der gewünschten Zellen, fuhr er fort, delivery and targeting. Um CRISPR/Cas-9 effektiv in der Humanmedizin einsetzen zu können, müssen wir einen Weg finden, die Genschere und die gesunden DNA-Sequenzen sicher und effizient in die betroffenen Zellen einzuschleusen, etwa in Motoneuronen bei ALS. Bisher ist das noch mit keinem Ansatz gelungen.« Grinsend fügte er an: »Das heißt: bis vor unserer Entdeckung.«

Befreiendes Gelächter im Publikum, als hätten die Zuhörer das Problem gelöst.

»Bisherige Versuche beschränkten sich meist auf Leukozyten. Blutzellen sind leicht zu isolieren. Man kann sie gezielt behandeln, um sie danach geheilt wieder in die Blutbahn einzuschleusen. Mit Nervenzellen geht das nicht so gut.«

Der Scherz schien das Publikum köstlich zu amüsieren. Jamie wartete, bis sich der Saal beruhigte, bevor er zum K.-o.-Schlag ausholte.

»Unser Team wählte einen radikal neuen Ansatz, um das Problem des delivery and targeting zu lösen.«

Totenstille.

»Wir heilen die Zellen, indem wir sie mit AAV-Vektoren gezielt infizieren.«

Erst allmählich begriff sie ungefähr, was er damit meinte. AAV stand für Adeno-assoziierte Viren, eine an sich harmlose Virenart. Jamie und sein Team hatten diese Viren so programmiert, dass sie ganz bestimmte Muskelzellen befielen, dort die CRISPR/Cas-9 Genschere deponierten und so degenerierte Gene durch gesunde ersetzten.

»Natürlich fanden diese Versuche nicht in vivo an Menschen statt«, versicherte er schmunzelnd, »aber an lebendem menschlichem Muskelgewebe, das wir in vitro gezüchtet haben. Es besteht für uns absolut kein Zweifel, dass diese Methode genauso gut auch am lebenden Organismus funktioniert.«

»Nick wird sich freuen«, flüsterte Mona. »Genau so etwas haben wir erwartet.«

Das Gleiche sagte Nick, nachdem der tosende Applaus abgeebbt war und die aufgeregt diskutierende Schar der Gen-Chirurgen ins Foyer strömte. Er umarmte Jamie stürmisch, klopfte ihm auf den Rücken und stand kurz davor, ihn abzuküssen.

»Alter, das ist genau, was ich hören wollte!«, rief er aus. »Jetzt können wir getrost in die Schweiz zurück jetten. Besser wird‘s nicht mehr, was, Mona?«

»Schon cool«, gab sie zu, äußerlich ruhig, doch ihre Augen strahlten ebenso wie die des Kollegen.

Die beiden schienen es plötzlich eilig zu haben. Nick erwähnte eine dringende Besprechung, dann zog er seinen alten Freund kurz beiseite. Sie sollte wohl nicht hören, was gesprochen wurde, doch sie besaß das ausgezeichnete Gehör einer begabten Musikerin.

»Denk an unsern Deal, das Manuskript«, mahnte Nick, dann eilte er Mona nach mit der Bemerkung: »Wir sehen uns beim Dinner.«

Die lieben Kolleginnen und Kollegen umschwärmten Jamie eine Zeitlang wie Motten das Licht. Als sie ihm endlich allein gegenüberstand, fragte sie:

»Welches Manuskript?«

Er sah sie feindselig an, als hätte sie ihn beschimpft.

»Was soll das jetzt wieder? Ich dachte, du wolltest aufhören, meinen Freund zu bespitzeln.«

Sie hätte sich ohrfeigen können. Es war eine völlig harmlose Frage, reine Neugier. Nichts, worüber sich jemand aufregen müsste, aber sie betraf Nick. Alles, was Nick betraf, musste ab sofort tabu sein. Warum kapierte sie das nicht? Dumme Gans.

