Dystopische Kurzgeschichten

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Dystopische Kurzgeschichten
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Dystopische Kurzgeschichten





1. Auflage, erschienen 02-2021



Umschlaggestaltung: Romeon Verlag



Text: Hans-Martin Breninek



Layout: Romeon Verlag



ISBN (E-Book): 978-3-96229-839-5







www.romeon-verlag.de







Copyright © Romeon Verlag, Kaarst



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 abrufbar.




HANS MARTIN BRENINEK



Dystopische

Kurzgeschichten





Mit 80 Jahren bezeichnet sich der Autor Hans Martin Breninek als Spätzünder mit vielseitiger Lebenserfahrungen








Variante 1






Nach 70 Jahren endlich Gewissheit im Allgäu



Ich bin am 6. Juni 1941 in Köln geboren. Es war Krieg und mein Geburtsort war nicht das Dreifaltigkeits-Krankenhaus in Köln-Lindenthal, sondern – während eines Bombenangriffs – der bombensichere Tiefkeller.



Was die Menschen in den Städten damals mitgemacht haben, ist für diejenigen, die es nicht miterlebt haben, kaum zu beschreiben. Eine meiner ersten Erinnerungen ist, dass meine Mutter mit mir eine Kellertreppe hinunterging und unten im Gang Leute auf Bänken saßen. Ungefähr zwei oder drei Jahre alt muss ich da gewesen sein. Von da an habe ich immer mehr wahrgenommen, woran ich mich bis heute erinnern kann. Nach einem Bombenangriff kletterte meine Mutter mit mir durch brennende Trümmerteile, um nach einem scheinbar sicheren Ort zu suchen. Von der Schulter meiner Mutter hatte ich einen guten Überblick und sah Körper von Frauen, Männern und Kindern, die tot dalagen. Einen Hund sah ich dazwischen herumlaufen. Alle, die überlebt hatten, liefen wie aufgescheuchte Ameisen kreuz und quer, mit Kindern auf dem Arm oder mit Toten und Verletzten über den Schultern. Ich sah tote Kühe und Pferde mit dicken Bäuchen auf dem Rücken liegen. Nach einem Bombenangriff auf die Deutzer Brücke sah ich beim Herunterklettern von einem Lkw unten einen Soldaten am Boden liegen. Beide Beine waren ihm abgerissen. Aber er hatte das noch nicht verstanden, er wollte aufstehen. Zwei Soldaten versuchten ihn zu beruhigen. Die Deutzer Brücke war heil geblieben und jeder, der laufen konnte, lief über die Brücke in den Bunker. Meine Mutter erzählte mir später, dass ich im Bunker als Erstes gesagt hätte: „Hier stinkt es!“ Hätte ich gewusst, dass ich einmal darüber schreiben würde, dann hätte ich mir noch viel mehr von ihr erzählen lassen.



Gegen Ende des Krieges wurden wir ins Sauerland in Sicherheit gebracht. Es muss 1945 gewesen sein, denn als ich dort morgens aus dem Haus kam, standen draußen Panzer vor dem Haus. Ein amerikanischer Soldat saß obendrauf und rasierte sich. Ich rief: „Good morning!“, was meine Mutter mir bestimmt vorgesagt hatte. Ihm gefiel das wohl, denn er warf mir eine Tafel Schokolade herunter. Der Krieg war vorbei. Nur vereinzelt wurde noch Widerstand geleistet. Wir hatten in der Familie fast keine Opfer zu beklagen – bis auf einen Onkel von mir, einem Vater von sechs Kindern. Er starb 1958 an den Folgen seiner Kriegsverletzung.



