Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten

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Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten
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Hans Zippert

Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten

Tagebuch eines Tagebuchschreibers

FUEGO

Das Leben ist mehr oder weniger unbegreiflich. Man weiß bekanntlich weder, woher man kommt noch wohin man geht, oder warum man solche Sätze hinschreibt. Manchmal hilft es, sich alles zu notieren, was einem im Laufe der Zeit so auffällt, und selbst wenn es nicht hilft, dann hat man es doch wenigstens mal aufgeschrieben. Genau das war der Plan.

Meine Notizen beginnen im Januar 2010 und enden in dem Moment, wo der Leser das Buch aufschlägt. Es handelt sich um eine Art Tagebuch oder auch eine Stoffsammlung für eine Stoffsammlung. Dieses Buch enthält Ideen für mindestens fünf Romane, die ich aus Respekt vor dem Leser aber nicht ausgeführt habe.

2010

Januar

Rechtsnachfolger

In die Geschäftsräume von »Video-Express24« ist vor kurzem ein neuer Besitzer eingezogen. Wie der Name schon andeutet, konnte man bei »Video-Express24« Tag und Nacht Videos entleihen, es gab sogar einen automatischen Nachtschalter, der einem morgens um drei Uhr den dringend benötigten vierten Teil von »Beverly Hills Cop« ausspuckte. Natürlich war auch eine nächtliche Videorückgabe möglich. Der neue Besitzer heißt »Oberurseler Bestattungsinstitut W. Schwartz«, und auch er wirbt mit dem bewährten Slogan »Tag und Nacht.« Gestorben wird ja immer. Ein Zettel an der Tür informiert: »Da die Gestaltung der Außenanlage noch nicht abgeschlossen ist, können Sie uns im Moment leider nur telefonisch erreichen.« Anscheinend wollen sie aber möglichst wenig verändern und vor allem den Nachtschalter beibehalten, damit man auch morgens um drei seine Leichen einwerfen kann. Der kleine gelbe Briefkasten neben dem rechten Schaufenster dient dann wahrscheinlich zum Einfüllen von Asche.

Wie heißen Flusspferde in Wirklichkeit?

Der Berliner Zoo wirkt tief verschneit sehr angenehm, man möchte fast sagen, er macht einen würdevollen Eindruck. Es sind nur wenige Leute unterwegs und deshalb bestaunen die Tiere die Menschen. Zum Beispiel F. W. Bernstein und mich. Das Kamel blickt uns tief in die Augen und scheint gespannt, ob uns irgendein Vergleich einfällt, so eine Art Übertragung menschlicher Verhaltensweisen, etwa: »wie ein mürrischer Hausmeister eines altsprachlichen Gymnasiums versperrt uns plötzlich ein Kamel den Weg«, aber es ist einfach zu kalt für Vergleiche, Übertragungen und Allegorien. In der Anlage der Humboldtpinguine steht ein Graureiher und gibt sich große Mühe, wie ein Pinguin auszusehen. Die Pinguine glauben ihm kein Wort, aber uns kann er für zwei Sekunden täuschen. Hier ist die Evolution in vollem Gange, der Reiher hat vom Chamäleon gelernt und bald werden die ersten Exemplare in Berliner Behörden arbeiten, wo man sie von einem Sachbearbeiter nicht unterscheiden kann. In der Eisbäranlage gibt es jetzt sogar Eisschollen, es sieht fast schon zu echt aus. F. W. Bernstein hat den legendären Flusspferdbullen »Knautschke« noch persönlich gekannt und kann sich nicht vorstellen, dass er tatsächlich für die Stasi gearbeitet hat. Die Berliner lieben es traditionell, ihre Flusspferde zu demütigen, und geben ihnen Namen wie »Klops«, »Molle«, »Würstchen«, »Schrippe«, »Plumps« oder »Stulle.« Das haben die Tiere nicht verdient. Aber wie heißen Flusspferde wirklich? Wenn man ihnen länger zuschaut, weiß man es sofort: »Dr. Mossleitner«, »Graf Moltke« und »Geheimrat Eisenhuth«. Das sind echte Flusspferdnamen!

Zum Aufwärmen geht es dann noch schnell ins Aquarium, wo man stundenlang dem Treiben der Quallen zuschauen kann, und weil es Winter und uns so lyrisch zumut ist, seufzen wir: »Quallen sind Schneeflocken unter Wasser.« Anschließend versprechen wir uns in die Hand, niemals einen Gedichtband mit diesem Titel zu veröffentlichen.

