Das Komplott der Senatoren

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Er gab seinem Freund Ingo ein Zeichen. Ingemar Lohwasser, ein Deutscher, Elektroingenieur, der sein ganzes Studium in den Staaten absolviert hatte, sollte die Leitung des laufenden Betriebs nach der Bauphase übernehmen. Der bärtige blonde Hüne freute sich mehr als alle anderen auf den Tag, an dem es endlich losginge. Mit seiner Baritonstimme gab er die neusten Änderungen der Schichtplanung bekannt, nicht ohne sein ceterum censeo hinzuzufügen:

»Ich möchte nur nochmals darauf hinweisen, dass ein Betrieb ohne Reserve-Transformatoren nicht zu empfehlen ist.«

»Auch du bist erhört worden, Ingo«, lachte Lee. »Der Frachter wird zwei Trafos liefern.«

»Das glaube ich erst, wenn ich sie sehe«, brummte der Ingenieur, den man sich eher als Alleinsegler denn als Betriebsleiter vorstellen konnte. Lee schmunzelte nur. Er kannte den Kauz gut und vertraute ihm hundertprozentig.

Eine Stunde später saß er eingepfercht neben Sayed auf dem Rücksitz einer Autorikscha im Stau. Die dreirädrigen Blechkästen waren die vernünftigsten Transportmittel in der Stadt, aber auch sie blieben häufig im Verkehrschaos stecken. Sie waren unterwegs zum Frachthafen. Mit den nötigen Papieren in der Tasche, wollte er die Löschung und das Umladen der Ware auf den Laster selbst überwachen. Nachdem sie die Neue Brücke nach Willingdon Island überquert hatten, rollte der Verkehr flüssiger, und der Fahrer setzte sie nach wenigen Minuten vor dem imposanten Tempel der Hafenverwaltung ab. ›Ernakulam Q6‹ war der Kai, an dem ihr Frachter angedockt hatte, nur ein paar hundert Meter vom Büroturm entfernt. Ein Mehrzweckfrachter sollte es sein, ein Stückgutschiff mittlerer Größe. Sie brauchten nicht lange zu suchen. Eingeklemmt zwischen zwei unendlich langen, modernen Containerschiffen lag ein alter Rosthaufen am Kai, jedenfalls war das Lees erster Eindruck. Aber es war ihr Schiff. ›Спа´сский‹ stand in großen, kyrillischen Lettern am Bug, die Spassky mit russischer Mannschaft unter panamaischer Flagge, die ihre Transportfirma wohl einzig und allein angeheuert hatte, um Kosten zu sparen. Die Wartung des Kahns konnte jedenfalls nicht viel Geld verschlingen, wie die rotbraunen Streifen auf der schmutziggrauen Hülle bestätigten. Das Schiff bestand im Wesentlichen aus einem fünf- oder sechsstöckigen Deckhaus, mehreren Ladeluken und zwei hohen Masten mit überraschend gebrechlich wirkenden, langen Ladebäumen. Einer dieser Deckskräne hatte gerade seine Palette mit folienverpackten Kisten vor dem Gabelstapler abgesetzt. Leuchtend blau lachten ihnen die Buchstaben DT entgegen, das vertraute Logo ihrer Firma. Lee warf seinem Begleiter einen triumphierenden Blick zu und vergaß den zweifelhaften Zustand des Schiffs. Auf Sayeds Rat hatten sie eine spezialisierte Mannschaft mit der Löschung beauftragt, und die Leute schienen ihr Handwerk zu verstehen. Sie arbeiteten schnell und mit der nötigen Vorsicht.

»Was wohl die Typen dort hinten im Schild führen?«, wunderte sich Lee. Eine Gruppe Hafenarbeiter lehnte gelangweilt an einem Schuppen und beobachtete das emsige Treiben. Sayed grinste verlegen. Er zögerte mit der Antwort.

»Nokku kooli«, sagte er schließlich wenig hilfreich. Lee sah ihn fragend an. »Bezahlte Zuschauer. Es sind lokale Hafenarbeiter, die wir bezahlen müssen, weil fremde Männer ihren Job machen.« Lee konnte nicht glauben, was er hörte.

»Du behauptest allen Ernstes, ich bezahle diese Kerle fürs Zuschauen?« Sein Kollege nickte und beeilte sich zu versichern:

»Diese Zuschauer-Gebühr ist illegal, aber hier war es immer so. Glaub mir, es ist das Beste, den bescheidenen Tribut einfach zu entrichten.«

»Unfassbar«, brummte Lee einigermaßen erschüttert. Mit seiner Auffassung von freier Marktwirtschaft war dieses Gebaren nicht vereinbar, und das ärgerte ihn nachhaltig. Sie gingen zum Lastwagen, auf dessen Ladefläche die DT-Paletten jetzt standen. Der Chauffeur zwängte sich mit der Ladeliste zwischen den Stapeln hindurch und prüfte die Etiketten. »Alles da?«, fragte Lee. Er begrüßte den Fahrer und schwang sich zu ihm hinauf. Nach dem Gesicht des Mannes zu urteilen, war es alles andere als eine rhetorische Frage.

