Buch lesen: «Eine Woche neue schöne Welt»

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Hans Meyer

Eine Woche neue schöne Welt

Wie eine Computerschwäche die Welt verändern wird

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Donnerstag – Shopping

Donnerstag !

Freitag – Kulturzeit

Freitag !

Samstag – Sport

Samstag !

Sonntag – Spirituell

Sonntag !

Montag – Arbeit

Montag !

Dienstag – Gesundheit und Soziales

Dienstag !

Mittwoch – Weltproduktion

Impressum neobooks

Donnerstag – Shopping

10.00 Uhr am Morgen. Ich recke und strecke mich. Ein wohliges Gefühl von Trägheit und Langsamkeit durchströmt meinen Körper. Heute ist Donnerstag. Donnerstag, der 6. Mai. Welches Jahr haben wir denn? Ach, wenn man schon so viele Jahre auf dem Buckel hat wie ich, ist das eh‘ egal. Ich schaue auf das große Display über der Eckbank, die in der Ecke meiner Küche steht. 2049 steht da. Also, es ist der 6. Mai 2049. Na ja, gut zu wissen. Oder auch nicht.

Jedenfalls bin ich froh, dass ich heute Morgen entschieden habe, nicht arbeiten zu gehen. Ist ja auch ganz leicht, so wie immer. Ich hab‘ meinem Coach mitgeteilt, dass ich heute nicht möchte. Er hat dann alles durchgeführt und alle informiert. Obwohl es bei mir eher selten vorkommt, dass ich „blau“ mache. Im Gegenteil, das kommt eigentlich viel seltener vor als bei meinen jüngeren Kollegen. Aber heute hatte ich eben keine Lust.

In meiner ganzen Wohnung ist gerade „Jumpin’ Jack Flash“ von den Rolling Stones zu hören. Ich glaube, das ist aus dem Jahr 1968. Da war ich noch nicht geboren. Muss aber eine wilde Zeit gewesen sein. Der Beginn der ernsthaften Auseinander­setzung der jungen Generation mit den seltsamen, militaristischen Ansichten der alten Säcke. Und es war der Beginn einer massiven Friedensbewegung.

Gut, dass es heutzutage keinen Aufstand der Jungen gegen die Alten gibt. Da hätte ich nichts zu Lachen. Unsere Wohnanlage hat 12 Wohneinheiten. Außer mir sind alle Mitbewohner wesentlich jünger. Sie sind alle jünger als 25 Jahre. Aber ich als „Greis“ habe ein fantastisches Verhältnis zu meinen Mitbewohnern. Wir kommen prima miteinander klar und unternehmen sehr viel zusammen.

Nur meine Musik mögen die nicht. Ich bin ein Fan der Rockmusik der 60er, 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Und ich höre gern „Heavy Metal“. Das ist den vielen jungen Kids nur lautes, unmotiviertes Geschrei und Getöse. Wenn sie meine Musik hören, lächeln sie nur, verziehen das Gesicht und versuchen, zu entkommen.

Deshalb ist es auch gut, dass meine Wohnung in der neuen Wohnanlage absolut schallsicher zu den Nachbarwohnungen ist. Die neue Technik des Wohnungsbaus ist schon fantastisch. Deshalb läuft bei mir eben die Musik der Rolling Stones und auf den 12 Bildschirmen meiner Dreizimmerwohnung sind die Bilder eines Life-Auftritts der Stones zu sehen. Meine Güte, sind da viele Leute zu sehen. Solche großen Menschenmengen sind heute kaum noch möglich, höchstens zur Pilger-Haddsch. Da geht es aber nicht so chaotisch zu.