»Entschuldige«, sagte sie kleinlaut. »Lass es mich einfach wissen, wenn wir wieder normal miteinander sprechen können.«

»An mir soll‘s nicht liegen.«

Wieder ein Absturz auf der Achterbahn der Gefühle. Eine weitere Gruppe Kollegen nahm ihn in die Mitte. Sie entfernte sich in Gedanken versunken, unentschlossen, ob sie weinen oder lauthals fluchen sollte.

Fesch, würden die Wiener sagen. Zum Anbeißen sah er aus, ihr Jamie im gemieteten Smoking. Da er auch am Abend des abschließenden Galadiners im Marmorsaal des Oberen Belvedere im Mittelpunkt stand, fiel es ihr leichter, die glückliche Gattin zu mimen, obwohl ihr zum Heulen war. Der Prunk der K.-u.-k.-Monarchie drückte auf die Stimmung wie die Schuhe. Dennoch strahlte sie an der Seite ihres mit einem Mal prominenten Gatten, der noch seine Mühe bekundete mit der neuen Rolle.

Mit einem erleichterten Seufzer nahm er schließlich auf dem reservierten Sessel am VIP-Tisch Platz, sie zu seiner Linken, Mona und Nick zur Rechten.

»Warum sitzen die beiden an diesem Tisch?«, wagte sie flüsternd zu fragen.

»Keine Ahnung, ich bin auch überrascht«, antwortete er ebenso leise.

Seine Lippen bewegten sich kaum dabei. Nick beantwortete die Frage, ohne sie gehört zu haben, gleich für die ganze Tafelrunde.

»Doris verspätet sich wie erwartet«, seufzte er.

»Sie hängt bestimmt am Telefon«, fügte Mona schmunzelnd an. »Ich kann mich nicht erinnern, sie ohne Handy am Ohr gesehen zu haben.«

Nick widersprach grinsend:

»Doch, beim Texten.«

Der Tisch lachte. Der Kongress tanzt, dachte Chris unwillkürlich. Jamie fühlte sich mit seinen schlechten Deutschkenntnissen etwas vernachlässigt, wie sie befriedigt feststellte. Sie benutzte die Gelegenheit, um sich wieder ein Stück weit in sein Herz zu schleichen.

»Die beiden scheinen Ministerin Strasser gut zu kennen«, bemerkte sie auf Englisch.

Sie sagte es laut genug, damit alle begriffen, dass ihr prominenter Gatte Englisch bevorzugte. Wie auf Kommando wurde fortan Englisch gesprochen am VIP-Tisch.

»Doris Strasser und ich kennen uns schon seit der Studienzeit in Wien«, erklärte Nick. Nach einem nervösen Blick auf die Uhr sagte er zu Mona: »Ich hoffe, ihr ist nichts zugestoßen.«

»Beim Telefonieren?«, war Chris versucht zu fragen, doch sie überließ Jamie das Wort.

»Gibt es denn Grund zur Beunruhigung?«, fragte er beim Buttern seines Brötchens.

Die Tischnachbarin Mona antwortete:

»Sie ist eine sehr zarte Person, du wirst schon sehen.«

 

»Fast zerbrechlich«, unterstrich Nick, »und doch setzt sie sich bedingungslos und ohne Zögern ein, wenn es gilt, andern zu helfen. Die Zwillinge einer befreundeten Familie haben nur dank ihr überlebt. Sie besitzen jetzt ihre Blutgruppe. Du verstehst, was ich damit sagen will.«

Jamie nickte. Ihre medizinischen Kenntnisse reichten weniger weit.

»Leukämie, Knochenmarktransplantation«, antwortete er leise auf ihren fragenden Blick.