Der Fahrer schüttelte den Kopf und schimpfte: »Einmal möchte ich erleben, dass diese elenden Listen stimmen.« Er zeigte Lee das Papier, auf dem er alle Posten abgehakt hatte, außer einem. Als Lee sah, was die fehlende Palette enthielt, erbleichte er.

»Die Liste stimmt schon«, murmelte er, »aber die Lieferung offenbar nicht. Sind Sie sicher, dass alles abgeladen ist?« Der Fahrer nickte.

»Das behauptet die Crew.«

»Das kann nicht wahr sein«, sagte er tonlos und begann, selbst nochmals die ganze Ladung zu kontrollieren.

»Was ist los?«, rief Sayed beunruhigt.

»Die Pumpen fehlen«, schrie Lee zwischen den Paletten.

»Was?«

Die Ladeliste stimmte.

Er beugte sich zu Sayed hinunter und reichte ihm das Dokument.

»Die verdammten Pumpen fehlen«, knurrte er wütend. Das musste ein Irrtum sein. Er wusste mit absoluter Sicherheit, dass die Pumpen von der Transportfirma in Chicago abgeholt worden waren. Sie mussten einfach da sein. Eine Verwechslung? Die Spassky hatte eine Menge anderer Güter entladen, die teils noch auf dem Kai lagerten, teils bereits in anderen Lastwagen wer weiß wohin unterwegs waren. »Wir müssen mit dem Captain reden«, sagte er unvermittelt und sprang vom Wagen.

Um ganz sicher zu gehen, kontrollierten sie in aller Eile die Etiketten der noch nicht abgeholten Güter am Kai Q6, bevor sie sich zum Schiff wandten. Sie hatten das Fallreep der Spassky noch nicht erreicht, als sich ihnen vier Männer mit versteinerten Mienen in den Weg stellten. Soweit Lee es beurteilen konnte, waren es Einheimische, die nicht danach aussahen, als ließen sie mit sich spaßen.

»Stopp, was wollt ihr?«, schnauzte sie einer an.

»Zum Captain. Wir wollen zum Captain«, knurrte Lee streitlustig zurück, »und wer seid ihr?« Der Anführer der Viererbande machte einen drohenden Schritt auf sie zu.

»Der Captain ist nicht da. Ihr habt hier nichts zu suchen, verzieht euch!« Das war zuviel für ihn. Trotzig trat er näher, bereit, dem anderen jederzeit an die Gurgel zu springen, doch Sayed zerrte ihn plötzlich am Hemdsärmel zurück und flüsterte aufgeregt:

»Goondas!«

»Goon – was?« Sayed deutete verstohlen auf die Männer, aber Lee hatte die Messer in ihren Händen längst bemerkt. »Komm, weg hier.« Widerstrebend folgte er seinem Mitarbeiter. Kaum waren sie außer Hörweite, klärte ihn Sayed auf. Als Goondas bezeichnete man hier Mitglieder krimineller Banden, und deren gab es viele in dieser Gegend. Selbstredend gab es Gesetzte gegen das Bandenwesen, aber die nützten nicht viel, solange sie nur auf Papier standen. Es sah ganz danach aus, dass jemand mit Gewalt verhindern wollte, dass er den Frachter betrat, aber weshalb?

Sayed musste sein ganzes diplomatisches Geschick einsetzen, um ihn vor einem Ausraster im Büro der Hafenpolizei zu bewahren. »Es ist das gute Recht des Kapitäns, jemanden nicht aufs Schiff zu lassen«, betonten die Beamten. Das wusste er auch, aber sein gutes Recht war es, Auskunft über seine teuer bezahlte und dringend benötigte Ware zu erhalten. Die nervenaufreibende Odyssee in der Hafenverwaltung brach er nach einer Stunde selbst ab. Mit konstanter Boshaftigkeit endeten sämtliche Vorstöße stets mit dem Hinweis auf die Transportfirma und die Versicherung. Allmählich begann er zu glauben, dass die für das Projekt lebenswichtigen Pumpen tatsächlich nicht angekommen waren. Eine Katastrophe, denn sie hatten keinen Plan B. Chicago würde er erst in ein paar Stunden anrufen können. Alles hatte sich gegen ihn verschworen.