Ja, ich habe eine Dreizimmerwohnung. 100 Quadratmeter, ausgestattet mit einer zeitgemäßen Technik. Seit etwa zehn Jahren wohne ich hier. Am Anfang war ich äußerst skeptisch und war überzeugt, dass ich nicht lange bleiben würde. Das hat sich aber schnell gelegt und ich fühle mich hier sauwohl. Das Gebäude, wenn man es denn so nennen will, ist kreisrund mit einem Durchmesser von 48 Metern. Am Rand ist das Gebilde, das von oben wie eine Torte aussieht, etwa 3,20 Meter hoch und in der Mitte etwa vier Meter hoch. Das Dach ist begehbar und mit einer dicken Schicht Humus bedeckt. Dort wachsen Gras und viele Blumen. Wenn ich davorstehe, denke ich immer an die Fernsehgeschichten der Teletubbies, eine Kinder­sendung um die Jahrtausendwende. Die hatten auch solche hügeligen Häuser. Die waren nur kleiner und hatten auch keine Veranda, die gleichzeitig Ruheplatz, Wohnungseingang und Stellplatz für mein Fahrrad und mein Elektroauto sind. Die Fensterfront zu der Veranda ist etwa zwölf Meter breit. Jede der zwölf Wohnungen, die kreisrund um den Mittelteil des Gebäudes angeordnet sind, ist von der Struktur her gleich. Rechts und links von der Fensterfront sind je zwölf Meter gerade Wände zu den Nachbarwohnungen, die aber so dicht sind, dass absolut nichts durchkommt. Weder akustisch noch sonst irgendetwas.

Der gebogenen Fensterfront gegenüber ist ein ebenfalls gebogenes Stück Wand, das zur Hausmitte hinführt. Die Wand ist etwa fünf Meter lang und hat in der Mitte eine 1,80 Meter breite Doppeltür. Dieses komplette Wandstück kann bei Bedarf komplett im Boden versenkt werden. Das wird dann genutzt, wenn man größere Objekte in die Wohnung hineinbringen will, zum Beispiel einen Whirlpool oder eine neue Küchenzeile. Der innere Bereich ist individuell gestaltbar. Ich habe bewusst auf jegliche Art von dicker Wand verzichtet, habe aber mehrere funktionale Bereiche eingerichtet. Auf der einen Seite, nahe der Fensterfront, sind ungefähr 16 Quadratmeter Trimm-Dich-Bereich. Dort stehen ein Stepper, ein Ergometer, eine Turnmatte und eine Fitnessstation für Butterfly und Ähnliches. Hinter diesem Bereich sind zwei Duschen und zwei Toiletten, die durch leichte Holzwände und Holztüren von dem Rest der Wohnung abgetrennt sind. Dem Fitnessbereich gegenüber ist ein Küchenbereich, der nicht durch irgendwelche Wände abgetrennt ist. Ein äußerst effektives Abluftsystem sorgt dafür, dass selbst bei intensiver Nutzung durch Kochen und Braten der Rest der Wohnung nicht durch die Küchendüfte beeinträchtigt wird. Bestandteil der Küche ist neben einer gemütlichen Sitzecke mit Esstisch ein geräumiger Kühlschrank, ein großer Eisschrank und zwei Vorratsschränke. Alles, was man so in einer Küche zu finden wünscht, ist dort immer frisch und in ausreichender Menge vorhanden. Sollte mal etwas fehlen, kann man dem Kühlschrank oder dem Vorratsschrank seinem Wunsch mitteilen und innerhalb von Sekunden oder wenigen Minuten ist das Gewünschte vorhanden. Dazu gibt es zentral in Siedlungen oder Städten Lagerräume und Kühlräume mit Lebensmitteln und allem, was man so im Haushalt braucht. Diese Lager werden ständig überwacht, nach Erreichen des Ablaufdatums entsorgt und neu aufgefüllt.

Jetzt kommt eine wichtige Frage, die einem erst nach längerem Nachdenken kommt: „Wo ist denn der Schlafplatz?“. In der Mitte vor dem Fenster ist ein scheinbar freier Platz, der aber gar nicht frei ist. Abends wird dort eine Scheibe von etwa 2,50 Meter Durchmesser unterirdisch geöffnet und ein, über zwei Meter breites, kreisrundes Bett wird nach oben gefahren. Das ist der Platz zum Schlafen. Und zum Träumen. Wenn ich dann am Morgen mein Bett verlasse, wird es automatisch wieder abgesenkt und der Platz ist wieder frei. Unterirdisch wird das Bett gesäubert und komplett hergerichtet. Einmal pro Woche wird das Bett neu bezogen und gereinigt.