Da liegt kein Segen drauf

Wenn es eine Berufsgruppe gibt, deren Arbeit ich größte Hochachtung entgegenbringe, dann sind das Sternsinger. Jedes Jahr rund um den 6. Januar schwärmen sie aus und schreiben einen Segen an die Haustüren, der wie eine Zauberformel klingt und wie eine mathematische Gleichung aussieht. Es ist eine verantwortungsvolle und wichtige Tätigkeit. In diesem Jahr wurde einfach nur ein Aufkleber mit der Formel (20 * C+M+B+10) in den Briefkasten geworfen, den sollte ich mir anscheinend sonst wohin kleben. Doch wahrlich ich sage: Sternsinger, das ist ein verhängnisvoller Irrweg! Wenn Gott gewollt hätte, dass wir unseren Kühlschrank mit Segensaufklebern schmücken, dann hätte er seinen Sohn nicht ans Kreuz nageln, sondern kleben lassen. Oder hätte er ihn tiefkühlen lassen? Wäre vielleicht noch logischer. Am dritten Tage auferstanden von dem Gefriergut.

Stoffsammlung für einen Tannenbaumroman

Die meisten Weihnachtsbäume kommen aus Dänemark. Acht Millionen werden von dort zu uns gebracht. Sie stammen aus Weihnachtsbaumintensivmastbetrieben, werden mit wachstumsfördernden Hormonen hochgespritzt und sind extrem schreckhaft. Wenn man so einen Intensivmastwald betritt und einmal hustet, verlieren die Bäume gleich die Nadeln. Anfang Dezember werden sie alle geschlachtet. Warum stellt der Däne sein ganzes Land mit Tannenbäumen und warum stellen wir unsere Wohnzimmer mit dänischen Tannenbäumen voll? Diese Bäume verstehen uns ja noch nicht mal. Kein Mensch sagt einem, wie man einen dänischen Weihnachtsbaum korrekt anredet. Es ist jetzt Ende Januar und bei einem Kontrollgang durch mein Viertel stellte ich fest, dass der Tannenbaumhändler seine abgezäunte Verkaufsfläche noch immer nicht abgebaut hat. Ein Bauwagen, ein Biertisch mit zwei Bänken stehen verwaist und dazu zehn Weihnachtsbäume, die er nicht verkaufen konnte. Ein seltsamer Anblick, der einen melancholisch stimmt. Ihre Kollegen hatten glanzvolle Auftritte, standen reich geschmückt in den Wohnzimmern und hörten wohl hundertmal den Satz: »Dieses Jahr haben wir aber wirklich einen schönen Baum.« Inzwischen wurden sie abgeschmückt an die Straße gelegt und am 11. Januar von der Müllabfuhr abgeholt. Der 11. Januar war in unserer Stadt der Weihnachtsbaumabholtag. Diesem grausamen Schicksal sind die vergessenen Bäume entgangen. Sie haben den 11. Januar überlebt. Doch was soll jetzt aus ihnen werden? Könnten sie mir vielleicht als Anregung dienen für einen, nein, für den großen Weihnachtsbaumroman, den die Literaturkritik seit Jahrzehnten fordert?


Arbeitstitel: »Das Leiden nicht gekaufter Bäume.« Handlung? Zehn Weihnachtsbäume, oder besser neun, sonst klingt das zu stark nach Negerlein, werden nicht nur nicht verkauft, sondern von ihrem Besitzer vergessen und stehen bis weit in den Februar auf einem abgezäunten Areal herum. Eines Tages kommt ein Auto ins Schleudern und reißt eine Lücke in den Zaun. Die Bäume erkennen ihre Chance und fliehen. Zunächst sind sie nur im Schutz der Dunkelheit unterwegs und halten sich überwiegend auf Grünflächen versteckt, wo sie sich tagsüber als Tannenwäldchen tarnen. Sie wandern ziel- und ahnungslos durch die ganze Republik, denn sie wissen nichts von Deutschland, weil sie ja aus Dänemark stammen. Bäume stammen übrigens naturgemäß immer irgendwoher. Ein skrupelloser Fabrikant für Nadelkissen fängt sie ein, sperrt sie in einen fensterlosen Raum und lässt sie für sich arbeiten, dabei stirbt ein Baum unter dramatischen Umständen, den anderen gelingt die Flucht. Sie kaufen sich Nadelstreifenanzüge, tarnen sich als sibirische Musikstudenten und betteln in der Fußgängerzone. Zwei Bäume werden drogensüchtig und nadeln sich zu Tode, am Ende bleibt nur einer übrig, der sich in eine junge Fleischfachverkäuferin verliebt, die ihn nach Hause einlädt. Dort stellt sie ihn in einen Ständer, legt ihm Schraubzwingen an, wirft ihm prächtigen Baumschmuck über und befestigt duftende Kerzen an seinen Ästen, der Baum muss ohnmächtig zusehen, wie sie es unter ihm mit dem Metzger treibt, und am nächstbesten 11. Januar wirft ihn das saubere Pärchen auf die Straße, wo ihn die Müllabfuhr abholt. Bevor der Baum in der Müllpresse zerquetscht wird, denkt er noch etwas bedeutungsvolles, etwa: »Wir Bäume haben doch immer die Arschkarte« oder »Was sind das nur für Zeiten, wo ein Roman über Weihnachtsbäume…« o.ä.. Vielleicht sollte der Baum noch herausfinden, dass seine Eltern hochrangige Eichen und in der NSDAP waren, damit der Verlag auf die Buchrückseite schreiben kann: »Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus entfaltet der Autor ein ebenso faszinierendes wie beklemmendes Porträt einer verlorenen Baumgeneration.«