Sie fuhren wortlos zur Fabrik zurück. Ihm wurde übel beim Gedanken, das Projekt für unbestimmte Zeit auf Eis legen zu müssen.

Die Krisensitzung mit seinen Teamleitern förderte wenigstens einen kleinen Hoffnungsschimmer zutage. Wenn sie die alten Pumpen in Reihe schalteten, könnte die Förderhöhe überwunden werden, aber sie brauchten zwei solche Konstruktionen. Das hieß für Sayeds Männer, nochmals zwei Ersatzpumpen, Ventile und Röhren zu organisieren. Trotzdem saß der Schock tief, war die Stimmung unter den Leuten bedrückt, denn diese Alternative bedeutete Zeitverlust und beträchtliche Mehrkosten.

An diesem Abend hatte keiner Lust auf ein gemeinsames Essen, das sonst zum Tag gehörte, wie das Schrillen des Weckers am frühen Morgen. Um acht Uhr rief Lee die Transportfirma in Chicago an. Die freundliche Sachbearbeiterin bestätigte ihm nach kurzer Suche, was er im Grunde genommen schon wusste. Das Material hatte die USA auf diesem Schiff verlassen, daran gab es keinen Zweifel. Resigniert nahm er zur Kenntnis, dass die Versicherung wenigstens einen Teil des Schadens bezahlen würde. Die Sache stank zum Himmel. Mit dieser Spassky stimmte etwas ganz und gar nicht. Er kannte sich selbst gut genug, dass er gar nicht erst versuchte, die Geschichte zu verdrängen. Ohne zu wissen, was los war, fände er keine Ruhe mehr. Wenn sich die offiziellen Stellen blind und taub stellten, musste er die Sache selbst in die Hand nehmen.

Ein paar Minuten später saß er wieder im Auto und ließ sich, mit einer Taschenlampe bewaffnet, zum Hafen fahren. Diesmal schlich er sich vorsichtig an den Frachter heran. Der Kai lag verlassen im Dunkeln. Auf dem Schiff brannten nur die Positionslichter, und einige Fenster des Deckhauses waren erleuchtet. Er blieb stehen, horchte, schaute sich angestrengt nach allen Seiten um, dann näherte er sich dem Fallreep. Kein Mensch war zu sehen, nur das gleichmäßige Plätschern des Wassers und das verhaltene Brummen der Generatoren waren zu hören. Er setzte einen Fuß auf die Treppe. Das Metall ächzte leise und er hielt erschreckt inne. Als alles ruhig blieb, wagte er den nächsten Schritt. Unendlich langsam stieg er die Treppe entlang der Schiffshülle hinauf. Wieder horchte er angestrengt, bevor er einen Blick aufs Deck wagte. Schwarz und verlassen lag die Ladeluke vor ihm und ein erleichtertes Grinsen huschte über sein Gesicht, denn trotz der Dunkelheit konnte er deutlich erkennen, dass sie noch offen war. Er schwang sich über die Reling, als ihn plötzlich ein heller Lichtstrahl traf. Eine Tür am Deckhaus flog auf und Stimmen ertönten. Blitzschnell sprang er aufs Fallreep zurück und kauerte sich in der Dunkelheit an die Schiffshülle. Niemand rief nach ihm. Gott sei Dank, sie hatten ihn nicht gesehen. Schon atmete er auf, doch kurz danach näherten sich schwere Schritte. Wenn das die verfluchten Goondas waren, hatte er ganz schlechte Karten. Seine Muskeln spannten sich. Mit jeder Faser seines Körpers bereitete er sich auf den unvermeidlichen Angriff vor. Das dumpfe Geräusch der Schritte war jetzt unmittelbar über seinem Kopf, aber es verstummte nicht wie erwartet. Der Unbekannte ging weiter. Ein Matrose vielleicht, der seine gewohnte Runde machte. Erst als er ihn nicht mehr hörte, wagte sich Lee aus seinem Versteck. Noch vorsichtiger als bisher huschte er, jede Deckung ausnützend, zur Luke und glitt geräuschlos wie eine Schlange die eiserne Leiter hinunter in den nachtschwarzen Laderaum.