Nach den Schrecken des Krieges haben wir dann wiederaufgebaut, viel gearbeitet, das war unsere Therapie. Keiner von uns hatte eine psychotherapeutische Behandlung nötig – dachte ich lange. Erst 2015, als massenhaft Flüchtlinge kamen und in den Medien schreckliche Filme und Bilder vom Krieg aus Syrien, dem Irak und aus Libyen gezeigt wurden, kamen meine Erinnerungen wieder hoch. Ich träumte viel und sah die Bilder, die ich als Kind vom Zweiten Weltkrieg her kannte. Im Fernsehen sah ich, wie Kinder durch die Trümmer liefen und nach ihren Angehörigen suchten. Wie eine Person einen anderen Toten oder Verletzten auf der Schulter trug. Was ich in den Abendnachrichten sah, wiederholte sich nachts im Traum, nur mit europäischer Kulisse. Was ich dann aber auch träumte, spielte nicht in der Stadt zwischen Trümmern, nein, es war in einem Dorf und im Wald. Ich sah Laub- und Nadelbäume, zwischen denen eine Person auftauchte, die eine andere über der Schulter trug. An dieser Stelle des Traumes wurde ich dann jedes Mal wach. Anfangs wusste ich nichts mit diesem Traum anzufangen, bis mir die Zeit nach 1951, nach dem Krieg, wieder einfiel.



Das war die Zeit, als ich in Wertach im Allgäu, in einem Kinderheim namens Sonnenhof, in den Ferien war. Die Kinder mussten sich dort beim Spazierengehen immer zu dritt an der Hand halten und singend wandern. Das gefiel mir gar nicht, denn das Singen der Kinder vergraulte doch alle Tiere. Schon beim ersten Spaziergang habe ich mich in die Büsche geschlagen. Den Weg hatte ich mir gemerkt und so bin ich leise, parallel zum Weg, durch den Wald zurückgegangen. So konnte ich Vögel sehen und ihnen lauschen. Auf einmal sah ich auch ein Reh mit seinem Jungen. Wie versteinert wartete ich ganz leise, doch plötzlich liefen beide weg und auch ich hörte lautes Knacken. Sollte jetzt etwa ein Hirsch oder ein Wildschwein kommen? Ich hockte mich leise hin. Aber es war kein Wildschwein, es war ein Mann, der einen menschlichen Körper auf der Schulter trug. Das machte mir viel mehr Angst als das, was ich im Krieg gesehen hatte, denn damals beschützte mich ja meine Mutter; hier war ich allein. Der Mann machte sich daran, den Körper zu vergraben, was erschreckend lange dauerte. Endlich mit dem Verbuddeln fertig, ging der Mann in die Richtung, aus der er gekommen war, wieder weg. Ich war froh, mich wieder bewegen zu können, und bin, ohne an Spechte oder Rehe zu denken, zurückgelaufen.



Als ich im Kinderheim ankam, wurde ich schon erwartet. Vor allen Kindern wurde ich getadelt und als Strafe durfte ich nicht mehr mit den anderen Kindern wandern. Stattdessen musste ich mit den beiden Söhnen des Heimleiters Meierhover im Kinderheim die Hühner, Ponys und Perlhühner füttern und beim Bauern Butter, Eier, Milch und Käse holen. Innerlich habe ich triumphiert. Man wollte mich bestrafen, aber die Strafe gefiel mir viel besser als das Vertreiben der Tiere im Wald. Dann fiel mir auf, dass Schwester Maria nicht mehr da war. Sie hatte immer „der kölsche Jung“ zu mir gesagt. Ich mochte sie und sie mochte mich. Aber dass sie nun plötzlich weg war, ohne Tschüss gesagt zu haben, fand ich nicht gut. Es hieß, sie sei nach Amerika zu ihrer Schwester gereist. Aber warum war denn dann die Polizei gekommen? Als die vier Wochen Erholungszeit zu Ende waren, bekam ich vom Bauern eine große Kuhglocke geschenkt: „Die ist 150 Jahre alt, die hast du dir wirklich verdient.“ Mit der Kuhglocke und vielen unbeantworteten Fragen kam ich nach Köln zurück.



