Das Komplott der Senatoren

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Valletta, Malta

Es war ein Gefühl, als kehrte er nach langer Odyssee in den Schoss der Familie zurück, als Lee seine Kollegin Kiera in der Ankunftshalle des Malta International Airport bei Valletta erblickte. Kiera Gilly war schon seine Kommilitonin an der Uni gewesen und leitete jetzt das zweite Pilotprojekt von Disruptive Technologies auf der Mittelmeerinsel. Erst erkannte er die junge Physikerin kaum wieder, so dramatisch hatte sich ihr Äußeres verwandelt. Als ewiges Mädchen vom Lande mit Zöpfen, Röcken und Pullovern, die nur braun sein durften, flachen Schuhen und einer altmodischen Brille, die ihre zierliche, kleine Gestalt zu erdrücken schien, so hatte er sie in Erinnerung. Man konnte sie sich damals sehr gut in der Enge eines verstaubten Antiquariats vorstellen, keinesfalls in einem Hightech Labor.

Aber der Schein trog. Kiera war einer der brillantesten Köpfe, die er kannte. Nebenbei hatte sie auch noch in theoretischer Physik abgeschlossen, mit einer Arbeit über Quanten-Chromodynamik, als müsste sie irgendwie die Zeit totschlagen. Dieses damals so unscheinbare Genie empfing ihn nun als strahlende Geschäftsfrau in weißer Bluse und weißem Jupe. Die Brille war verschwunden, die strengen Zöpfe hatten sich in einen lockeren Pferdeschwanz verwandelt und die Füße steckten in zierlichen, roten Spangenschuhen, die sie mit Sicherheit fünf Zentimeter größer machten.

»Und darin kannst du laufen?«, war das Intelligenteste, was ihm zur Begrüßung einfiel.

»Charmant wie immer«, lachte sie. »Soll ich dir mit dem Gepäck helfen?«

»Sehr witzig.« Sein Reisegepäck bestand aus einer Plastiktüte mit den wenigen Toilettenartikeln, die er auf dem Flughafen von Kairo gekauft hatte. Den Rest seiner neuen Ausrüstung trug er am Leib. Er drückte ihr lange die Hand und sein Gesicht wurde ernst, als er sagte: »Es tut gut, dich zu sehen, Kiera.«

»Du hast keine Ahnung, welche Sorgen wir uns gemacht haben«, murmelte sie. »Alles O. K. mit dir?« Er nickte lächelnd. Auf dem Weg zum Parkplatz begann er ihr die Geschichte seiner unfreiwilligen Reise zu erzählen.

Halsbrecherisch wie die Bewohner der Insel fuhr Kiera mit ihrem Vauxhall durch die karge, felsige Landschaft, überholte schnelle Oldtimer-Busse genauso wie störende Traktoren. Nur hie und da unterbrach eine Gruppe Pinien die trockene Einöde, sonst bestand alles auf dieser Insel aus Stein, die endlosen Trockenmauern ebenso wie die dicht gedrängten Häuser entlang der Strasse, die geradewegs aus dem gelben Kalk des Bodens zu wachsen schienen. Lee war zum ersten Mal auf Malta und beobachtete fasziniert, wie die gigantische Skulptur der zahlreichen Kuppeln, Türme und Paläste Vallettas wie eine Fata Morgana am Horizont auftauchte.

»Gute Eingebung, erst hierher zu kommen«, bemerkte er.

»Die Stadt? Ja, sie ist absolut einmalig, eigentlich eine einzige monströse Festung. Ich habe so etwas vorher noch nie gesehen. Wenn du die vielen Touristen in kurzen Hosen ignorierst, glaubst du dich in die Zeit der Malteserritter zurückversetzt. Große Teile der Stadt, die Kathedrale, die Wohnhäuser, die engen, steilen Straßen, die endlosen Treppen, die sie hier auch Straßen nennen, alles noch wie zur Zeit der Türkenkriege, trotz der Bomben im zweiten Weltkrieg – sagt jedenfalls Luca«.

»Luca?«

»Luca Sciberras«, beeilte sie sich zu ergänzen. »Ingenieur der maltesischen Wasserwerke, der unser Projekt begleitet.«

»Luca, hmm. Netter Begleiter?«

»Du brauchst nicht so zu grinsen. Gute Beziehungen zu den Behörden sind wichtig. Du wirst ihn übrigens bald kennenlernen.«

»Ich kann es nicht erwarten«, antwortete er wahrheitsgetreu. Wenn dieser Luca der Grund für Kieras totale Veränderung war, lohnte es sich durchaus, den Mann aus der Nähe zu betrachten.