Meine Nachbarn haben nichts vor den Fenstern, keine Gardinen oder Jalousien. Anders bei mir! Ich habe schon Jalousien vor den Außenfenstern. Ich möchte eben manchmal meine Privatsphäre haben. Auch wenn meine Mitmenschen darüber lachen, ich habe eben meine Marotten und pflege die auch. Ist aber kein Problem, wird von allen akzeptiert. Sie wissen alle, was ich mitgemacht habe und lassen mich in Ruhe. Allerdings glaube ich, ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der es schafft, sogar elektrische Schaltungen zu nerven und schwermütig werden zu lassen. Ich muss grinsen, wenn ich daran denke.

Allein der verzweifelte Versuch, mich zu überreden, meinen damaligen Aufenthaltsort, einen Bauwagen, der stark der Behausung ähnelte, wo in der Kindersendung Löwenzahn in den 80ern und 90ern des 20. Jahrhunderts der Peter Lustig wohnte, zu verlassen. Mein Coach hörte sich zu der Zeit manchmal sehr verzweifelt an. Ich glaube, ich bin dann vor zehn Jahren umgezogen, um ihn nicht zum Weinen zu bringen.

Die Mitte unseres Gebäudes, das Versorgungs- und Kommunikationszentrum unseres Hauses, ist der Bereich, in dem ich meine Nachbarn treffe, von wo aus ich meine vielen Unternehmungen starte und es ist der Bereich, den man früher gern als Versorgungs- und Servicebereich bezeichnete. Dort laufen die Versorgungsleitungen für Strom, Wasser und Verpflegung zusammen. Auch die Entsorgung, also Abwasser, Abfall und Fäkalien werden dort behandelt. Normalerweise wird das alles von Maschinen geregelt, die das auch perfekt machen. Aber ab und zu kommt auch mal ein Typ vorbei, der sich das alles ansieht und kontrolliert. Manche Menschen haben also schon komische Wünsche bei der Berufswahl. Einer unserer Nachbarn aus einem Haus südlich von uns hat sich doch tatsächlich als Müllmann ausbilden lassen und übt diesen Beruf mit Inbrunst aus. Seltsam, seltsam.

Der Bereich im Zentrum des Hauses ist kreisrund, hat einen Durchmesser von fast zwanzig Metern und ist hell erleuchtet und bunt. Der Boden ist ein teppichartiges Material, gelb und stets sauber. Die Wände sind leuchtend grün und mit vielen Bildern behängt. Der Himmel ist hellblau gestrichen und dynamisch gestaltet. Dort gibt es vorbeiziehende Wolken und zwitschernde Vögel. Das sind allerdings Projektionen und man vermisst überhaupt nicht, dass es keine Fenster gibt.

Hier, in der Mitte des Hauses, gibt es auch eine kleine Bar, die immer von den Bewohnern des Hauses oder von einem der Nachbarhäuser besucht wird. Hier trifft man sich zum geselligen Zusammensein oder um gemeinsame Projekte und Unternehmungen zu besprechen. Hier werden auch sexuelle Kontakte zwanglos und ohne großen Aufwand geknüpft. Zweisamkeit ist zwar möglich, wird aber heutzutage eher selten gepflegt. Deshalb gibt es auch gut gepflegte, stimmungsvolle Séparées, die man bei erfolgreicher Akquise dann beliebig oft und beliebig lange benutzen kann. Die Bar sieht in unserem Fall aus wie eine exotische Strandbar, die man eher am Strand von Hawaii erwarten würde. Vor der Bar sind Tische, Stühle und ein paar Liegestühle.

Möchte man allerdings die Umgebung verlassen, geht das ebenso problemlos. An drei Stellen kann man den bunten Bereich um die Bar nach unten verlassen. In der Etage direkt unterhalb des Kommunikationsbereichs ist es nicht weniger bunt. Allerdings ist hier der Boden magentafarbig, die Wand ist hellgrau und die Decke weiß. Es stehen Kabinen in einer kleinen Halle. Meistens sind es zwischen zwei und fünf Kabinen, die man betreten und sich hinsetzen kann. Man wird dann automatisch bequem angeschnallt. Dabei wird man freundlich begrüßt und nach dem Fahrziel gefragt. Wenn man dann das Fahrziel angibt, bewegt sich die Kabine Richtung einer Tür. Dort reiht sich das Gefährt in den fließenden Verkehr eines schienenartigen Systems ein. Das ganze System verläuft unterirdisch, ist eng vernetzt und ich kann in einer Umgebung alle Ziele erreichen, die es zu erreichen gibt. Die Kabinen gibt es als Ein-, Zwei-, Vier- oder Achtsitzer, je nachdem, ob man allein oder als Gruppe wegfahren möchte. Ist eine gewünschte Kabine momentan nicht verfügbar, bestellt man eine solche Kabine, die innerhalb von zwei Minuten dann auch erscheint. Dann steht der wilden Fahrt nichts mehr im Wege.