 

Er verkroch sich in die hinterste Ecke, setzte sich auf den rauen Holzboden und lauschte. Eine Weile hockte er bewegungslos im Dunkeln, bevor er es wagte, die Lampe einzuschalten. Dann begann er seine Suche. Auf den ersten Blick fiel ihm auf, dass der Laderaum keineswegs leer war, und er schöpfte wieder Hoffnung. Vielleicht fand er die vermisste Palette doch noch auf diesem verhexten Frachter. Er wollte sich systematisch an den Wänden entlang arbeiten und anschließend gegen die Mitte der riesigen Ladeluke vordringen. Aber wo sollte er beginnen? Der Lichtkegel seiner Lampe schweifte langsam durch den Raum, bis er an einer leer geräumten Stelle stehen blieb. Dort hatten wohl die übrigen DT-Paletten gestanden. Aufgeregt sprang er auf die Lücke zu. Zu spät sah er den Stahlträger, der hinter einem mannshohen Stapel Kisten den Weg versperrte. Mit voller Wucht prallte seine Stirn gegen das Metall. Er ging lautlos zu Boden, nur der dumpfe Aufprall auf den Planken war zu hören.

Lee hörte und spürte nichts, als das Fallreep hochgezogen, die Taue eingeholt, die Dieselmotoren angelassen wurden und die Spassky mitten in der Nacht in See stach.

Spassky

Das aufdringliche Piepsen wollte nicht aufhören, genauso wie der unerträgliche Druck in seinem Kopf. Das Geräusch schien näher zu kommen, wurde lauter. Jeder Ton versetzte ihm einen neuen Stich ins Gehirn. Ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, brach das Piepsen ab, doch nach einer Weile begann es von neuem. Leise zuerst, dann immer lauter bis zur Unerträglichkeit. Lee schlug die Augen auf und starrte verwirrt in die Finsternis. Endlich realisierte er, woher das schmerzhafte Geräusch kam: sein Handy weckte ihn. Sechs Uhr früh, Kochi Time. Er setzte sich abrupt auf und fiel gleich wieder hin, als bestünde sein Kopf aus Blei. Stöhnend krümmte er sich, hielt sich den Schädel, versuchte sich zu erinnern. Seine Stirn glühte, die Schläfen pochten wie ein Zweitakter, er atmete flach und schnell, glaubte zu ersticken. Ihm war speiübel und gleichzeitig fühlte er sich seltsam abgehoben, berauscht, als hätte er einen besonders krassen Joint geraucht. Er versuchte aufzustehen, doch seine Knie knickten wieder ein. Mühsam setzte er sich auf und begann die gefühllosen Beine zu massieren.

Wie von fern hörte er das Stampfen der Schiffsdiesel, da traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Die Spassky war in See gestochen, und er saß kraftlos als blinder Passagier im verschlossenen Laderaum. Nach seinem Handy zu urteilen konnten sie schon neun Stunden unterwegs und somit dreihundert oder mehr Kilometer von der Küste entfernt sein. Er war mit größter Wahrscheinlichkeit auf hoher See, auf dem Kahn einer Mannschaft, der er keine Sekunde über den Weg traute. Und es gab keine Möglichkeit, mit seinen Leuten zu kommunizieren. Eines Tages wirst du dich gründlich in die Scheiße reiten, hatte ihm Anna einmal wütend ins Gesicht geschleudert. Es sah ganz danach aus, als wäre dieser Tag jetzt gekommen.

Die Luft war zum Schneiden. Es stank nach Dieselöl und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Zudem wirkte der halb leere Frachtraum wie ein gigantischer Resonanzkörper, der den Lärm der stampfenden Motoren teuflisch verstärkte. Sein Kopf drohte zu platzen. Er musste so schnell wie möglich hinaus aus diesem Loch, wollte er nicht ersticken. Er tastete nach der Taschenlampe und rappelte sich mühsam auf. Der Lichtstrahl fiel auf die leere Stelle, die ihm vor seinem Unfall aufgefallen war. Dort hatte seine Ware gelagert, und dorthin drängte es ihn jetzt wieder, auch wenn er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Schwer atmend schleppte er sich zwischen den Stapeln hindurch, bis er schließlich jenen Bereich überblickte. Langsam wanderte der Lichtstrahl über die verbliebene Ladung, ohne dass ihm etwas auffiel. Enttäuscht wollte er umkehren, als das Licht auf eine Palette fiel, die er übersehen hatte, obwohl sie gleich neben ihm stand. Wie vom Blitz getroffen zuckte er zurück. Er richtete den zitternden Lichtkegel nochmals auf die Palette. DT stand in großen Lettern auf der Verpackung. Er hatte seine Pumpen gefunden.