Wie sieht eine unnormale Uhr aus?

Im Kurort Bad Homburg steht in der Louisenstraße eine Säule, an deren Spitze sich eine Uhr befindet und die sonst vollständig mit Werbetafeln bedeckt ist. Ganz unten, wo eigentlich nur Hunde hingucken, liest man die trotzige Botschaft: »Normaluhren gehören ins Stadtbild.« Bezweifelt das hier etwa jemand? Was ist da los in Bad Homburg? Was haben sie dort gegen Normaluhren? Eine Normaluhr hat die Aufgabe, die so genannte Normalzeit allgemein zugänglich zu machen, deshalb ist sie an einer zentralen Stelle der Stadt positioniert. Eine zutiefst demokratische Einrichtung, hinter der eine fast schon kommunistische Idee steckt. Die Zeit gehört allen, jeder soll jederzeit die Zeit ablesen können ohne Ansehen von Stand, Geschlecht, Alter oder Steuerklasse. Das schmeckt ihnen da in Bad Homburg nicht, das kann man verstehen. Bad Homburg zählt zum Hochtaunuskreis, dem reichsten Landkreis Deutschlands. Noch vor dreißig Jahren saßen dort vor den Geschäften zwielichtige Gestalten, die einem für fünfzig Pfennig die exakte Zeit verrieten, für zehn Pfennig erfuhr man wenigstens, ob es schon dunkel war.

 

Heute besitzen die vermögenden Bürger der Stadt im Schnitt achtzehn Uhren, von denen die billigste 4000 Euro gekostet hat. Sie sind nicht daran interessiert, dass jeder dahergelaufene Hartz IV-Empfänger so einfach und umsonst Zeit ablesen kann, deshalb starteten sie eine Initiative, deren Ziel die Abschaffung der Normaluhr war, denn die Zeit gehört nur denen, die sie sich leisten können. Es ist bestimmt kein Zufall, dass viele reiche Russen zur Kur nach Bad Homburg fahren. Man weiß aus der schlimmen Zeit, dass der Russe sehr hinter Uhren her war und gerne drei bis fünf übereinander trug, was er heute wahrscheinlich immer noch macht und deshalb kein Interesse an Normaluhren hat. Lieber möchte er von armen Tagelöhnern nach der Uhrzeit gefragt werden, um dann, nach einem genießerischen Blick auf seinen uhrenübersäten Unterarm, mit bedauerndem Augenaufschlag zu antworten: »Zu spät, mein Freund, viel zu spät für dich!«

Es gab Demonstrationszüge, auf denen Transparente hochgehalten wurden mit Aufschriften wie »Zeit ist kostbar« oder »Zeit ist Geld« oder eben »Normaluhren raus aus Bad Homburg«. Es wurde durch mehrere Instanzen hart prozessiert, und jetzt muss das Verfassungsgericht entscheiden, ob es ein allgemeines Recht auf freien Zugang zu Zeitanzeigegeräten gibt. Aus Angst vor Racheakten hat der Betreiber der Uhr sein Bekenntnis architektonisch verbrämt und schüchtern an den Sockel der Säule geschraubt: »Normaluhren gehören ins Stadtbild.«

2010

Februar

Unterwegs von Frankfurt nach Hamburg, aber eigentlich unterwegs in fremden Schränken: »Hallo, Frau Berger. Ja, ich sitze im Zug. Wie bitte, was suchen Sie? Also, links neben meinem Schreibtisch, da ist doch der Schrank, nein, nicht der, mit den Hängeregistraturen, genau, daneben, jaja, die Tür klemmt ein bisschen, Sie müssen erst drücken und dann ziehen, was?, nach links und da steht ganz oben, in der ersten oder zweiten Reihe ein Ordner mit einem blauen Rücken, nein, nein, nicht der mit den Pachteinnahmen, der ist unbeschriftet, also, genau, ja, schlagen Sie den mal auf, ganz vorne müsste der Vorgang sein, ja, hab ich vorgestern noch angelegt. Wie? Die Quittung? Ist in der Klarsichthülle dahinter.« Mindestens ein Schrankreiseführer sitzt in jedem Großraumabteil, das gehört zum Serviceangebot der Bahn. Da weiß man dann die Vorteile eines unbeschrankten Bahnübergangs zu schätzen.