Bei mir sieht das meist so aus:

Die Stimme fragt freundlich: „Wo möchten Sie hin?“ Ich: „Ich will hier raus!“ Die Stimme: „Ja, Hans, das weiß ich doch. Aber ich brauche mindestens einen Hinweis auf Ihr Ziel.“ Ich: „Was ham‘ wir denn für einen Wochentag?“ Die Stimme: “Es ist Samstag und es ist 10 Minuten nach Mittag. Also, Hans, da wir uns in Frankfurt am Main befinden und Sie ein Trikot von der Eintracht anhaben und die Eintracht in etwa 3 Stunden und 20 Minuten ein Heimspiel gegen Manchester United hat, Sie ein Fußballfan sind, gehe ich davon aus, dass Sie zum Stadion wollen. Ist das richtig?“ Ich: „Exakt, geht doch.“ Die Stimme: „Es ist immer wieder eine Freude, sich mit Ihnen zu unterhalten. Möchten Sie ein Bier zum ‚Anheizen‘?“ Ich: “Ja, aber ein alkoholfreies.“ Die Stimme: „Das weiß ich doch. Es befindet sich bereits in dem Glas, das rechts in Ihrer Sitzlehne ist. Prost und gute Fahrt. Wir sind in etwa 16 Minuten im Stadion.“

Will man allerdings eine größere Distanz zurücklegen, gibt es ebenfalls in dieser Etage eine Halle mit einer solchen Fahrmöglichkeit. Das Gefährt sieht aus wie eine überdimensionale Gewehrkugel, rund, mit einer Länge von sechs Metern und einem Durchmesser von 2,20 Metern. Es gibt genügend Platz für bis zu vier Personen und viel Gepäck. Die Sitze sind mit einer dickflüssigen Masse gefüllt und bestehen aus einer Schale mit einer weichen, elastischen Kunststoffhülle. Man setzt sich hinein und ist dann komplett von der Flüssigkeit umgeben. Das soll Sicherheit bei Störungen und Unfällen geben. Ich bin da eher skeptisch, da dieses Gefährt Geschwindigkeiten von über 3000 Kilometern pro Stunde erreichen kann. Die Fahrstrecken sind Röhren, die vollkommen luftlos sind und in denen die Gewehrkugel-ähnlichen Fahrzeuge auf einem Magnetkissen in kurzer Zeit riesige Entfernungen zurücklegen können.

Eine Fahrt von Frankfurt nach New York dauert zum Beispiel weniger als zweieinhalb Stunden. Etliche Passagiere haben da einen Anfall von Klaustrophobie. Deshalb werden sie vor Antritt der Reise mit entsprechenden Pharmaka in eine gute Laune gebracht. Wenn man das Geschoss-ähnliche Gefährt betreten hat und abfahrbereit ist, wird aus einem etwa 5 Kilometer langen Seitenarm der Röhre die Luft abgepumpt, die Schleuse des Seitenarms zur Hauptröhre geöffnet und das Fahrzeug in diesem Seitenarm auf die Höchst-geschwindigkeit gebracht. Dann tritt es in die Hauptröhre ein und der Seitenarm wird wieder geschlossen. So können innerhalb kurzer Zeit viele Fahrzeuge gestartet werden. Alle Fernziele sind mit solchen Röhren ausgestattet. An den Zielstationen gibt es dann entsprechende Seitenarme zum Abbremsen der Fahrzeuge.

Seit es die Röhren gibt, wird komplett auf Flugzeuge verzichtet, da man mit wesentlich weniger Aufwand und ohne Störungen durch das Wetter von jedem Punkt der Erde jeden anderen Punkt der Erde in weniger als sieben Stunden erreichen kann. Natürlich gibt es noch Flugzeuge. Aber das sind Maschinen für Hobby und Freizeit.