Am Eingang entstand Bewegung. Frau Dr. Doris Strasser, österreichische Gesundheitsministerin, der Stargast des Abends, betrat den Saal – ohne Telefon. Ihre zwei männlichen Begleiter, jeder mit Knopf im Ohr und Pistole im Schulterhalfter, wie Chris vermutete, bezogen beiderseits der Tür Position. Die Ministerin, schlank wie ein Supermodel, mädchenhafte Figur, erfreute sich offenbar großer Beliebtheit unter der medizinischen Gästeschar im Saal. Das Publikum empfing sie mit einer stehenden Ovation wie eine Stardirigentin. Nach hundertfachem »Küss die Hand« und Luftküsschen konnte sie endlich am VIP-Tisch Platz nehmen. Ihr warmes, einnehmendes Lächeln steckte alle an, auch Chris. Sie konnte sich der Faszination dieser Frau genauso wenig entziehen wie die Herren am Tisch. Die Vertrautheit, mit der sie Nick und Mona begegnete, deutete darauf hin, dass sie mehr als eine Ex-Kommilitonin war.

Wie es sich für eine gewiefte Politikerin geziemte, versuchte sie, alle am Tisch gleichermaßen ins Gespräch einzubeziehen. Chris‘ pochierter Hummer am Salatbouquet war noch nicht verzehrt, als die Ministerin sie mit der Frage erschreckte:

»Sind Sie denn gar kein bisschen eifersüchtig auf den Erfolg ihres Gatten, Dr. Roberts?«

Um die Verlegenheit zu verbergen, nippte sie kurz am Grünen Veltliner aus der Wachau.

»Ich war genauso überrascht wie Sie alle«, sagte sie dann mit leicht gezwungenem Lächeln.

Die Antwort sorgte für gelöste Heiterkeit am Tisch. Wichtiger war Jamies anerkennender Blick. Der Rest des Hummers schmeckte um Klassen besser. Die Ministerin legte die Gabel weg. Das Personal begann, das Geschirr abzuräumen für den zweiten Gang, eine Gemüsekreation auf San Daniele Schinken.

Chris war abgelenkt. Sie bemerkte Doris Strassers Anfall erst, als einer der Bodyguards mit gezogener Pistole auf den Tisch zu rannte. Die zierliche Frau griff sich nach Atem ringend an den Hals. Ihr Gesicht lief blau an, als schnürte ihr jemand die Kehle zu. Die Gäste in der Nähe sprangen entsetzt auf. Nick und weitere Kollegen bemühten sich verzweifelt, ihr zu helfen, bis die Rettung eintraf. Strassers Zustand verschlechterte sich zusehends. Spastische Zuckungen und Krämpfe behinderten die Versuche des Notarztes, sie zu intubieren und mit Sauerstoff zu versorgen.

»Niemand verlässt den Saal!«, brüllte der Einsatzleiter des Kommandos, das die Kongressteilnehmer seit der Geiselnahme im Billrothhaus schützen sollte.

Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich der festliche Prunksaal in die chaotische Auffangstation einer überforderten Polizeiwache mit zweihundert Verdächtigen und einer Ministerin, die mit dem Tode rang. All die erfahrenen Mediziner konnten wie Chris nur zusehen, wie das Team des Notarztes mit der Patientin aus dem Saal stürmte.

Nick wollte ihnen folgen. Beamte der Kriminalpolizei traten ein und stießen ihn unsanft in den Saal zurück. Fluchend stand er bald wieder am VIP-Tisch. Sonst sprach niemand ein Wort. Mona, vom Schock gezeichnet, versuchte, ihn mit Gesten zu beruhigen. Chris hielt Nick im letzten Moment zurück, als er sich drohend vor der Inspektorin der Kripo aufbaute.

»Beruhige dich, sie müssen das tun.«

Wie erwartet, bestand die Befragung im Wesentlichen aus der Aufnahme der Personalien. Niemand hatte etwas Verdächtiges bemerkt, und niemand wagte mehr, einen Teller oder ein Glas anzufassen.

»Vergiftung?«, fragte sie Jamie, obwohl sie keines der typischen Symptome gesehen hatte.

Er schüttelte denn auch den Kopf, in Zeitlupe, abwesend, ungläubig auf den Schauplatz des zweiten Aktes des Dramas vom Billrothhaus blickend.