Auf dem Rückweg wird es nicht besser. Während der ganzen Fahrt starrt mich ein älterer Herr ungeniert grinsend an. Er fragt mich: »Harndrang unter Kontrolle?« Und er verspricht: »Weniger müssen müssen. Auch unterwegs.« Was geht den Typ das an? Er ist zwar nur auf einem Plakat, aber dafür umso aufdringlicher. Eine eklatante Verletzung der Menschenwürde. Warum muss das Mittel gegen das Müssen ausgerechnet »Prostagutt« heißen? Erwartet uns demnächst ein Potenzmittel namens »Fickoflott«? Der Harndrangkontrolleur kann sein Wasser für sich behalten, aber nicht seine Werbebotschaft. Er sagt: »Nutzen Sie die doppelte Pflanzenkraft von Prostagutt forte.« Was ist denn doppelte Pflanzenkraft? Wurden etwa zwei Pflanzen zur Herstellung dieses dämonischen Präparats verwendet? Wegen der ständigen Verspätungen der Bahn wird allerdings auch Prostagutt bald an seine Grenzen stoßen und dem Harndrang eines Großraumwagens voller Schrankreiseführer nicht mehr gewachsen sein. Spätestens dann wird man uns mit Werbung für Inkontinenzwindeln malträtieren.

Autosuggestionsprobleme

Man kann sich auch bahnfrei bewegen. Meine erste Fahrt in einem Auto, an die ich mich wirklich erinnern kann, fand etwa im Alter von sechs Jahren statt. Ich hatte keinen Führerschein, fuhr aber einen Bus der Firma Pahlmeyer & Studier. Man muss der Genauigkeit halber hinzufügen, dass ich nicht in dem Bus saß, sondern ihn von außen mit den Fingern steuerte. Der Bus war ein schön bemaltes Plastikmodell im Maßstab 1:87. Das Vorbild verkehrte vom Zentralen Bielefelder Busbahnhof nach Kirchdornberg. Ich fuhr damit zweimal in der Woche zu meiner Großmutter und hatte mir alle Geräusche, die der Bus unterwegs machte, genau eingeprägt. Ich konnte die gesamte zwanzigminütige Fahrstrecke wiedergeben. Dabei erzeugte ich einen tiefen, halb singenden, halb brummenden Ton – das war der Busmotor –, bei jedem Schalten heulte ich einmal kurz auf, bevor ich wieder gleichmäßiger vor mich hin brummte. Ich zog den Bus über die geometrischen Muster des Orientteppichs im elterlichen Wohnzimmer und brummte und heulte vor mich hin. Zwar bewegte ich den Bus von außen, saß aber gleichzeitig eigentlich auch drin und fuhr. Ich hatte eine gespaltene Fahrerpersönlichkeit. Auch das Zischen der druckluftbetriebenen Türen beherrschte ich und konnte alle Stationen durchsagen: »Nächste Betheleck« oder »Tierpark Olderdissen«. Das machten Busfahrer damals noch selber, wobei sie auf zusätzliche Informationen wie »Ausstieg in Fahrtrichtung rechts« oder »Umsteigen zu den Straßenbahnen Richtung Schildesche, Baumheide und Sieker« verzichteten. Erwachsene beobachteten mein Treiben lächelnd, aber eher uninteressiert, heute hätte man mich wegen motorischer Störungen längst zum Kinderpsychologen gebracht: »Ihr Sohn hat omnibuspotente Wahnvorstellungen, er leidet an einem Omnibuskomplex, er will seinen Vater töten, um mit seiner Mutter Bus zu fahren.« Damals machte man sich über ein dauerbrummendes Kind nicht so viele Gedanken, die Erwachsenen redeten einfach lauter, dann hörten sie mich nicht.