Na ja, ist eben alles perfekt, das mit dem Reisen. Ist aber jetzt egal. Ich habe lange genug rumgetrödelt. Man glaubt gar nicht, was das am Morgen für eine Toiletten- und Duschorgie ist, wenn man ein alter Sack ist wie ich. Jetzt bin ich aber fertig angezogen, sauber und entschlackt. Also kann’s jetzt losgehen. Es ist kurz nach zwölf Uhr, ich habe meinen Kühlschrank gecheckt und möchte einkaufen. Das ist allerdings sehr ungewöhnlich. Normalerweise ist das ungewöhnlich. Kaum einer geht noch einkaufen. Eigentlich überprüfen Kühlschrank und Vorrats­schrank ihren Inhalt selbstständig. Ab und zu werde ich dann mal gefragt, ob ich dieses oder jenes haben möchte. Ist ja Saison und das Zeug ist verfügbar und lecker. Aber ist gehe eben ab und zu mal in eines der Geschäfte. Vielleicht kann man da Kontakte knüpfen, schwatzen und jemanden nerven. Gelingt mir fast regelmäßig.

Ich gehe also zu einer der Kabinen und steige ein. Bevor mich das Teil begrüßen kann, sage ich schnell: „Ich will zum REWEKA, aber nicht den in der Nähe. Ich will zu dem auf der anderen Mainseite.“ Die Stimme: „Hallo Hans. Na klar, dauert etwa sieben Minuten. Kann ich Ihnen was anbieten?“ Ich: „Ja, ein Eis. Erdbeereis in einer Tüte.“ Die Stimme: „Habe ich vorbereitet. Liegt bereits im Fach Ihrer rechten Lehne. Guten Appetit.“ Verdammt, ich sollte öfter mal meine Wahl ändern, um diese elektrischen Harrys vor Probleme zu stellen. Ich ärger‘ die doch zu gerne.

Ich habe das Eis nicht mal zur Hälfte aufgegessen, als ich aussteige. Ich habe auch genug daran herum gelutscht und deshalb werfe ich den Rest weg. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da wäre ich deswegen schief angeguckt worden. Heutzutage ist das normal, dass man nicht aufisst. Es ist genug für alle da, es gibt keinen Mangel und es ist besser, etwas wegzuwerfen, als es in sich hineinzustopfen.

Die Halle, in der ich aussteige, gehört bereits zu dem Kaufhausgebäude. Es ist hell erleuchtet und hat jede Menge Rolltreppen und Laufbänder.

Schon beim Aussteigen bei REWEKA wird man mit angenehmer Musikhintermalung empfangen. Ein elektrisches Männlein steht da, lüftet sein REWEKA-Käppchen und begrüßt mich freundlich. Ich sage: „Upps, ist da ein Schmutzfleck auf deinem Käppi?“ Er erschrickt, nimmt schnell sein Käppi und schaut es an. Dann entspannt sich sein Gesicht. Ich: „War ein Scherz, nicht weinen.“

Das Ganze ist ein Superkaufhaus, gegen das die amerikanischen Super-MALLs wie Tante-Emma-Lädchen ausgesehen hätten. Oh, ich sehe, dass mindestens vier andere Leute hier sind, die einkaufen wollen. Das zeigt mir, dass es den ‚Hans-Effekt‘ wohl doch gibt.

Ich habe nämlich festgestellt, dass, wenn ich meine, ich hätte eine originelle Idee, ich feststellen muss, dass es mindestens vier andere Personen gibt, die auf den gleichen Gedanken gekommen sind. Ich bin vermutlich der geborene Durchschnitt. Witzig.