»Ein allergischer Schock vielleicht«, sagte er auf dem Rückweg ins Hotel. »Allerdings …«

Er dachte den Gedanken nicht laut zu Ende, und sie wollte nicht schon wieder als Ermittlerin auftreten. Beim Aufzug blickten sie sich schweigend an, kehrten in neuer Eintracht um und steuerten die Bar an. Der Schock saß zu tief, um jetzt einfach in den Urlaubsmodus zurückzufallen. Das ging nur mit genügend Alkohol.

Die Augen der wenigen Gäste im Halbdunkel klebten am Fernsehbildschirm. Der tragische Vorfall im Belvedere dominierte die News auf allen Kanälen, als hätten Islamisten die Reise zu ihren 72 Jungfrauen im Marmorsaal angetreten.

»Lauter!«, rief ein Gast.

Der ORF berichtete live von der eilig einberufenen Pressekonferenz. Der Zustand von Gesundheitsministerin Dr. Doris Strasser sei nach wie vor sehr kritisch, ließen die Ärzte verlauten. Man ermittle in alle Richtungen. Ein Anschlag könne nicht ausgeschlossen werden. Chris schüttelte den Kopf, während sie das Gesagte für Jamie auf Englisch zusammenfasste.

»Attempted murder, bullshit!«, blieb sein einziger Kommentar.

Sie fand die Vorstellung unter den gegebenen Umständen ebenso absurd. Die Journalisten begannen, Fragen zu stellen. Einer der Kriminalbeamten, den sie im Belvedere gesehen hatte, erhielt einen Anruf. Nach kurzem Zuhören flüsterte er dem leitenden Staatsanwalt etwas zu, worauf der die Pressekonferenz abrupt abbrach.

»Das bedeutet nichts Gutes«, flüsterte Chris wie zu sich selbst.

Jamie hängte sich ans Telefon. Er versuchte, Nick zu erreichen. Beim dritten Mal klappte es. Obwohl sie nur die Hälfte des Gesprächs mitbekam, wusste sie Bescheid, bevor er auflegte.

»Sie ist vor zehn Minuten verstorben«, bestätigte er.

Sie hatten Ministerin Strasser erst an diesem Abend kennengelernt, und doch schmerzte die Nachricht, als wäre eine nahe Angehörige von ihnen gegangen. Es war kalt geworden in Wien. Sie rückte näher an ihn heran. Er legte den Arm um sie, ebenso verloren.

»Weiß man schon …«

Er schüttelte den Kopf. »Sie muss obduziert werden. Nick sagt, was ich auch vermute. Die Symptome sind alles andere als eindeutig. Vergiftung schließt er aus, einen anaphylaktischen Schock ebenso. Die Muskelkrämpfe passen überhaupt nicht ins Bild. Im Moment sind wir beide ziemlich ratlos.«

»Wie kann denn so etwas geschehen?«

Er zuckte die Achseln. Nach einer Denkpause sagte er:

»Es war, als befände sie sich plötzlich im Endstadium von ALS, was natürlich vollkommener Unsinn ist – aber die Symptome würden passen.«

»ALS, die Krankheit des Stephen Hawking, nicht wahr?«

Er nickte. »Amyotrophe Lateralsklerose, eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Wie gesagt, unmöglich, denn was wir bei Frau Strasser beobachtet haben, entspräche einer tausendfachen Beschleunigung des Krankheitsverlaufs.«

Chris erbleichte. Unmöglich oder nicht – beschleunigte ALS war genau der Ausdruck, den Haase in seinem letzten Mail verwendet hatte. Der Link vom Geiselnehmer Schröder zu Nicks Klinik Seeblick. Schröders Schwägerin war ein halbes Jahr nach der Behandlung in Luzern einer unbekannten Krankheit erlegen, die man nur mit Symptomen umschreiben konnte: beschleunigte ALS.