Den Bus selbst zu bewegen, wurde mir bald zu umständlich, und ich wandte mich dem Modelleisenbahnbau zu. Konstruktion, Verkabelung und Montage einer Bahnlandschaft interessierten mich nicht sonderlich, ich wollte eigentlich nur die Züge beim Fahren beobachten. Besonders liebte ich den dunkelroten Triebwagen oder Schienenbus, aus dessen Fenstern ein gleißend helles Licht flutete. Ich saß abends im dunklen Zimmer und sah dem Triebwagen zu, wie er seine Runden drehte. Strahlend glitt er durch die Pappmacheelandschaften, das Licht aus seinen Fenstern erleuchtete den Bahnhof Zindelstein und die verfallene Villa, von der ich einige Teile verloren hatte und sie deshalb als Bauruine verwendete. Ich konnte Stunden bewegungslos dasitzen und auf den Zug starren. Es war eine Art Meditation, eine Selbstfindung auf Schienen, natürlich nur im Maßstab HO. Wie hätte der Psychologe das wohl beurteilt? Litt ich an Zuganbindungsängsten? War ich etwa Triebwagengesteuert? Die Erfahrung muss mich jedenfalls nachhaltig geprägt haben, denn mein erstes eigenes Auto hatte die gleiche Farbe wie der Märklin-Triebwagen, die Innenraumbeleuchtung ließ jedoch zu wünschen übrig. Es war ein Ford 12m Turnier mit Lenkradschaltung, wobei ich bis heute nicht weiß, was 12m heißen sollte: 12 Meter Wendekreis oder 12 Meter lange Bremsspur? Ich besaß den Wagen zwei Jahre lang. In dieser Zeit war er höchstens drei Monate fahrbereit. Vor allem im Winter versagte er seinen Dienst. Der Wagen sah aber auch sehr gut aus, wenn er nur auf einem Parkplatz stand. Dann verbrauchte er kaum Benzin, sonst gerne mehr als 12 Liter. Deshalb wahrscheinlich 12m. Ich saß nachts oft am Fenster und schaute dem Wagen beim Parken zu. Ich sah, wie er nass und wieder trocken wurde und ich sah, wie er komplett unter Schneemassen verschwand. In einer kalten Winternacht zog ich mir einen Pullover über den Schlafanzug, stieg barfuß in meine Gummistiefel, entfernte den Schnee vom Türgriff, setzte mich in den Wagen und drehte zum Spaß den Zündschlüssel um. Der Wagen sprang zu meiner Überraschung sofort an. Ich schob den Schnee von der Windschutzscheibe und fuhr los, weil man nie wissen konnte, wann mir der Wagen wieder erlauben würde, ihn zu bewegen. Ich kam fast bis Wuppertal, musste dann aber umdrehen, weil ich mich nicht traute, mit Gummistiefeln und Schlafanzug zu tanken.

Vielleicht hatte ich dem Wagen mit dem Anblick auch zu viel zugemutet, jedenfalls sprang er danach nie wieder an, und ich verkaufte ihn schweren Herzens.

Danach begann eine längere autofreie Zeit, die durch den Erwerb eines wiederum dunkelroten VW Käfers beendet wurde. Über dieses Auto gibt es nichts zu sagen, was nicht schon hundertfach gesagt wurde. Im Sommer ging die Heizung nicht aus, im Winter war sie zu schwach, den Motor hatten Scherzkekse in den Kofferraum gezwängt, so dass man seine Koffer im leeren Motorraum transportieren musste. Der Käfer war kein Wagen, der sich gerne beim Parken beobachten ließ. Der Käfer wollte bewegt werden. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal nicht hinterm Steuer saß, das war für den Wagen verschwendete Lebenszeit. Ich nahm extra eine Arbeit in einer weit entfernten Stadt an, damit der Käfer Auslauf hatte, und besuchte Ausstellungen in fremden Bundesländern.