Na ja, wenn ich bedenke, wie riesig das gesamte Bauwerk ist, sind da doch sehr wenige Leute unterwegs. Ich bin auf dem Weg in die Lebensmittelabteilung. Inzwischen hat sich ein Einkaufwagen an meine rechte Seite geheftet und begleitet mich unauffällig. Ich: „Hallo Fifi, biste wieder zur Stelle?“ Der Wagen: „Hallo Hans, guten Tag. Ich werde Sie begleiten und beraten. Ich habe nur bisher nichts gesagt, weil ich ja weiß, wie sprachgewandt Sie sind. Ich bin Ihrer Schlagfertigkeit leider nicht gewachsen.“ Ich: „Ach, jammer nicht rum, das wirst du schon aushalten. Außerdem lernst du da ja dazu.“ Der Wagen: „Das stimmt und ich bin auch dankbar dafür. Ich freue mich immer, wenn ich Sie sehe, auch wenn das nicht immer so aussieht.“ Ich: „Mein Gott, gleich rutsch ich aus auf der Schleimspur.“ Der Wagen sagt nichts mehr, fährt aber weiter neben mir her.

Ich gehe in die Gemüseabteilung, nehme einige Salatgurken, Tomaten und je zweimal Kopfsalat und Blumenkohl. Der Rest ist auf meiner Standardliste und steht immer frisch in meinem Kühlschrank zur Verfügung. Ist schon komisch, dass ich so auf mein Gemüse achte. Das war nicht immer so, ich habe früher sehr ungesund gelebt. Aber ich habe vor etwa 20 Jahren aufgehört, Alkohol und alkoholische Getränke zu mir zu nehmen. Das Rauchen habe ich dann gleich mit aufgehört. Mir geht es gut und ich fühle mich wohl. Allerdings stört es mich nicht, wenn ich während unserer Skatrunde am Freitag alle vierzehn Tage von den Anderen zugeraucht werde und die sich hin und wieder ein Schnäpschen gönnen. Das habe ich aber nicht getan, weil ich Angst um meine Gesundheit hatte. Nein! Der Grund war, dass ich damals in meinem Beruf auf interessante Erkenntnisse stieß und ich dafür meine volle Konzentration brauchte. Dazu aber später mehr.

Jetzt, denke ich, wird’s lustig. Ich bin in der Abteilung für Süßigkeiten. Hin zu den Schokoladen. Hier gibt es hunderte von Schokoladensorten. Alles aufwändig angeboten, leicht erreichbar und lässt einem schon beim Anblick das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich packe mir drei Tafeln Vollmilch und zwei Tafeln Vollmilch-Nuss in den Einkaufswagen. Jede Tafel mit zweihundert Gramm! Was macht mein Einkaufswagen da? Zittert der? Da kommt er auf mich zu. Der Blechkasten, der aussieht wie ein Abteilungsleiter. Mit Anzug und Schlips und wichtigem Gesichtsausdruck. Er räuspert sich: „Ähem, Herr Hans, darf ich mal kurz mit Ihnen sprechen?“ Ich: „Häh, was soll das? Entweder Hans oder Herr Meyer. Ihr Sprachmodul ist sowas von schlecht. Aber, was wollen Sie? Mir die Zeit stehlen?“ Er sieht sichtlich peinlich berührt aus: „Bitte regen Sie sich nicht auf, Herr Meyer. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass Sie an Altersdiabetes leiden und so viel Schokolade ungesund ist. Wären nicht je eine Tafel Vollmilch und Vollmilch-Nuss genug? Ihr Zuckerwert von 140 heute Morgen ist nicht gerade optimal. Sie brauchen ja nicht ganz zu verzichten, aber vielleicht geht es mit weniger?“ Ich: „Ich weiß ja, dass ihr elektronischen Metalleimer nur Blechmöhren fresst, aber was wisst ihr denn von dem, was mir guttut?“ „Ok, Ok. Nehmen Sie nur ihre fünf Tafeln Schokolade. Das ist Ihr Wunsch und ich möchte Sie auch nicht weiter stören. Entschuldigen Sie bitte.“ Ich: „Na ja, meine Reaktion war auch nicht besonders freundlich. Aber! Ich bin Neunundsechzig Jahre alt und mag nun mal Schokolade. Soviel mehr Freude habe ich nun mal nicht mehr im Leben. Und wenn ich an der Schokolade sterbe, ist das mein Pech. Irgendwann ist sowieso Feierabend und ihr müsst andere Menschen nerven. Aber laut meines letzten Medizinchecks habe ich die Physis eines 45jährigen um die Jahrtausendwende. Ihr werdet also wohl noch länger von mir genervt. Aber ich bin sicher, das werdet ihr aushalten.“ Die Gesichtszüge meines Gegenübers entspannen sich. Er lächelt und sagt: „In Ordnung. Ich habe bei Ihnen jetzt ein Limit von sechs Tafeln eingegeben. Sie können natürlich immer so viele Tafeln nehmen, wie Sie wollen. Allerdings bin ich bei sieben oder mehr Tafeln wieder hier. Wenn Sie sich mal wieder mit mir unterhalten wollen, wissen Sie, was zu tun ist. Schönen Tag noch und viel Spaß mit der Schokolade.“