Ferdl sorgte sich um den Kleinen. Lorenz besaß mehr Grips als seine ganze Abschlussklasse, Ferdl Gruber inklusive. Warum wollte er nicht einsehen, etwas daraus zu machen? Der Lorenz könnte locker studieren. Jurist wäre ideal, der könnte ihn dann für ein Trinkgeld raushauen, falls ihn die Kieberer doch eines Tages erwischten. Der Lorenz könnte das. Stattdessen stand er den ganzen Tag in seinem improvisierten Atelier und bekleckerte jede erdenkliche, einigermaßen glatte Fläche. Kein Verpackungsmaterial war sicher vor seinem Pinsel und den Spraydosen. Kisten und Schachteln gab es genug, die entsorgt werden müssten nach seinen Streifzügen durch Baumärkte und unbewachte Garagen, in denen Lkws voller Flachbildschirme nur auf Leute wie ihn warteten.

»Ich schnalle nicht, was du dir von der Kleckserei versprichst, Kleiner, echt nicht«, seufzte er frustriert.

»Du sollst mich nicht Kleiner nennen. Ich bin …«

»Sechzehn, ich weiß. Das ist es ja. Du gehörst nicht in dieses Loch. Du gehörst in die Schule und dann an die Uni, verdammt noch mal.«

»Ach ja? Und wer bezahlt mein Studium? Du und deine feinen Freunde? Ihr seids doch eh die Nega.«

»Eben! Willst du unbedingt auch so enden?«

Es war hoffnungslos. Er setzte die Mütze auf und machte sich auf den Weg zur Garage. Zlatko hatte endlich einen Kunden für die Fliesen gefunden, die noch im Lieferwagen lagen.

»Wenn ich wenigstens Leinwand hätte, könnte ich vielleicht ein paar Bilder verkaufen«, rief ihm Lorenz nach.

Er stoppte abrupt, als wäre er gegen die Wand gelaufen. Auf die Idee, jemand könnte das Geschmier kaufen, wäre er im Leben nie gekommen. Aber vielleicht lag der Kleine richtig. Er machte sich jedenfalls eine Gedankennotiz: Leinwand. Leintücher würden bestimmt irgendwo in dieser großen Stadt herumliegen.

An der Abzweigung, wo der Bentley das Graffiti des Kleinen geküsst hatte, stand wieder eine Luxuskarosse, ein Maserati Quattroporte. Er hatte eben angehalten. Im Rückspiegel sah Ferdl den charakteristischen weißen Schopf über den Hosenträgern. Der Galerist war wieder da. Diesmal mit einem Ersatzwagen für den Bentley. Klar, ein Maserati musste es schon sein, mindestens. Noch etwas hatte er dabei, der nette Herr Horvath.

Ferdl trat auf die Bremse, dass die Reifen quietschten. So etwas hatte er lange nicht gesehen, schon gar nicht aus der Nähe. Eine Göttin stieg aus dem Maserati. Dunkelblonde, lange Haarsträhnen umrahmten ein Gesicht, in dem sich eine Enttäuschung spiegelte, die sie wohl erwartet, aber doch nicht erleben zu müssen, gehofft hatte. Ihre Lippen formten ein Lächeln so bittersüß, dass ein Kerl wie Ferdl sie einfach küssen musste. Was spielte es da für eine Rolle, dass sie mindestens zehn Jahre älter war? Er musste aussteigen. Es ging nicht anders.

Sie beachteten ihn erst nicht, zu beschäftigt mit dem Ablichten des Graffitis. Als er sich näherte, hörte er ihre Stimme, das reine Glockenspiel. So also tönte es bei den Göttern.

»Herr Horvath, nicht wahr?«, sagte er, die Augen auf sie gerichtet.

Der Galerist drehte sich verblüfft um. Sein Gesicht hellte sich auf. Die Wangen glühten. Er wandte sich freudig an seine Begleiterin:

»Das ist er, Elli, der Herr, dem ich diese Entdeckung zu verdanken habe.«

»Und den kaputten Bentley«, fügte sie hinzu, Ferdl misstrauisch musternd.