Sie steuerte den Wagen über das blank gescheuerte Kopfsteinpflaster der Battery Street. Die Strasse war so schmal, dass ihn die vier- oder fünfstöckigen Häuser zu beiden Seiten an eine Straßenschlucht in seiner Heimatstadt erinnerten. Wenig später endete die Häuserzeile zu ihrer Rechten und gab einen überwältigenden Panoramablick auf den Grand Harbour frei.

»Fantastisch«, murmelte er beeindruckt.

»Und das direkt vor dem Hotelzimmer«, ergänzte sie trocken und parkte den Wagen vor dem Hotel. »Einfaches Hotel, aber nette Leute und unbezahlbare Aussicht, wie du selbst bemerkt hast. Überdies nahe an den Geschäftszentren.«

»Fantastisch«, wiederholte er und warf ihr einen dankbaren Blick zu. Gewohnt, jedes Detail selbst zu organisieren, schätzte er ihre kleinen Aufmerksamkeiten umso mehr.

»Du sagst es«, spottete sie schmunzelnd. Sie schaute auf die Uhr. »Elf, wir haben noch eine halbe Stunde bis zum Treffen mit Luca. Zeit für ein kurzes Briefing.« Sie setzten sich in eine Ecke der kleinen Eingangshalle und sie klärte ihn über die Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden auf. »Trinkwasser ist wirklich das Problem Nummer eins hier. Es gibt keine Seen und Flüsse auf der Insel. Alles Süßwasser ist entweder Grundwasser oder entsalztes Meerwasser. Wie du weißt, war das einer der Hauptgründe für unser Projekt.«

»Deshalb müssten euch die Behörden doch mit offenen Armen empfangen haben.«

»Ja und nein, das ist eben das Verblüffende. Die etablierte Methode der Entsalzung in Malta ist RO. Es gibt drei große Reverse Osmosis Anlagen in Pembroke, wo wir sind, Cirkewwa und Ghar Lapsi, und diese Leute betrachten uns als lästige Konkurrenz.«

»Da haben sie nicht ganz unrecht.«

»Sicher, aber unglücklicherweise sind sie bestens vernetzt mit den zuständigen Beamten.«

»Und dein Luca ist einer der Guten, wenn ich recht verstehe.« Sie schaute ihn böse an und antwortete unwirsch:

»Er ist nicht mein Luca! Aber ja, er hat verstanden, dass unsere Technologie der RO überlegen ist. Er wird dir die Zusammenhänge besser erklären können.«

»Entschuldige, war nicht so gemeint.« Lee unterdrückte ein zufriedenes Grinsen. Die heftige Reaktion bestätigte ihr Verhältnis zum guten Luca auch ohne weitere Fragen.

»Wir sollten aufbrechen«, sagte sie ungerührt und stand auf.

Die Bridge Bar befand sich gleich um die Ecke buchstäblich auf einer Brücke über der St. Ursula Street. Ein schlanker, junger Bursche mit Pilotenbrille im schwarzen Kraushaar über einem Augenpaar, dem nichts zu entgehen schien, sprang auf, als er sie kommen sah. Mit zwei artigen Küssen begrüßte er Kiera, dann gab er Lee die Hand.

»Freut mich außerordentlich, dass Sie uns besuchen, Dr. O’Sullivan.«

»Ich danke Ihnen, dass Sie Zeit für uns haben. Aber nennen Sie mich einfach Lee, bitte.«

»Gerne, ich bin Luca, wie Ihnen die bezaubernde Lady hier sicher gesagt hat.« Lachend deutete er auf seine Kleidung. »Ich sehe, wir haben denselben Geschmack.« Tatsächlich glichen sich die dunkelblauen Hosen und kurzärmeligen weißen Hemden aufs Haar. Das Eis war gebrochen. Der Mann gefiel ihm umso besser, je länger er ihm während des einfachen Mahls auf der Brücke unter den bunten Holzerkern zuhörte. Er gehörte einer fortschrittlichen Generation an, offen für neue Technologien und besorgt um den Schutz der Umwelt. »Ich gehöre leider noch zur Minderheit im Ministerium, die alte Garde will möglichst nichts verändern. Was sich seit Jahrzehnten bewährt hat, wird auch in Zukunft funktionieren, ist etwa die Philosophie. Die Leute wollen nicht verstehen, dass sich die Welt auch ohne sie verändert.«

»Andererseits sprechen die Fakten doch eine deutliche Sprache«, bemerkte Lee vorsichtig. »Die traditionellen Verfahren, zum Beispiel die RO, benötigen sehr viel Energie …«