Dann lernte ich eine Frau kennen, die einen weißen Kadett Kombi fuhr. Wir beschlossen, fortan alles zu teilen, verkauften unsere Wagen und bestellten einen blauen Golf, den wir direkt am Werk in Wolfsburg in Empfang nahmen. Kurz darauf wurde sie schwanger. Falls es da einen Zusammenhang gibt, weiß ich nicht, ob es dabei am wichtigsten ist, dass der Wagen eine blaue Farbe hat, dass man ihn sich direkt in Wolfsburg abholt oder dass man vorher einen Kadett Kombi gehabt haben muss. Heutzutage kauft man sich nach Entwicklung des ersten Ultraschallbildes sofort einen sieben- bis zwölfsitzigen Kleinbus und klebt ein Schild »Ungeborenes Baby an Bord« hintendrauf, aber damals, 1987, fuhren wir Golf. Es kam dann noch ein Kind und auch das passte in den Golf, und auf den Golf passten noch vier Fahrräder. Es war ein zuverlässiges, unauffälliges Auto, aber es hatte mich in der Gewalt. Ich konnte nicht mehr entscheiden, wann ich wohin fahren wollte. Es musste ständig etwas damit geholt oder geliefert werden. Windeln, Keuchhustenmedizin, Nasentropfen, Kind von der Krabbelstube, Kind zum Waldorfkindergarten, zur Waldorfschule, zum Flötenunterricht, zum Gitarrenunterricht, zum Chor, zum Taek-Won-Do, zum Bahnhof, zur Oma, Kindergeburtstagsgäste nach Hause, Möbelbausätze vom Möbelmarkt und wieder zurück zur Reklamation, Mineralwasserkästen und Biomöhren. Wenn ich mich an den Golf erinnere, sehe ich nur, wie ich irgendetwas in seine gierige Heckklappe stopfe oder wieder herauszerre. Eines Tages ließ sich die Fahrertür nicht mehr von innen öffnen. Der Wagen wollte mich nicht weglassen, ich sollte in ihm übernachten, bis er mich zur nächsten Lieferadresse transportieren konnte. Ich wartete das Ende des Jahrtausends ab und kaufte dann ein geckogrünes Auto aus französischer Herstellung. Inzwischen macht es keinen guten Eindruck mehr, ich habe sogar das Gefühl, der Wagen mag mich nicht, jedenfalls treibt er sich, so oft es geht, in irgendwelchen Reparaturwerkstätten herum. Mein Sohn hat letztes Jahr auf seiner ersten Fahrt als Führerscheinbesitzer die Beifahrertür eingedrückt, und auch sonst ist der Wagen reichlich heruntergekommen. Man kann das Fenster der Beifahrertür nicht mehr runterlassen. Wenn man jemand nach dem Weg fragen will, muss man aussteigen, und das macht auf viele einen bedrohlichen Eindruck.

Vor kurzem erzählte mir ein Freund, dass man beim Anblick mancher Autos sagt, hier habe jemand seinen Penis vor der Tür geparkt. Ich weiß nicht, ob diese Feststellung pauschal für jedes Auto gilt, aber es ist durchaus möglich, dass die Nachbarn von dem verbeulten Zustand des Wagens Rückschlüsse auf mein Geschlechtsorgan ziehen, die natürlich jeder Grundlage entbehren. Trotzdem ist ein verbeulter Wagen, rein sexuell betrachtet, immer noch besser als ein tiefergelegter mit abgesägtem Auspuff oder mit Hängerkupplung.

Nach über dreißig Jahren Erfahrung als Fahrerlaubnis- und Wagenbesitzer komme ich langsam zu der Erkenntnis, dass man einem Auto nur sehr selten seinen Willen aufzwingen kann. Jedenfalls mir gelingt das nicht. Mir fehlt wohl die Fähigkeit zur Autosuggestion. Und wenn man selber am Steuer sitzt, kann man dem Wagen außerdem nicht beim Fahren zuschauen. Das ist ein entscheidender Nachteil. Vielleicht kaufe ich mir als nächstes wieder einen Triebwagen. Oder ein Auto, das sich von außen mit den Fingern dirigieren lässt. Ich kann jetzt auch viel tiefer brummen und beim Schalten würde ich besonders eindrucksvoll aufheulen.

Auf dem Friedhof

Nach langer Zeit mal wieder die Abkürzung über den Friedhof genommen und dabei etwas Merkwürdiges entdeckt. Überall auf dem Gelände stehen Gestelle, an denen ca. siebzig Gießkannen hängen, und jede Gießkanne ist mit einem eigenen Schloss gesichert. Was steckt hinter diesem Sicherheitswahn? Als ich das meinem Schwiegervater erzählte, sagte er den rätselhaften Satz: »Kein Wunder, es wird nirgendwo soviel geklaut wie auf dem Friedhof.« Ich habe lange darüber nachgedacht und kann mir das nur so erklären: Nachts kommen die Toten aus ihren Gräbern und holen sich die Gießkannen. Deshalb werden die alle angekettet. Wenn das so ist, dann werde ich in meinem Testament verfügen, dass ich mit mindestens einer Gießkanne bestattet werden möchte. Besser gleich mit drei. Gießkannen scheint man ja da unten am nötigsten zu brauchen. Gehörte wahrscheinlich auch zur Standardgrabbeigabe der ägyptischen Pharaonen. Dabei heißt es immer, man könne sowieso nichts mitnehmen und das letzte Hemd habe keine Taschen. Wäre aber besser, wenn es welche hätte, um eine Gießkanne mit in die Grube zu nehmen. Ich kann mir nur nicht vorstellen, was man im Grab damit macht, wässert man die Radieschen, die man von unten betrachtet?