Ich bin jetzt fertig mit den Lebensmitteln. Ich sage zum Wagen: „So, Fifi, mach‘ dich vom Acker und sieh zu, dass alles ordentlich bei mir zu Hause ankommt. Und zerquetsch‘ mir nicht die Tomaten.“ Der Wagen: „Auf Wiedersehen, Hans. Viel Spaß und bis bald.“

Mein Hemd, das ich anhabe, ist für die Jahreszeit zu warm. Es ist langärmelig. Deshalb gehe ich jetzt in die Bekleidungsabteilung. Ich schaue mich suchend um. Da höre ich eine Stimme hinter mir: „Hallo, kann ich Ihnen helfen?“ Ich drehe mich um: „Ja, ich suche ein kurzärmeliges Hemd. Ich glaube, ein blaues Hemd passt zu meiner Hose. Gestreift oder kariert.“ Ich schaue in das Gesicht einer blonden Mittzwanzigerin, die ein Kostüm trägt, das farblich zu der Marktumgebung passt. Sie sagt: „Kleinen Moment. Mal schauen, ob wir etwas Passendes haben.“ Ihr Gesicht entspannt sich, sie lächelt: „Ja, wir haben etwas Passendes für Sie. Kleinen Moment.“ Hinter ihr öffnet sich ein Fach und drei Hemden liegen darin. Sie nimmt alle drei heraus, legt sie auf den Tisch und faltet das erste auseinander. Sie sagt: „Das schaut doch hübsch aus, probieren Sie es mal an.“ Ich ziehe mein Hemd aus und ziehe das Hemd an, das mir das Mädel entgegenhält. Es passt perfekt und sieht gut aus. Der Scanner hat mich gut erfasst und die Daten genau ermittelt, denke ich.

Ja, als ich das Geschäft betrat, wurde ich automatisch gescannt und die Daten wurden auch noch mit den bei meinem Coach hinterlegten Werten abgeglichen, damit alles perfekt ist. Ich sage: „Das Hemd ist perfekt. Ich lasse das gleich an.“ Das Mädel sagt: „Schön, dass Ihnen das Hemd gefällt. Aber wollen Sie sich nicht die anderen Hemden zumindest mal ansehen?“ Ich nicke und lasse mir die Hemden zeigen. Das Muster des zweiten Hemds gefällt mir nicht, das dritte ist Ok und ich werde das auch nehmen, nur jetzt eben nicht anziehen. Ich sage das dem Mädel und sie verspricht mir, dass das dritte Hemd in meinem Kleiderschrank sein werde, wenn ich wieder zu Hause bin. Ich weiß, dass auch das Hemd, das ich ausgezogen habe, gewaschen und gebügelt in meinem Kleiderschrank sein wird.

Ich schaue noch einmal verwirrt und verwundert zu dem Mädel: „Sagen Sie mal, kenne ich Sie nicht woanders her? Sie sehen aus wie eine Chemikerin aus einer Nebenabteilung meines Instituts. Susanne, glaube ich.“ Sie mustert mich, dann lächelt sie: „Ach, hallo Hans. Ich habe Sie ja jetzt fast nicht erkannt, so ohne Laborkittel. Natürlich, ich bin die Susanne von Chem03. Wir sehen uns ja öfter auf dem Flur oder in der Kantine. Ja, ich bin manchmal hier. Mein Vater war Designer und irgendwie steckt das auch in meinen Genen. Ich bin öfter hier. Das mache ich, um zu entspannen. Jetzt bin ich für die nächsten vier Wochen hier, bediene und entwerfe Männerhemden. Das hat auch einen Grund.“ Sie lacht: „Ich war mit meiner Messreihe auf der Spur einer neuen Formel. Ich war so ‚im Tunnel‘, dass ich ein paar Messfehler übersehen hatte. Ich habe dann einige Theorien aufgestellt, die sich im Nachhinein als Blödsinn herausgestellt haben.“ Dann grinst sie breit: „Gut, dass ich schon zwei Doktortitel habe. Dann ist so ein Fehler nicht ganz so schlimm für mein Ego.“ Ich lächle: „Na, dann spannen Sie hier mal ein wenig aus. Ich bin aber sicher, dass wir uns dann irgendwann im Institut mal wieder sehen.“ Ich verabschiede mich und verlasse die Abteilung. Es ist eigentlich Zeit, etwas zum Mittag zu essen. Da sehe ich aber etwas in der Sportabteilung, das mich neugierig macht.