»Ganz genau«, unterbrach Luca erregt. »Das ist mein Ansatz. Letztlich kann man die Leute nur mit deutlich reduzierten Kosten beeinflussen, nicht mit ökologischen Argumenten. Weniger Energie heißt weniger Geld ausgeben, das leuchtet jedem ein. Hier auf der Insel bedeutet Energiesparen noch etwas ganz anderes. Die Energie stammt nämlich zu hundert Prozent aus fossilen Brennstoffen wie Kohle. Wenn wir so weitermachen wie bisher, bewegen wir uns in einem Teufelskreis: der Bedarf an entsalztem Meerwasser steigt aus Gründen, die ich Ihnen heute noch zeigen werde. Das braucht mehr Energie, das produziert mehr CO2, was letztlich mehr entsalztes Wasser bedeutet, und so weiter. Die Regierung steht jetzt schon unter massivem Druck, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren. Brüssel hat bereits Sanktionen angedroht.«

»Da kommt unsere neue Technologie wie gerufen, nehme ich an«, lächelte Lee. Der Ingenieur nickte mit ernster Miene und antwortete:

»Was glauben Sie, warum ich mich so für dieses Projekt einsetze?«

Lee hätte ihm schon noch andere Gründe nennen können, sagte aber nur: »Ich kann nur wiederholen, Luca, dass wir von Disruptive Technologies alles daran setzen werden, Sie nicht zu enttäuschen. Wie Sie wissen, stecken wir eine nicht unbeträchtliche Summe an Risikokapital in dieses Unternehmen.«

»Ich unterbreche nur ungern«, lächelte Kiera, »aber sollten wir nicht langsam aufbrechen?« Luca schaute auf die Uhr und stutzte.

»Schon so spät! Natürlich, du hast völlig recht. So gern ich mehr Zeit mit euch verbringen würde, ich muss leider um drei wieder zurück sein. Zum Glück ist es nicht weit zu den Galerien.« Er lachte. »Nichts ist weit weg auf Malta.«

Sie fuhren in Kieras Wagen aus der Stadt nach Westen, dann durch hügeliges Land in südlicher Richtung zu einem abgeschiedenen Dorf namens Siggiewi, dessen Zentrum der prunkvolle Kuppelbau einer kolossalen Kirche beherrschte wie in fast jeder Siedlung auf der Insel. Am Dorfrand führte sie Luca in ein Gebäude der Wasserwerke.

»Der Eingang zu den Ta‘ Kandja Galerien«, sagte er, als sie den Aufzug bestiegen, der sie fast hundert Meter in die Tiefe bringen sollte. Unten erwartete sie ein weit verzweigtes Höhlensystem. Kilometerlange, schnurgerade Kanäle hatte man hier in den roten Fels gehauen. Kanäle, in denen sich das glasklare Grundwasser sammelte. Sie standen an einer Stelle, an der diese sternförmig zusammenliefen. Von hier aus wurde das kostbare Wasser an die Oberfläche gepumpt. »Dort wird es mit Chlor desinfiziert und ins Reservoir nach Qrendi geleitet. Das funktioniert seit Jahrzehnten wunderbar, es gibt nur ein kleines Problem.« Er zog ein Instrument aus der Tasche, nicht unähnlich einem kleinen Fernrohr, bestrich es mit etwas Wasser aus dem Kanal und gab es Lee. Ein Refraktometer, das den Salzgehalt des Wassers anzeigte.

 

»Null Prozent, sauberes Süßwasser«, betätigte Lee. Der Ingenieur nickte.

»Kein Problem, sollte man meinen«, bemerkte er und machte sich an einer dünnen Leitung zu schaffen. Mit wenigen Handgriffen pumpte er etwas Wasser aus der Tiefe des Felsens, strich ein paar Tropfen aufs Refraktometer und gab es wieder seinem Besucher zur Kontrolle.

»Salzwasser!«, rief Lee überrascht. Der Messzeiger stand bei deutlich über zwei Prozent. Er gab Kiera das Gerät, die ebenso erstaunt reagierte.

»Woher stammt dieses Wasser?«, fragte sie verblüfft. Luca antwortete mit bitterem Lächeln:

»Das ist die Qualität des Grundwassers nur zehn Meter unter unseren Füssen, absolut giftig für Menschen, Tiere und Pflanzen.« Seine beiden Besucher schauten sich mit großen Augen an.

»Brackwasser«, murmelte Kiera nachdenklich. »So nahe bei der Grund-

wasserfassung.«

»Das ist noch nicht alles. Wir messen den Salzgehalt bei unseren Quellen regelmäßig und stellen fest, dass der Pegel des Salzwassers steigt.«

»Wie schnell?«, fragte Lee sofort.