 

Ich nehme eher an, es ist eine Vorbereitung auf das Jüngste Gericht. Das kündigt sich ja durch Trompeten an. Die Trompeten rufen zum Jüngsten Gericht, und die Toten üben schon mal auf Gießkannen, die verrotten nicht so schnell wie echte Trompeten. Das wird ein beeindruckendes Schauspiel, wenn das Ende der Welt dereinst bevorsteht und die Toten aus den Gräbern kommen, um auf grünen, blauen und gelben Plastikgießkannen zum Jüngsten Gericht zu blasen. Das klingt auch viel apokalyptischer als wenn sie Trompete spielen würden. Es kann aber wahrscheinlich erst zur Apokalypse geblasen werden, wenn die Toten eine bestimmte Anzahl von Gießkannen unter die Erde gebracht haben.

Und deshalb ist es wichtig, dass wir die Gießkannen auf dem Friedhof gut anketten.

Nachtrag: Die ganze Angelegenheit gestaltet sich übrigens noch viel komplizierter, wenn nicht grauenvoller. Als ich den Friedhof ein weiteres Mal inspizieren wollte, war er geschlossen und am Tor hing eine Mitteilung der Friedhofsverwaltung: »Leider werden immer wieder Gießkannen und andere Gegenstände hinter den Grabmalen gelagert, obwohl zu diesem Zweck Gießkannenständer an den Zapfstellen bereit stehen. Bedauerlicherweise kommt es deswegen zu teilweise schweren Verletzungen unserer Friedhofsmitarbeiter…«

Schlimm! Die Toten legen die Gießkannen also mit Absicht hinter die Grabmale, in der Hoffnung, dass Friedhofsmitarbeiter dadurch zu Tode kommen und das apokalyptische Blasorchester verstärken.

Moa

Schon seit meiner Kindheit fasziniert mich der Moa, ein riesiger, flugunfähiger Vogel, der auf Neuseeland lebte. Ich begeistere mich aber nicht grundsätzlich für ausgestorbene Riesentiere. Das Riesenfaultier interessiert mich zum Beispiel überhaupt nicht, denn in unserem Haushalt lebte fast zwanzig Jahre ein Exemplar, dass sich als mein Sohn ausgab. Mit Riesenfaultieren bin ich durch. Mit Moas verhält sich das schon anders. Sie wurden bis zu 3,50 Meter groß und verteidigten sich durch kraftvolle Fußtritte. Wissenschaftler der University of Adelaide fanden jetzt zweifelsfrei heraus, dass Moas überwiegend braunes Gefieder hatten, um sich zu tarnen. Das war vielleicht keine so gute Idee. Wenn sich so ein riesiger Moa hinter einem braunen Busch versteckte, dann war vor allem der Busch gut getarnt. Die Moas waren schlechte Tarner, denn sie sind ausgestorben, Büsche gibt es dagegen immer noch auf Neuseeland. Die Maoris haben die Moas ausgerottet. Maoris sind keineswegs Anhänger der Lehren von Mao tse Tung, obwohl es nicht ausgeschlossen ist, dass es maoistische Maoris gibt. Ein Erfolg versprechender neuseeländischer Romantitel wäre also »Marodierende maoistische Maoris auf Moajagd«

Selbstanzeige

Ich muss zugeben, dass mir der ständige Ankauf von CDs mit Steuersünderdaten durch die Bundesregierung immer einen Schock versetzt. Grundsätzlich befriedigt das Vorgehen meinen Gerechtigkeitssinn, denn ich persönlich habe überhaupt keine Möglichkeit, Geld an der Steuer vorbei in die Schweiz zu schaffen. Einfach mangels Geld oder weil mein Steuerberater nicht kreativ genug denkt. Trotzdem ist es so, dass auch ich das deutsche Finanzamt und damit eigentlich das deutsche Volk betrogen habe. Das lastet mir auf der Seele und deshalb will ich es hier in aller Öffentlichkeit beichten: Ich heiße Hans und bin ein Steuersünder. Es passierte im Jahr 2008. Ein Händler machte mir ein tolles Angebot. So billig bekäme ich das nie mehr und ich sei doch Journalist und könne alles absetzen. Ich bin solchen Argumenten oft sehr hilflos ausgeliefert und kaufte also die Ware. Ich ließ mir eine Quittung geben und setzte den Betrag von €2,50 in der Steuererklärung unter »Fachbücher« ab, obwohl das gar nicht stimmte. Ich wollte die Bücher eigentlich nur lesen. Es handelte sich um »Goldene Beine« von Gerd Müller und »Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters« von Friedrich Gabriel Sulzer. Gerd Müllers Buch wurde mit freundlicher Unterstützung der Mars Schokoladen GmbH geschrieben und glänzt durch fantastische Kapitelüberschriften wie »Müller und Shaw« oder »Die Vorteile des Branco Zebec«. Noch großartiger ist die Naturgeschichte des Hamsters, darin erfährt man: »So viel und so verschieden der Hamster das Fressen liebt, so wenig ist er ein Liebhaber vom Trinken. Er säuft sehr selten und nicht viel auf einmal.« Ein Hamster könnte also kaum Ratspräsident der evangelischen Kirche werden. Papst aber auch nicht, denn »zu Ende April fangen sie an, sich zu begatten«. F. G. Sulzer muss jedoch zugeben: »Die Art, wie diese Tiere ihre Liebeshandlungen verrichten ist mir nicht bekannt, da sie unter der Erde geschieht.« Wie gesagt, ich habe mich hinreißen lassen, diese faszinierenden Werke von der Steuer abzusetzen, obwohl ich wusste, dass ich sie niemals in einem Text verwenden würde, da ich weder für Hamstermagazine noch Gerdmüllerorgane schreibe.