Die Freude über die Entdeckung währte nicht lange. Er spürte, wie er von Minute zu Minute schwächer und schläfriger wurde. Ein böser Verdacht keimte in ihm auf: Kohlenmonoxid, CO. Die Atmosphäre hier unten könnte mit CO vergiftet sein. Er musste an die frische Luft, sonst war er verloren. Vielleicht hatte ihm der Weckruf des Handys das Leben gerettet. Mit eisernem Willen zog er sich die senkrechte Leiter hinauf zur Einstiegsluke. Die Kraft seiner Arme reichte nicht mehr, um den Deckel anzuheben. Erst als er sich mit den Schultern dagegen stemmte, konnte er ihn ein Stück weit anheben. Kühle Seeluft füllte seine Lungen, und er fühlte sich augenblicklich besser. Lange hing er in verkrampfter Haltung an der Leiter, den schweren Metalldeckel auf dem Rücken, die Nase im rettenden Luftstrom. Sein Kopf wurde klarer, die Schläfrigkeit wich allmählich und seine Muskeln begannen wieder normal zu funktionieren. Er drückte den Deckel ganz auf, kroch aus der tödlichen Falle, legte sich flach aufs Deck, schloss die Augen und horchte. Hie und da ächzte Metall, unterbrach der Schlag eines Taus an den Mast das gleichmäßige Brummen der Motoren, das rhythmische Rauschen der Wellen. Der Boden vibrierte leise und der Fahrtwind pfiff um die Luken, aber Stimmen waren keine zu hören.

Er schlug die Augen auf und erhob sich. Vorsichtig, jeden Sichtschutz nutzend, schlich er zum Deckhaus. Hier an der Wand war er von der Brücke aus nicht zu sehen. Als er an die Reling trat, trafen ihn die ersten Sonnenstrahlen. Die Spassky fuhr mit voller Kraft genau in die Gegenrichtung, nach Westen. Wie er befürchtet hatte, mussten sie sich mitten im Arabischen Meer befinden, auf Kurs zum Golf von Aden.

Was sollte er tun? Je länger er darüber nachdachte, desto aussichtsloser erschien ihm seine Lage. Blinder Passagier auf offener See, unterwegs in eine Gegend, die er nur dem Namen nach kannte, auf einem Frachter mit Spitzbuben, die seine Ware gestohlen hatten. Saboteure waren sie, und er wagte sich nicht auszumalen, wozu sie sonst noch fähig waren. Wie lange würde die Überfahrt dauern? Welcher Hafen war das nächste Ziel der Spassky? Seine Geografiekenntnisse über diese Weltgegend waren mehr als mangelhaft. Er hatte keine Ahnung, wie lange er auf diesem Kahn ausharren musste, bis er mit Hilfe rechnen konnte, zwei Tage, eine Woche? Aber eines wusste er genau: der Mannschaft war nicht zu trauen. Es blieb nichts anderes übrig, als sich zu verbergen, bis es eine Chance gab, zu türmen oder wenigstens jemanden anzurufen. Er verfluchte seine Hartnäckigkeit innerlich, der er diese ausweglose Lage verdankte. Noch mehr ärgerte ihn, dass Anna Recht behielt.

Die Strategie war also, möglichst lange unentdeckt zu bleiben, aber wie sollte er sie umsetzen? Auf dem Deck konnte er sich nicht lange ungesehen herumtreiben, zu gefährlich. Die beste Lösung schien ihm eine leere Mannschaftskabine, sofern so etwas existierte, möglichst in der Nähe der Kombüse oder Vorratskammer. Er brauchte Wasser, Nahrung und irgendwann müsste er ein paar Stunden ungestört schlafen können.

Er lief an der Wand des Deckhauses entlang zur Tür. Als sich nichts regte, öffnete er sie einen Spalt und warf einen vorsichtigen Blick ins Innere. Ein leerer, dunkler Korridor lag vor ihm. Er schlüpfte hinein und wollte die Tür hinter sich zuziehen, als er plötzlich Schritte hörte. Oberhalb der Treppe erschienen die schweren Schuhe eines Mannes, der ihn im nächsten Augenblick bemerken musste. Lee blieb keine Zeit mehr, zur Tür hinaus zu fliehen. Mit einem Sprung rettete er sich in einen dunklen Seitengang, der von der Treppe wegführte, aber der Matrose musste die Bewegung gesehen haben. Er rief etwas Unverständliches, das ziemlich unwirsch klang. Russisch, vermutete Lee, dem nichts Besseres einfiel, als sich möglichst klein zu machen. Er beugte sich vornüber, als suchte er etwas am Boden und streckte dem Fremden seinen Allerwertesten entgegen. Wieder sprach der Mann zu seinem Hintern. Russisch, definitiv, und ohne zu überlegen, was er tat, antwortete Lee mit dem einzigen russischen Wort, das er kannte, James Bond sei Dank: »Da, da!« – »Ja, ja!«. Der andere lachte heiser und verließ das Deckhaus. Klopfenden Herzens begann Lee mit seiner Suche nach einer Unterkunft.