In Köln lief das Leben dann seinen Weg. Schule, Ausbildung und Kurse. Weiterbildung, Familiengründung, zwei Söhne und, nach sieben Jahren, die Scheidung. Die Jungens waren drei und sechs Jahre alt und besonders der Dreijährige hätte die Mutter noch gebraucht. Einfach waren die folgenden Jahre nicht. Dann waren meine Jungens auf einmal erwachsen und ich Rentner. Ich hätte jetzt mehr Zeit für die Söhne gehabt als ein berufstätiger Vater, aber die Söhne gingen schon ihren eigenen Weg. Da blieben mir nur noch Haus, Garten und die Nachrichten aus aller Welt. Der Krieg in Syrien, Irak und Libyen. Schreckliche Bilder, die gezeigt wurden. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die Sender wetteiferten, wer die grausamsten Bilder hatte, im Kampf um die Einschaltquote. Und dann hat es mich doch erwischt. Eines Nachts wurde ich nass geschwitzt wach. In meinen Träumen hatten sich die Bilder vermischt: was ich erlebt habe im Zweiten Weltkrieg und die Kriege im Irak oder Syrien aus dem Fernsehen. Im Laufe des Traumes hockte ich plötzlich in einem Wald und sah jemand mit einem Verletzten oder Toten durch den Wald kommen. Unter Steinen und Geröll wurde der Körper versteckt. Siebenundsechzig Jahre hatten meine Kindheitserinnerungen in mir geschlummert. Während meiner Träume konnte ich nicht erkennen, ob die Kriegsbilder in Syrien, Irak oder in Köln spielten. Einmal sah ich den Kölner Dom, das musste dann Köln gewesen sein. Die Gestalt mit dem Körper über der Schulter konnte ich nun mit meiner Erinnerung an das Allgäu verknüpfen. In dieser Nacht, mit dem Schrecken in den Knochen, beschloss ich den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich musste ins Allgäu fahren. Die Stelle, wo die Person begraben liegen musste, würde ich vielleicht noch finden können. Mitte März fuhr ich also nach Wertach.



Spätabends kam ich in Wertach an, packte meine Sachen aus, duschte und machte einen Spaziergang, bevor ich schlafen ging. Vorm Einschlafen dachte ich über die ersten Eindrücke in Wertach nach und wie viel sich verändert hatte.



Morgens stand ich früh auf. Direkt nach dem Frühstück machte ich mich auf den Weg, um die Stelle zu finden, wo der Körper damals versteckt worden war. Vielleicht war er ja immer noch nicht gefunden worden. Der Weg ging den Berg hoch, aber da war nichts, woran ich mich erinnern konnte. In 70 Jahren kann aus Nadelwald eben auch Laubwald werden, dann sieht die Umgebung ganz anders aus.

 



Es wurde zwei Uhr und ich bekam Hunger. Im Dorfkrug bestellte ich Spätzle mit Schweinebraten und einen Salat, dazu ein Bier. Es dauerte nicht lange und es sprach mich einer der Gäste an. Er war mir vorher schon aufgefallen. Wenn er etwas sagte, dann kam das bei den anderen offenbar gut an. Und er redete nicht nur, er fragte auch viel. „Er wird wohl in Wertach was zu sagen haben“, dachte ich mir. Mich fragte er, was mir denn an Wertach so gefalle, dass ich ausgerechnet hierherkäme.



„Na, das fängt ja gut an“, dachte ich mir und lud ihn zu einem Bier ein. Dann erzählte ich ihm, dass ich vor 70 Jahren schon einmal in Wertach gewesen sei. Er lachte laut und fragte: „Bist du hier geboren?“ „Nein“, sagte ich, „ich war im Kinderheim Sonnenhof in der alten Mühle.“ „Ach so“, sagte er, „das Kinderheim gibt es so schon lange nicht mehr. Jetzt sind Alleinerziehende dort, die mit ihren Kindern Urlaub machen.“ Ich überlegte und folgerte: „Da ich damals wohl acht Jahre alt gewesen war, muss ich 1949 im Kinderheim gewesen sein.“ Franz, inzwischen duzten wir uns, erzählte dann Folgendes: „Das muss die Zeit gewesen sein, bevor das Kinderheim 1949–1954 vorübergehend geschlossen wurde. Der damalige Kinderheimleiter hat ein Verhältnis mit einer der Kinderschwestern gehabt, di

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