»Ein, zwei Zentimeter pro Jahr. Ja, es ist eine ernste Bedrohung für die Grundwasserversorgung. Heute deckt das Grundwasser gut vierzig Prozent des Trinkwasserbedarfs ab. Sechzig Prozent stammt aus Entsalzungsanlagen. Wenn der Trend so weitergeht, und es sieht alles danach aus dank dem Klimawandel, werden wir in Zukunft noch wesentlich mehr entsalztes Wasser benötigen. Es gibt schon jetzt Gegenden, wo die Bauern ihre privaten Brunnen wegen Versalzung nicht mehr benutzen können.«

»Warum freut mich das nicht?«, grinste Lee verlegen. Er verstand jetzt genau, was Luca mit seinem Teufelskreis gemeint hatte.

Der eindrückliche Anschauungsunterricht stimmte sie beide nachdenklich. Sie redeten nicht viel, als sie zum Bauplatz von Kieras Fabrik fuhren, nachdem sie Luca in Valletta abgesetzt hatten. Die Projekte Pembroke und Kochi hatten gleichzeitig gestartet, so war er nicht überrascht, dass Kieras Anlage von ferne wie eine perfekte Kopie des Betriebs in Indien wirkte, doch der Eindruck täuschte. Pembroke war weiter fortgeschritten. Kieras Ionenpumpe produzierte bereits Süßwasser im Testbetrieb, wie ihm seine Kollegin genüsslich vorführte.

»Du siehst, unsere revolutionäre Technologie funktioniert tadellos«, sagte sie mit hörbarem Stolz, als sie vor dem Haupttank standen. »Und das in Sichtweite des alten RO Werks.«

»Hast du etwas anderes erwartet?«

Sie blieb ihm die Antwort schuldig und zuckte nur die Achseln. Nachdem sie eine Weile in Gedanken versunken dem beruhigenden Summen der Maschinen zugehört hatten, ging sie zum Tor und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte ihn in eine Halle, die gleichzeitig Ersatzteillager und Reparaturwerkstätte war.

»Ich denke, das ist der wahre Grund deines Abstechers nach Malta«, spottete sie und zeigte auf eine Palette, wie er sie das letzte Mal unter äußerst widrigen Umständen gesehen hatte.

»Mich laust der Affe!«, rief er verdutzt. Vor ihm stand eine original verpackte Spezialpumpe, wie er sie in Kochi dringend benötigte. »Ihr braucht die nicht?«

»Das war keine sehr intelligente Frage, Lee«, stichelte sie.

»Sie muss sofort nach Kochi.« Sie antwortete nicht, blickte ihn nur auffordernd an, bis er fragte: »Was?«

»Ich warte auf das Zauberwort.«

»Ach so – bitte. Tut mir leid, der Anblick des kostbaren Teils hat mich einigermaßen erschüttert. Ich bin den Pumpen wohl zu lange auf den Fersen gewesen.

»Kein Problem«, grinste sie. »Du bist der Boss, und wir benötigen tatsächlich nur eine der beiden Pumpen im Betrieb. Ich schicke sie dir gerne nach Kochi, aber wir fahren dann ohne Reserve, und das will mir nicht gefallen.«

»Mir auch nicht, aber unter diesen Umständen können wir es durchaus eine gewisse Zeit verantworten.«

Den nächsten Tag hatte er für die administrative Aufarbeitung der Spassky-Affäre reserviert. Er saß den ganzen Tag am Computer in Pembroke, telefonierte stundenlang mit der Transportfirma, der Versicherung, den Behörden in den Staaten und in Indien und hing nebenbei dauernd am Chat mit Ingo und seinen Leuten in Kochi. Am frühen Abend kehrte er todmüde und frustriert ins Hotel zurück. Sein Magen knurrte. Seit dem kargen Frühstück hatte er nichts zwischen den Zähnen gehabt. Matt setzte er sich auf die Terrasse des Restaurants und ließ sich das Tagesmenu bringen, ohne zu wissen, was er bestellte. Das Fleisch hatte einen ungewohnten Geschmack und war mit feinen Knochen durchsetzt. Trotzdem leerte er den Teller mit Heißhunger.