Für einmal hatte er Glück. Zwei Treppen höher stieß er auf eine Reihe offensichtlich unbenutzter Kabinen. Er wählte das Zimmer in der Nähe des Treppenhauses aus, das ihm die beste Fluchtmöglichkeit bot. Auf der eisernen Pritsche lag ein fleckiger, dünner Stofffetzen. Immerhin eine Matratze, dachte er grimmig. Ein Tischchen mit einem Plastikstuhl stand festgeschraubt in der Ecke, und durch ein winziges Bullauge fiel gerade soviel Licht, dass er die Taschenlampe nicht brauchte. In der engen Kabine war kein Platz für Annehmlichkeiten wie eine Dusche, aber zu seiner freudigen Überraschung fand er hinter einer Tür ein funktionierendes WC und ein Waschbecken, kaum größer als eine Kaffeetasse. Hier würde er zwei, drei Tage überleben, sollte es keinen anderen Ausweg geben. Zum ersten Mal an diesem Morgen fühlte er sich einigermaßen wohl und sicher. Er setzte sich auf die schmierige Matratze und schaltete das Handy ein. Kein Antennensignal, wie befürchtet. Sie waren weit entfernt von jeder Küste, und so würde es wohl noch lange bleiben. Er konnte nichts anderes tun, als warten, bis es dunkel wurde. Nachts würde der größte Teil der Besatzung schlafen. Die Gefahr, entdeckt zu werden müsste dann wesentlich geringer sein. Er streckte sich auf dem unbequemen Bett aus, schaute den vorbeiziehenden Wolken durch das Bullauge zu und überlegte sich die nächsten Schritte. Das gleichmäßige Stampfen und Brummen der Maschinen schläferte ihn allmählich ein. Er schloss die Augen.

Als er erwachte, war es stockdunkel in der Kabine. Erschrocken schaute er auf das Display seines Telefons. Halb zwölf Uhr nachts, Kochi Time. Er war jetzt mehr als vierundzwanzig Stunden auf diesem elenden Frachter.

Sein knurrender Magen ließ ihm keine Wahl: es war Zeit für seine nächtliche Entdeckungsreise. Geräuschlos und zielsicher wie eine Schiffsratte arbeitete er sich nach oben. Er nahm an, dass sich Küche und Aufenthaltsräume in der Nähe der Brücke befinden mussten. Mehr als einmal zog er sich in dunkle Nischen zurück, weil er glaubte, Schritte oder Stimmen zu hören. Acht Treppen lagen hinter ihm. Wenn er sich nicht irrte, befand er sich jetzt auf Deck fünf, ein Stockwerk unter der Brücke. Er huschte an einer offenen Tür vorbei. Der Raum dahinter war dunkel, aber er blieb wie elektrisiert stehen, als er die leuchtenden Armaturen bemerkte. Kurz entschlossen glitt er hinein. Sein Puls beschleunigte sich, als er den Computer sah, der neben der Funkanlage auf dem Tisch stand. Er bewegte die Maus ein wenig. Der Bildschirm erwachte zum Leben und präsentierte ihm das bekannte Bild des Webbrowsers. Er unterdrückte einen freudigen Ausruf, denn es sah ganz danach aus, dass dieser PC mit dem Internet verbunden war, wohl über das Satellitentelefon des Schiffs. Über die Tastatur gebeugt, tippte er die Adresse seines Webmail-Dienstes ein, doch plötzlich zerriss ein lauter Summer die Stille der Nacht und ein rotes Licht begann aufgeregt zu blinken. Als hätte ihn eine Schlange gebissen, zuckte er zurück, hetzte aus dem Funkraum, um die nächste Ecke, gerade rechtzeitig, dass ihn der herbeieilende Wachoffizier nicht bemerkte. Das war knapp, aber er hatte jetzt das Tor zur Welt gesehen. Er wagte erst einen Blick in den Korridor, als er hörte, wie sich der Mann wieder entfernte. Eine Tür am Ende des Flurs ging auf, ein Matrose trat mit einer Tasse in der Hand zum Offizier und wechselte ein paar Worte mit ihm. Lee wartete, bis die beiden verschwunden waren, dann huschte er zur verheißungsvollen Tür, horchte angestrengt, atmete tief durch und öffnete sie schließlich. Vor ihm lag das Paradies, er stand in der Küche, allein unter auserlesenen Köstlichkeiten wie grasgrünen Äpfeln, hartem Käse und trockenem Brot. Eine dicke Thermoskanne mit warmem Tee stand auf der Anrichte. Gierig trank er eine Tasse um die andere, bevor er sich die Taschen mit Esswaren vollstopfte und vorsichtig wieder zur Tür hinaus schlüpfte.