Horvath lachte. »Das habe ich schon selber verbockt.«

Er stellte die Göttin als Magistra Elli Popov vor, Kunsthistorikerin in den Diensten der Galerie Horvath am Theatermuseum, Sie wissen schon … Frau Magistra gab ihm ihr Kärtchen.

»Und mit wem habe ich die Ehre?«

Ferdl wähnte sich in jenem Film, der auf ein grandioses Happy End zusteuerte. Er hatte den Schluss zufällig im Fernsehen gesehen, weil er nach dem Match vergessen hatte, die Kiste abzuschalten und vorübergehend eingepennt war. Auf das Happy End wartend, vergaß er zu antworten.

»Stimmt«, rief Horvath aus. »Ich war an dem Abend so verwirrt, habe ganz vergessen, den Herrn nach seinem Namen zu fragen.«

»Gruber, Ferdl Gruber«, antwortete er abwesend.

Diese Augen waren tiefer als der Ozean. Wie viele arme Kerle da wohl schon eingetaucht und nie mehr gesehen worden waren? Er musste der Nächste sein, unbedingt. Freudig und mit offenen Augen würde er sich ins Verderben stürzen.

»Also, Herr Gruber, Sie wohnen doch in der Gegend«, vermutete sie, »und Sie wissen wirklich nicht, wer dieses Meisterwerk geschaffen hat?«

Was waren Horvaths Worte? Der Künstler sei ein Genie. Lorenz hatte ein Meisterwerk geschaffen. Diesmal kam das Lob aus dem Mund der Kunsthistorikerin, die es wissen musste. Er war sonst nicht der Schnellste, wenn es um wichtige Entscheidungen im Leben ging, aber angesichts dieser göttlichen Übermacht rückte er mit der Wahrheit heraus, der ganzen Wahrheit und nichts als der Wahrheit.

»Ihnen kann ich es ja verraten«, sagte er. »Sie sind vom Fach.«

Damit meinte er sie und nur sie. Das Misstrauen in ihrem Gesicht wich einem erfreuten Lächeln.

»Sie kennen also den Künstler?«

Er nickte. »Sehr gut sogar. Er ist mein Bruder, Lorenz Gruber.«

Schon war das Misstrauen wieder da. Ferdl beeilte sich, die Behauptung zu belegen, indem er von den zahlreichen Entwürfen erzählte, die zu Hause im Atelier herumlagen. Horvath und Elli brauchten sich nur kurz anzusehen, um sich zu verständigen. Sie nickte, er fragte:

 

»Herr Gruber, wäre es allzu vermessen, den Meister Lorenz kennenlernen zu wollen?«

»Also – Meister würde ich ihn nicht unbedingt nennen. Er ist sechzehn.«

»Dann wird der Herr Lorenz wohl jetzt in der Schule sein«, vermutete Elli.

»Leider nicht, Gnä‘ Frau. Er beschäftigt sich halt lieber mit Pinsel und Spraydose als mit Schreibstift und gescheiten Büchern.«

»Wann würde den Herren denn ein Besuch konvenieren?«, fragte Horvath.

Aus Verlegenheit sah Ferdl lange auf seine Uhr, dann in die göttlichen Augen. Schließlich antwortete er, wieder seriöser Geschäftsmann:

»Ich habe noch ein paar dringende Lieferungen zu besorgen, aber ich denke, heute Abend nach sechs ließe sich das einrichten.«

Die beiden sahen ihn schweigend wartend an, bis Elli wieder ihr bittersüßes Lächeln aufsetzte.

»Wo sollen wir uns denn melden?«

»Ach so! Sie müssen wissen, wo wir wohnen. Aber klar doch, natürlich, Entschuldigung die Dame …«

Er gab ihnen die Adresse und beeilte sich, wegzukommen. Bevor er sich in den sicheren Lieferwagen rettete, rief er ohne einen Blick zurück:

»Wir sehen uns um sechs.«

Zlatkos Kunde empfing ihn ohne Begeisterung.