Nach dem Essen entfaltete er den Stadtplan, den er an der Rezeption erhalten hatte, richtete ihn nach seinem Blickwinkel aus und versuchte, der grandiosen Kulisse zu seinen Füßen Namen zuzuordnen. Er überblickte einen großen Teil der natürlichen Bucht des Grand Harbour, des Grossen Hafens, den mächtige, jahrhundertealte Festungsanlagen bewachten. Genau gegenüber ragte das Fort St. Angelo an der Spitze des Städtchens Vittoriosa aus den Fluten, zu beiden Seiten flankiert von den Bastionen Ricasoli und St. Michael auf den Landzungen des Hafens, eine Stein gewordene Armada. Hunderte Schiffe aller Kategorien lagen an den Kais der Buchten zwischen den befestigten Felsen. Unangenehme Erinnerungen, aber auch ein gewisser Stolz, erfüllten ihn, als sein Blick über die lange Reihe der Frachter an den Docks schweifte. Einer plötzlichen Eingebung folgend winkte er den Kellner herbei und fragte nach einem Fernglas.

Die Registrierungen und Flaggen der vordersten Schiffe waren gut zu erkennen durch den Feldstecher. Bedächtig musterte er Pier um Pier, Mole um Mole, ohne ernsthaft zu suchen. Es gab nicht viele Frachter, die der Spassky glichen. Riesige Tanker und Containerschiffe beherrschten das Bild, und die Hüllen der kleineren Mehrzweckfrachter, die er sah, schienen selbst aus dieser Distanz in wesentlich besserer Verfassung zu sein als das, was er in Erinnerung hatte. Bis auf einen Kahn, den er beinahe übersehen hätte, weil er halb verdeckt neben einem Tanker lag. Elektrisiert schwenkte er das Fernglas zurück auf den grauen Bug. Er versuchte vergeblich, die Beschriftung zu lesen, aber die rotbraunen Striemen, die Roststreifen auf der Hülle, ließen seinen Puls höher schlagen. Er sprang erregt auf, rannte die Treppe hinunter zum Empfang und ließ sich ein Taxi rufen. Er sparte sich lange Erklärungen, zeigte dem Fahrer mit dem Fernglas, wo er hin wollte und versprach ihm den doppelten Lohn, wenn er die Strecke rund ums Hafenbecken in Rekordzeit schaffte. Hatte er geglaubt, den maltesischen Fahrstil nach Kieras waghalsigen Manövern zu kennen, musste er jetzt einsehen, dass er sich gründlich getäuscht hatte. Der Taxifahrer verstand seinen Auftrag als sportlichen Wettkampf, bei dem es nur eine Regel gab: gewinnen. Verbissen navigierte er den Mercedes durch die engen Gassen der Stadt, scheute nicht davor zurück, einen unglücklich geparkten Lieferwagen über den Gehsteig zu umfahren und raste nach wenigen Minuten mit seinem konsternierten Fahrgast die Floriana hinunter nach Marsa am Ende der Bucht. Das Taxi tauchte ungebremst in ein verwirrendes Netz schmaler Häuserschluchten ein. Lee versuchte gar nicht erst, sich zu orientieren. Er stemmte sich gegen das Armaturenbrett und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der Höllenritt ein Ende hätte.

»French Creek«, sagte der Fahrer mit breitem Grinsen, als er an den Kais anhielt. Kopfschüttelnd bezahlte ihm Lee den unverschämten Preis.

»Soll ich hier warten, Sir?«

»Nein, danke«, antwortete er schnell. Ihm drehte sich der Magen um beim Gedanken, nochmals in dieses Taxi zu steigen.

Die Anlegestelle des verdächtigen Frachters musste etwas weiter draußen an der Spitze der Landzunge von Senglea sein. Angespannt eilte er dem Kai entlang, versuchte sich das Bild in Erinnerung zu rufen, das er durchs Fernglas gesehen hatte. Hier unten, zwischen haushohen Schiffsrümpfen und Kränen, war eine Orientierung schwieriger als er sich vorgestellt hatte. Aber er war auf dem richtigen Weg. Von weitem sah er den Tanker, neben dem er das gesuchte Schiff vermutete. Freudige Erregung ergriff ihn. Ein Stapel Container versperrte ihm die Sicht. Er begann zu rennen und stoppte abrupt, als er den Liegeplatz des Frachters erreichte. Das Schiff hatte die Taue eingeholt und abgelegt. Wütend und fasziniert zugleich schaute er dem Wendemanöver des Frachters zu, bis er hinter dem Tanker verschwand. Es war nicht die Spassky. Ein anderer Name stand in frischen, leuchtend weißen, kyrillischen Lettern am Bug: ›Го´рский‹, Gorsky. Aber es war dasselbe Schiff, die Muster der Roststreifen und der seltsame Knoten am Buganker ließen keinen Zweifel daran.