 

Morgen. In seinem geistigen Logbuch machte er den betrüblichen Eintrag: 09:00, der dritte Tag! Küste gesehen. Immer noch keine Kommunikation. Kurs Nord. Wenn er nur wenigstens einen Blick auf das Navigationsgerät werfen könnte. Ein paar Mal war er versucht, die Brücke zu betreten und seine Tarnung auffliegen zu lassen, nur um endlich zu erfahren, wo sie sich, verdammt noch mal, eigentlich befanden. Zwei Tage nach Westen, jetzt ziemlich genau nach Norden. Er versuchte sich die Landkarte der Golfregion vorzustellen. Oft genug hatte er sie in den Nachrichten gesehen, aber nie wirklich hingeschaut. Ein paar Klicks auf seinen Handy-Bildschirm hätten genügt, um ihm genau zu zeigen, wo er war, aber ohne Verbindung ins Netz nützte ihm auch das GPS-Modul herzlich wenig. 21°34’21.05«N 37°54’34.41«E, wusste der Geier, welch gottverlassene Gegend das war, das Rote Meer? Er hatte die ersten sechzig Stunden in seinem seltsamen Gefängnis erstaunlich problemlos überlebt, umso mehr ärgerte ihn, tatenlos herumsitzen zu müssen. Höchst unzufrieden mit sich und der Welt tigerte er in der engen Kabine hin und her, schaute manchmal durchs Bullauge aufs immer gleiche Bild. Brillant blaues Wasser, strahlend blauer Himmel mit fernen Quellwolken und ein Horizont, dessen verschwommene Linie ebenso gut ein Küstenstreifen sein konnte.

Wieder näherte er sich dem runden Fenster, als ihn der durchdringende Ton eines Schiffshorns erstarren ließ. Das Horn eines anderen Schiffs. Wie es sich gehörte, antwortete die Spassky mit ihrem Signal. Gleich danach schob sich ein gewaltiges Transportschiff in hundert oder zweihundert Metern Abstand langsam am Frachter vorbei. Es war nicht das erste Schiff, das ihnen begegnete, aber das erste der U.S. Navy. US, die beiden Buchstaben ließen sein Herz höher schlagen. Er war versucht, augenblicklich aufs Deck hinaus zu rennen, wild zu gestikulieren, zu rufen, um die Boys auf sich aufmerksam zu machen, ein hoffnungsloses Unterfangen. Hilfe war so nah und doch unerreichbar. Wütend griff er zur Taschenlampe und begann, Lichtzeichen zu senden. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz, immer wieder, bis das Schiff aus seiner Heimat nicht mehr zu sehen war. Schließlich ließ er die Lampe entmutigt auf den Tisch sinken und verkroch sich auf die Pritsche.

Am Morgen des vierten Tages weckten ihn die Schmerzen in seinem Rücken. Die verkrampfte Haltung auf dem Lotterbett würde ihn umbringen, sollte er noch eine Nacht in dieser Zelle verbringen müssen. Er begriff allmählich, wie sich Lagerkoller oder Höhlenkoller anfühlte. Steif wankte er zur Toilette. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, als jemand plötzlich hart an seine Kabinentür polterte. Sein Atem stockte. Blitzschnell zog er die Toilettentür hinter sich zu. Wieder krachte es. Es hörte sich nicht wie gewöhnliches Klopfen an, eher als versuchte jemand mit schweren Stiefeln die Tür einzutreten. Seine Nackenhaare sträubten sich, als er erkannte, wie sinnlos es war, sich in diesem besseren Einbauschrank zu verstecken. Wenn sie in die Kabine kamen, würden sie ihn auf jeden Fall finden, und überdies lag sein Handy auf dem Tisch. Verfluchte Scheiße!, er konnte ihnen ebenso gut selbst die Tür öffnen. Er stieß die WC-Tür vorsichtig auf und lauschte. Das Poltern hatte aufgehört, er vernahm nur noch entferntes Wimmern. Wimmern? Eher das verhaltene Heulen eines Motors. Ein Staubsauger? Was auch immer es war, das Geräusch entfernte sich rasch und verstummte bald. Während er noch immer ungläubig auf die Tür starrte, piepste es unvermittelt in seinem Rücken. Er fuhr herum, als hätte ihn jemand angesprochen. Sein Telefon meldete sich. Die Piepser eintreffender Meldungen wollten nicht enden. Er war auf Empfang! Mit einem Satz war er beim Tisch, schnappte das Handy und wählte die Nummer seines Kollegen Ingo. Gleichzeitig holte er die GPS Applikation auf den Bildschirm und beobachtete gespannt, wie sich die Landkarte aufbaute. Nach ein paar Sekunden wusste er endlich, wo sich das Schiff befand.