Vollendete Täuschung

Heute habe ich zum ersten Mal meine Zahnpasta bei Rewe gekauft, und ich glaube, das könnte zur Gewohnheit werden. Es macht einfach Spaß, die Tube anzuschauen, sie löst in mir ganz zahnpastauntypische Gefühle aus, Heiterkeit, Verblüffung, Staunen, ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Die Zahnpasta heißt »Rot Weiss«, und obwohl ich es inzwischen besser wissen müsste, erwarte ich jeden Abend, dass eine rotweißgestreifte Paste aus der Tube kommt. Sie ist aber nur weiß. Ein sanitäres Trompe d’œil. Das ist ganz große Kunst. Hier wird gekonnt mit den Erwartungen des Zähneputzers gespielt. Das ist wie weißes Schwarzbrot oder grüner Rotkohl. So wird Zähneputzen zu einem fast surrealen Akt, oder wäre »Rot Weiss« eher die Zahnpasta der Fluxusbewegung?

Egomanie

34% Prozent aller Bürger über vierzehn Jahren haben sich in einer Umfrage dazu bekannt, schon einmal das Internet nach dem eigenen Namen durchforstet zu haben. Ich bin auch über vierzehn und muss zugeben, dass ich das ebenfalls schon mal getan habe. Natürlich auch nur einmal. Am Tag. Öfter würde sich nicht lohnen, weil sich da nicht so viel verändert. Ich bringe es im Moment auf 30600 Treffer bei Google, was schon mal besser war. Meine Frau bringt es allerdings nur auf sieben Treffer. Sechs davon, weil sie Mitglied des Fördervereins im Gymnasium unserer Tochter ist. 30600 und 7, diese Zahlen vermitteln einem erst mal sehr anschaulich die eigene Bedeutung, die allerdings außerhalb des Internets stark abnimmt. Im Rahmen eines Beziehungsgesprächs bringt der Satz: »Wie redest du denn mit einem, der 30600 Treffer hat«, überhaupt keine Vorteile. Das macht nicht den geringsten Eindruck. Nur in Kollegenkreisen kann man einen gewissen Neid damit hervorrufen, obwohl dort das so genannte »Ego-Googeln« eigentlich verpönt ist, jedenfalls darf man es nicht zugeben. Wer Ego-googelt fühlt sich schuldig, das ist so etwas wie onanieren. Wobei es sich beim Onanieren um eine Tätigkeit mit gewissen Höhepunkten handelt, während das Selbergoogeln häufig deprimierend wirkt. Wenn man beispielsweise feststellen muss, dass seit Wochen nichts Neues über einen geschrieben wurde, außer in einem Artikel in einer Dresdner Zeitung. Ein Totalverriss einer Lesung, die ich eigentlich als ganz gelungen im Gedächtnis behalten hatte. Anscheinend war sie das aber gar nicht. Den größten Teil der Treffer machen Angebote von Buchhändlern und -Versendern aus. Es ist frappierend, wie viele Firmen es gibt, die anderen Menschen meine Bücher zuschicken wollen. Man könnte fast glauben, die wollten sie unbedingt loswerden. Auch der längst verstorbene Bischof Christian Zippert und die Dortmunder Spedition Zippert & Co mischen sich unter die Treffer für meinen Namen, dabei ist auffällig, dass es so gut wie keine Verrisse über Speditionen gibt. Man könnte ja immerhin anmerken, dass sie manchmal einen Hänger haben oder überladen wirken. Auch der Bischof wird fast ausschließlich positiv beurteilt. Das gibt mir zu denken. Wahrscheinlich sollte ich umschulen und Spediteur für theologisches Gedankengut werden.