Lincoln Park, Chicago

Der Ball flog punktgenau dorthin, wo er nicht hinfliegen sollte. Anna schleuderte das Racket wütend zu Boden. Ihr Squashpartner warf ihr einen besorgten Blick zu, als er auf ihre Seite wechselte.

»Nicht dein Tag heute, was?«

»Ich glaube, es ist besser wenn ich aufhöre. Tut mir leid, Scott.« Schweigend verließen sie den Court. Auf dem Weg zu den Duschen räusperte sich Scott und fragte vorsichtig: »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja – nein, ach lassen wir das.« Scott war eine Generation älter als sie, aber topfit. Er war ihr Mentor in der Redaktion und so etwas wie der persönliche Ratgeber in allen Lebenslagen. Sie hatte schnell Vertrauen zu ihm gefasst, denn er konnte gut zuhören, schwieg lieber, als Müll zu reden wie manch jüngerer Kollege, und wenn er den Mund aufmachte, traf er den Kern des Problems mit traumwandlerischer Sicherheit. Manchmal glaubte sie, er könnte Gedanken lesen. Auch jetzt drang er nicht weiter in sie ein und sagte nur:

»Ich bin nachher noch in der Cafeteria.«

Der Schock des kalten Wassers weckte ihre Widerstandskraft. Sie fühlte sich wieder stark genug, über ihren sehr persönlichen Konflikt zu sprechen. Scott saß am Fenster und nippte an seinem unvermeidlichen Grapefruitsaft, als sie die Cafeteria betrat. Er lächelte ihr aufmunternd zu, und sie setzte sich zu ihm.

»Soll ich dir etwas zu trinken holen?«

»Nein, lass nur, ich mag nichts.« Sie betrachtete ihre Fingernägel eingehend, wusste nicht, wie sie beginnen sollte, während Scott einfach wartete. Sein Schweigen setzte sie mehr als jede Frage unter Druck.

Schließlich sagte sie fast unhörbar: »Lee kommt nächste Woche zurück.«

»Schön, das ist gut.«

»Und ich freue mich gar nicht«, fuhr sie fort, als hätte sie ihn nicht gehört. Scott schien nicht überrascht. Er fragte nur:

»Warum?«

»Ich – weiß es selbst nicht«, murmelte sie in Gedanken versunken. »Es ist, als lese ich von der Reise eines Fremden. Ich nehme sie zur Kenntnis, aber sie berührt mich nicht.«

»Vermisst du ihn?« Typisch Scott. Diese Frage verlangte ein klares Ja oder Nein. Sie ließ keine Ausflüchte zu wie »liebst du ihn?« oder andere Allgemeinplätze. Sie ließ sich lange Zeit mit der Antwort. Was würde sich ändern wenn er wieder in Chicago wohnte? Sicher, sie würden sich ab und zu in einem teuren Restaurant gegenübersitzen, manchmal im Bett landen, aber sonst würde jeder sein Leben weiterführen wie bisher. Hatte sie ihn vermisst? Sie schüttelte den Kopf und sagte mit fester Stimme:

»Nein, wenn ich ehrlich bin, habe ich Lee nicht vermisst.«

»Was meinst du, wie denkt er darüber?«

Sie wusste es nicht. Sie fühlte sich stets zu ihm hingezogen, wenn sie zusammen waren, aber im Grunde kannte sie ihn nur oberflächlich, und das Gleiche galt wohl für ihn. Ihre Seelen hatten sich noch nicht gefunden.

»Wir sind verlobt«, sagte sie traurig.

»Die Gefühle sind wichtiger.«

»Ich weiß, aber – ach ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.« Er nahm ihre Hand und schaute ihr eindringlich in die Augen.

 

»Sag ihm einfach, was du mir gesagt hast«, riet er.

»So einfach ist das nicht«, murmelte sie tonlos, aber sie wusste, dass es ein guter Rat war.

Nach dem misslungenen Training fuhr sie nicht zu ihrem Apartment, sondern gleich nach Lincoln Park, an die exklusive Cleveland Avenue zum Haus ihrer Eltern. Einmal in der Woche trafen sich die Familienmitglieder, die es einrichten konnten, zum Dinner in der mit reichen Ornamenten und Zwiebeltürmchen verzierten viktorianischen Villa der Douglas’. Jedesmal, wenn sie durch den kleinen Vorgarten auf das Haus zuschritt, in dem sie aufgewachsen war, stellten sich die gleichen, widerstrebenden Gefühle ein. Oben der Himmel, das Paradies mit ihrem Zimmer, wo alles stimmte, wo sie sich noch immer sofort zu Hause fühlte, wenn sie es betrat, und unten die kalten, strengen, kaum geschmückten Räume, wo sich das offizielle Leben der Familie des Senators abspielte. Das Erdgeschoss erinnerte eher an das kahle Innere einer calvinistischen Kirche, und das war wohl auch die Absicht des streng presbyterianischen Patriarchen.