»Wo bleiben Sie denn, Mann! Ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Noch zehn Minuten, und das Geschäft wäre geplatzt.«

Ferdl fehlte die Zeit für lange Diskussionen. Es blieben nur noch vier Stunden, um Wohnung und Atelier für den Besuch vorzubereiten. Verdammt wenig, denn er konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal aufgeräumt hatten. Er stieg kurzerhand wieder in den Wagen mit der Bemerkung:

»Ich kann die Fliesen auch gleich wieder mitnehmen.«

Man muss Prioritäten setzen, hatte er einmal im Fernsehen aufgeschnappt. Panik ergriff den Kunden. Er wedelte mit den sicherlich genau abgezählten Geldscheinen.

»Laden Sie schon aus, Mann!«

Zwanzig Minuten später platzte Ferdl aufgeregt in die alte Fabrik.

»Lorenz!«

Der Kleine stand keine drei Schritte entfernt vor einem neuen Werk. Er fuhr erschrocken herum. Dabei verschmierte der blaue Fleck zum zornigen Strich.

»Siehst du nicht, dass ich arbeite?«, schrie er zurück, dann wandte er sich wieder dem Gemälde zu.

Farbe tropfte auf den Boden, während Lorenz den artistischen Unfall auf dem Karton betrachtete, in dem bis vor Kurzem eine Matratze Marke ›Concord Big Dream‹ gelegen hatte.

»Leckomio! Jetzt schau dir das an. So ist‘s doch viel besser.«

Ferdl bemerkte keinen Unterschied. Sie brauchten jetzt dringend einen Plan, um dieses Chaos in den Griff zu bekommen. Während er sich umsah, sank sein Herz immer tiefer in die Hose.

»Hör zu, Kleiner, wir müssen aufräumen.«

»Sonst geht‘s dir gut? Und nenn mich nicht Kleiner.«

»Halt einfach die Goschn und spitz die Ohren!«

Er bemühte sich redlich, den Grund für seine neue Ordnungsliebe zu erklären. Lorenz‘ Antwort bestand nur aus einer rhetorischen Frage:

»Du checkst es nicht, oder?«

Damit hatte er nicht gerechnet. Lorenz interpretierte sein leeres Gesicht als ein fettes Ja und erklärte ihm:

»Wir Künstler brauchen das kreative Chaos, Ferdl. Wir können einfach nicht in einem sterilen OP arbeiten. Da stellt es uns den Schnauf ab, verstehst?«

»Ach ja, ist das so? Die Herren Künstler brauchen also die dreckigen Unterhosen und böckelnden Strumpferl am Boden für die göttliche Inspiration? Ich sag dir jetzt was. Um sechs wird hier eine Göttin einfahren, um deine inspirierte Kunst zu bewundern, und dann liegt hier nichts anderes mehr herum. Haben wir uns verstanden?«

Die ganz schlimmen Sachen steckten im Wäschekorb, als er den letzten Müllsack in den Hof trug. Zwanzig Minuten. Er betete, sie möge nicht zu früh eintreffen, denn er war noch nicht geduscht. Immerhin sah der Herr Künstler jetzt nicht mehr nur verwahrlost aus, sondern gewollt verwahrlost. Philosophisch bedeutete das einen riesigen Unterschied, den die Elli sicher erkennen würde.

Ferdl knöpfte sich das Hemd zu, als es klopfte. Die Klingel war schon seit Jahren nur noch Kulisse. Hastig spritzte er sich etwas Herbes ins Gesicht, dann rannte er zur Tür.

»Pinsel!«, mahnte er Lorenz unterwegs.

Der Kleine hielt doch sonst stets Pinsel oder Spraydose in der Hand. Warum ausgerechnet jetzt nicht, da es drauf ankam? Er grüßte den Galeristen kurz und höflich, bevor er strahlend Ellis Hand ergriff und sie zum Mund führte, um ein Luftküsschen darauf zu hauchen.