»Lee, verdammt, wo zum Teufel steckst du eigentlich?«, meldete sich ein aufgebrachter Ingo. »Die ganze Welt sucht dich seit Tagen. Wir haben eine Vermisstmeldung aufgegeben. Du hast uns eine Scheißangst eingejagt. Was ist los mit dir?«

»Ingo, beruhige dich. Von wegen Scheißangst. Ich habe eine lange Geschichte zu erzählen. Ich bin im Suezkanal, auf der – hallo?« Fassungslos schaute er auf das Display: keine Antenne mehr, die Verbindung abgebrochen.

So sehr er sich bemühte, es kam kein weiteres Gespräch zustande. Stimmte seine Karte, so hatte die Spassky eben die Stadt Ismailia passiert und es konnte lange dauern bis zur nächsten brauchbaren Antenne. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er konnte nicht weiter untätig in der Kabine warten. Er musste jetzt aufs Netz, auch wenn die ganze Mannschaft auf den Beinen war. Auf einer seiner nächtlichen Wanderungen hatte er eine Kammer mit Arbeitskleidern entdeckt, wie sie die Matrosen trugen und einen der Overalls und eine Mütze mitgenommen. Jetzt schlüpfte in diesen Blaumann, setzte die Mütze auf und zog sie tief ins Gesicht. Einen besseren Tarnanzug hatte er nicht zur Verfügung. Vorsichtig arbeitete er sich die Treppen hoch zum Funkraum. Lebhaftes Schwatzen, das sich in seinen Ohren anhörte wie wüstes Schimpfen, drang aus dem Aufenthaltsraum beim Aufgang zur Brücke. Mit wenigen Sätzen durchquerte er den Korridor und verschwand im Zimmer, wo der begehrte Computer stand.

Er begann sofort, sich bei seinem Mailservice einzuloggen, doch auch diesmal wurde er unterbrochen. Eine tiefe Stimme schnauzte ihn von der Tür her an. Auch wenn er kein Wort verstand, den Ton konnte er nicht missdeuten. Der Mann, der wütend auf ihn zukam, schimpfte wie ein Rohrspatz. Zu seinem Glück war er einen Kopf kleiner. Lee baute sich geistesgegenwärtig vor ihm auf, deutete auf den Computer und fuhr ihn an: »Da, shit, da!«, und weg war er. Ohne sich weiter um die Mannschaft zu kümmern, stürmte er die Treppen hinunter, aus dem Haus aufs Deck und versteckte sich zwischen den Luken, bevor die Alarmsirenen im ganzen Schiff losgingen. Nach gut dreieinhalb Tagen hatten sie den blinden Passagier entdeckt. Sollte er aufgeben? Er hörte Männer aus dem Haus kommen. Sie schwärmten aus, und sie kannten ihr Schiff mit Sicherheit besser als er. Es konnte nicht lange gut gehen. Fieberhaft schaute er sich nach einem Ausweg um, wohl wissend, dass es keinen gab. Die Spassky war nicht sehr groß. Es würde nicht lange dauern, bis sie ihn erwischten.

Der Suezkanal war hier erstaunlich schmal. Ans Ufer schwimmen war durchaus eine Möglichkeit, aber das Deck befand sich zehn oder fünfzehn Meter über dem Wasser, keine sonderlich attraktive Aussicht. Die Männer suchten das Schiff systematisch ab, und sie kamen rasch näher. Auf der anderen Seite, backbord, sah er ein paar Fischerboote im Wasser, und plötzlich hatte er eine Idee. Er huschte geduckt zu den Kränen mit den Rettungsbooten. Er zerrte den versiegelten Schaltkasten auf und legte den Hebel um. Der Kran begann auszufahren und zerrte knarrend an der Takelage. Sofort ertönten aufgeregte Rufe. Fluchend eilten die Männer auf die Rettungsboote zu, während Lee auf der anderen Seite ungesehen über die Reling kletterte und sich auf den Buganker kauerte. Hastig ließ er sich am rostigen Metall in die Tiefe gleiten, bis er frei über dem Wasser hing. Er zögerte nur kurz, dann ließ er sich stocksteif fallen. Der Aufprall war kaum zu spüren. Sanft glitt er ins Wasser. Als er wieder auftauchte, war alles ruhig. Niemand schien ihn bemerkt zu haben. Mit wenigen kräftigen Zügen schwamm er zum nächsten Fischerboot, dessen zwei Insassen vor Schreck beinahe ins Wasser fielen, als er hinter ihnen auftauchte. Erst als sie ihn laut rufend und lachend ins Boot hievten, wurden die Männer auf der Spassky auf ihn aufmerksam, aber es war zu spät. Die freundlichen Fischer ruderten ihn rasch vom Frachter weg, zurück nach Ismailia.