Ihre Mutter öffnete die Tür, bevor sie die sechs Stufen der Eingangstreppe erklommen hatte. »Gott sei Dank, dass wenigstens du Zeit hast«, rief sie erfreut.

»Sind wir allein?«

»Ja, Vater war kurz da, musste aber gleich wieder weg. Irgend ein Geschäftsessen im Lincoln Park.« Der Senator hielt seine Sitzungen mit Vorliebe im nahen Lincoln Park Jachtklub ab, wenn er in der Stadt war, nicht selten verbunden mit einer ausgedehnten Bootsfahrt auf dem Michigansee. Anna umarmte ihre Mutter und sie gingen ins Haus. Täuschte sie sich, oder registrierte ihre empfindliche Nase einen feinen Geruch nach Alkohol? Sollte die alte Krankheit wieder ausgebrochen sein? Sie blieb stehen und schaute ihre Mutter besorgt an.

»Was ist los?«

»Ma, hast du getrunken?«

Myra wandte sich unwirsch ab und ging in die Küche. »Dummes Zeug, ich habe nur den Wein probiert«, sagte sie, ohne sie anzusehen.

»Aber – das sollst du doch nicht. Du weiß, wie …«

»Willst du dich mit mir streiten oder hilfst du mir in der Küche?« Sie gab auf und schwieg. Streit mit der Mutter war so ziemlich das Letzte, was sie jetzt brauchte. Nachdem sie den Tisch gedeckt hatte, bemerkte sie beiläufig:

»Dad ist sehr oft abwesend, nicht wahr?«

»Ich sehe ihn jeden Sonntag in der Kirche«, antwortete ihre Mutter mit einem bitteren Lächeln. Anna unterdrückte eine Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Sie aßen schweigend. Die Fragen blieben unausgesprochen, bis Myra zögernd feststellte:

»Du bist so still, Liebes. Geht es dir gut?«

Anna schreckte aus ihren Gedanken auf, lächelte beruhigend und antwortete: »Ja, alles in Ordnung. Es geht mir gut, ich bin nur etwas müde.« Sie wollte ihre Mutter nicht mit ihrem Entschluss belasten. Sie würde noch früh genug erfahren, dass die Hochzeit ihrer ältesten Tochter ins Wasser fiele. Sie wusste nur immer noch nicht, wie sie es Lee beibringen sollte.

Business District, Washington D

Allmählich wurde es Marion zu bunt. Warum musste sich der naive Schönling vom One To One ausgerechnet in sie vergucken? Er war viel zu jung für sie, was sie so natürlich niemals äußern würde, und überhaupt hatte sie weder Lust noch Zeit, ihren gescheiterten Affären gleich noch eine anzuhängen. Sie war ein Arbeitstier, eine Sklavin der vornehmen Senior Partner von Garrah, McKenzie, getrieben von der zweifelhaften Hoffnung, eines Tages ebenso bedeutend und stinkreich zu werden wie ihr Boss Peter. Der gute Dennis im Fitnesscenter hatte ja keine Ahnung vom wirklichen Leben in Washingtons Business District. Normale Leute machten sich um sieben Uhr abends nach dem Training auf den Heimweg, aber ihr Leben verlief alles andere als normal. Die Sporttasche in der einen, den heißen Starbucks-Becher in der anderen Hand, eilte sie die zwei Blocks bis zur achtzehnten Strasse zu ihrem Büroturm.

Sie streifte die Kiste neben ihrem Pult am Fenster mit einem bösen Blick. Am liebsten hätte sie den Inhalt unbesehen dorthin gekippt, wo er ihrer Meinung nach hingehörte, in den Abfalleimer. Aber der selige Senator O’Sullivan war stets ein guter Kunde der Kanzlei gewesen und Peter wollte, dass es auch mit seinem Sohn und Erben so weiterging. Das Vollzeitpensum ihrer anderen Dossiers änderte nichts daran, dass sie diese Aufräumarbeiten, dieses Stochern im Nachlass des Senators nebenbei auch noch erledigen durfte. So stand diese blöde Kiste nun seit Wochen neben ihrem Schreibtisch und wartete jeden Abend darauf, dass sie sich ihrer liebevoll annahm. Sie schaute hinaus zu den Fenstern des Geschäftshauses jenseits der Strasse und schmunzelte. Ihr unbekannter Leidensgenosse genau gegenüber saß an seinem Arbeitsplatz. Wie sie würde er wohl auch heute Nacht als Letzter das Licht auf der neunten Etage löschen.