»Küss die Hand, Gnä‘ Frau.«

Die Vorstellung gelang ihm perfekt, als hätte er sie mit der Muttermilch eingesogen. Elli fand das völlig normal. Sie wandte sich sofort dem Kleinen zu, bittersüß, unwiderstehlich – und der Duft! Vornehm und sehr teuer.

»Sie müssen der Künstler sein«, sagte sie, freudig die Hand ausstreckend.

Er wich einen Schritt zurück, ignorierte die Hand und murmelte:

»Lorenz.«

»Er ist etwas scheu Fremden gegenüber«, warf Ferdl eilig ein, während er dem Kleinen einen verstohlenen Tritt ans Schienbein versetzte.

Gleichzeitig durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Stich ins Herz: An alles hatte er gedacht, nur nicht ans Gläschen Sekt wie sonst üblich an Vernissagen. Errötend kramte er in Erinnerungen aus alten Filmen, um die richtige Formulierung zu finden. Schließlich platzte er heraus:

»Ich bin untröstlich, meine Herrschaften! Ich kann Ihnen nicht einmal Sekt anbieten. Alles, was wir im Haus haben, sind ein paar Büchsen Sechzehner-Blech.«

Horvath blühte auf. »Fantastisch, ist schon Jahre her seit meinem letzten Ottakringer. Her mit dem Blech, wenn ich so frei sein darf, Herr Gruber.«

»Wenn Sie vielleicht einen Kaffee hätten«, sagte Elli.

Es klang ein wenig wie die Totenglocke zum letzten Geleit des Ferdl Gruber. Kaffee gab es nicht in der alten Fabrik.

»Aber selbstverständlich, verehrte Frau Magistra.«

»Elli«, korrigierte sie, »und schwarz wie die Nacht bittschön.«

Sie und Horvath wandten sich an den Herrn Künstler. Prioritäten setzen, sagte er sich, verzweifelt nach Ausreden suchend. Er brachte Horvath das Blech. Ein Problem weniger. Da sein Gehirn etwas zu langsam arbeitete an diesem Abend, lächelte er blöd und sagte:

»Der Kaffee kommt gleich, Frau Elli.«

Die beiden verstanden es offenbar, Lorenz in ein ernsthaftes Gespräch unter Kunstsachverständigen zu verwickeln. Ferdl brauchten sie nicht dabei.

Er entfernte sich unauffällig, verließ die Fabrik und rannte die zwei Blocks zur Trafik. Er hatte keine Ahnung, wie Frau Swobodas Kaffee schmeckte, aber es war Kaffee, den er Elli schwer atmend vorsetzte. Sie bedankte sich bittersüß und rührte etwas Zucker hinein. Mit spitzen Lippen kostete sie die schwarze Brühe, um den Becher erschrocken wieder abzusetzen. Es gab ihm einen Stich ins Herz, als hätte er das Gift selbst getrunken.

Elli wandte sich wieder der Kunst zu. Sie diskutierte leise aber angeregt mit Horvath beim Betrachten der Werke des Kleinen. Lorenz hatte sie mehr oder weniger chronologisch aufgereiht. Das ergab schon eine beeindruckende Gesamtschau seiner künstlerischen Entwicklung. Der Meister selbst stand etwas abseits, ein stiller Beobachter mit Karton und Filzstift in der Hand. Elli war offensichtlich genauso hingerissen von den Bildern wie Horvath. Ferdl verstand nicht, was sie sagten, schnappte nur hin und wieder ein Wort auf, das in seinem Wortschatz fehlte. Kaminski oder Kandinsky war so eins. Es klang wie eine geheime Zutat zur Sachertorte.

»Was meinen Sie, wird das was?«, fragte er als Einleitung zum geschäftlichen Teil.

Horvath und Elli tauschten Blicke. Sie verstanden sich scheinbar mittels Gedankenübertragung. Beide nickten. Der Galerist übersetzte für ihn und den Kleinen:

»Diese Bilder zeugen von Kraft und Originalität. Da steckt großes Potenzial drin.«