Mit einem Seufzer warf sie den leeren Becher in den Papierkorb und schloss die Kiste auf. Die finanziellen Angelegenheiten des Verblichenen waren wesentlich komplexer als erwartet. Sie überblickte die Verpflichtungen und Außenstände noch immer nicht vollständig, und es gab Zahlungen, die dem Privatkonto des Senators jedes Quartal gutgeschrieben wurden, deren Ursprung völlig im Dunkeln lag. Sie hatte sich vorgenommen, diesen Geldflüssen heute nachzugehen. Einmal musste sie wohl in den sauren Apfel beißen. Als sie den Ordner mit den Kontoauszügen herausnehmen wollte, fiel ihr Blick auf die beiden Handys des Senators, und ihre Miene hellte sich auf. In den gespeicherten Daten der Telefone zu stöbern machte entschieden mehr Spaß, als endlose Zahlenreihen zu studieren. Sie schaltete das erste Gerät ein. Im Adressbuch standen im wesentlichen Namen und Nummern von Kongressabgeordneten, ihren Büros und die Daten von Firmen, mehrheitlich Energiekonzerne und Kraftwerkbetreiber. Big Coal in Arizona war prominent vertreten, wie sie feststellte. Es war O’Sullivans Geschäftstelefon, und sie fand auch in den Anruflisten keine Hinweise auf die Herkunft der Zahlungen. Belanglos, sie legte es weg, schaltete das zweite Telefon ein und erlebte gleich die erste Überraschung, als das Display aufleuchtete. $10.55 Gesprächsreserve zeigte es an. Der ehrenwerte Senator benutzte ein anonymes prepaid Handy. Die Sache begann interessanter zu werden. Aus dem Augenwinkel sah sie das Licht der Schreibtischlampe gegenüber aufblitzen. Sie schaute auf. Da stand er am Fenster, ihr unbekannter, stummer Gesprächspartner und winkte. Lachend grüsste sie mit beiden Armen wedelnd zurück, bevor sie sich das vielversprechende Telefon vornahm.

Wieder tauchte der Name seines Senatskollegen Neill Douglas in der Adressliste auf. Sie verglich die Telefonnummer automatisch mit der Nummer im anderen Apparat. Volltreffer!, dachte sie grimmig. Auch der noble Herr Douglas aus Chicago benutzte verschiedene Nummern. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass auch er ein anonymes Handy besaß. Zu gerne hätte sie erfahren, welche geheimen Händel auf diesem Kanal abgewickelt wurden. Die Liste der Namen war nicht lang. Neben der Festnetznummer seines Hauses in Potomac, die er unter ›me‹ gespeichert hatte, fielen ihr ein paar Namenskürzel unter einer unbekannten Vorwahl auf, alles Festnetznummern. Sie tippte eine davon in die Suchmaschine. Kein Treffer, die Nummer war unbekannt. Sie versuchte es mit der nächsten, mit dem gleichen Resultat. Keine der Nummern war registriert. Mehr als interessant, die Sache begann schon ein wenig zu riechen. Der einzige weitere Name im Adressbuch, der kein Kürzel zu sein schien, war ›Jade‹. Keine Adresse, einfach Jade und eine Mobiltelefonnummer. Kurz entschlossen rief sie an.

»VIP Secretaries, womit können wir Ihnen dienen?«, hauchte eine laszive Frauenstimme. Vor Schreck fiel ihr das Telefon aus der Hand. Hastig unterbrach sie die Verbindung und schüttelte sich. Ihr war, als hätte sie den heißen Atem der Frau im Nacken gespürt. Die Bedeutung dieser Nummer war zumindest jetzt klar. Machtmenschen wie der alte Senator ließen auch in dieser Hinsicht nichts anbrennen. Warum hatte sie nicht daran gedacht? Neugierig rief sie die Liste der letzten Anrufe ab und verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen, als sie die Nummer sah, die der gute Mann zuletzt gewählt hatte: Jade. »Wenigstens glücklich gestorben«, knurrte sie giftig. Sie blätterte aufmerksam durch die anderen Listen. Mehrere Anrufe waren registriert, die der Senator nicht, oder nicht mehr, entgegengenommen hatte. Eines der seltsamen Kürzel, ›DAZ‹, tauchte dreimal auf, die Geheimnummer Neills gar viermal kurz nacheinander. Sie hatte schon den Rückruf zu DAZ gestartet, als sie hastig abbrach, um erst die Mailbox abzufragen.