Ich betrete die Sportabteilung und gehe schnurstracks auf die Dartscheibe zu, die an der Wand hängt. Der Verkäufer, der sofort zu mir kommt, ist diesmal wieder ein Blechmännchen. Er fängt sofort an: „Möchten Sie eine Dartscheibe haben? Diese hier ist ein Modell, das in der englischen Champions-League vor 35 Jahren in genau dieser Form verwendet wurde. Ein schönes Exemplar, nicht wahr?“ Ich will antworten, verkneife mir aber erstmal den Zynismus: „Ja, ich erinnere mich, wurde damals in ‚sport1‘ in Fernsehen gezeigt. Sie werden’s nicht gesehen haben. Na ja, passt das denn in meine Wohnung?“ Blechmann: „ Also, man braucht dafür nicht viel. Das Bullseye muss eine Höhe von 1,73 Meter vom Boden haben, der Abwurf ist etwa 2,37 Meter von der Dartscheibe entfernt. Idealerweise sollte zwischen Abwurfpunkt und Dartscheibe nichts stehen. Sollten wir entscheiden, wo Sie die Scheibe platziert haben möchten?“ Einen halben Meter neben der Dartscheibe wird ein Bildschirm aktiv. In einer Rundumsicht wird mein Wohnzimmer sichtbar. Sofort wird der Fokus auf die Wand neben der Flurtür gelegt. Da steht zwar noch ein Stuhl aus meinem früheren Leben. Den habe ich aus meinem Bauwagen mitgenommen. Der kann aber weg. Jetzt wird die Scheibe virtuell an der Wand angebracht. Im Abstand von 2,37 Metern ist eine Markierung zu sehen. Gleichzeitig wird angemerkt, dass an dieser Stelle keine Störungen durch Sonnenlicht durch die Fenster zu erwarten sind. Gleichzeitig ist mein alter Stuhl etwa 3 Meter entfernt untergebracht. Das Board ist gut angebracht und auch der Stuhl steht an einem guten Platz. Ich brauche ihn also nicht wegzuwerfen. Ich schaue den Blechmann an: „Prima, dann mal los“ Die Gesichtszüge des Blechmanns entspannen sich. Er hat wohl nicht mit mir als der Ausgeburt der Freundlichkeit gerechnet: „Jawohl, wird sofort gemacht. Dauert aber etwa eine halbe Stunde. Wenn Sie jetzt, wie ich annehme, zum Mittagessen gehen, ist das Board an Ort und Stelle, wenn Sie wieder daheim sind.“

So ist es gut, geht doch. Ich gehe jetzt in das Chinarestaurant um die Ecke und setze mich an einen freien Tisch. Ein Blechmann mit Schlitzaugen wackelt auf mich zu. Bevor er etwas sagen kann, bestelle ich schnell: „Einmal Huhn mit Leis und Flühlingslolle. So wie das letzte Mal eben.“ Blechmann verbeugt sich: „Hallo, Hell Meyel. Kommt sofolt. Was möchten Sie tlinken? Apfelscholle, wie immel?“ Ich muss grinsen und nicke: „Ja, bitte.“

Nach zehn Minuten kommen Mahlzeit und Getränk in ansprechender Form und perfekt serviert. Ich frage den Blechmann: „Wo ist eigentlich Thuan, der mich sonst immer bedient?“ Der Blechmann antwortet: „Herr Thuan ist doch Diplomingenieur für Energietechnik. Der ist nur ab und zu mal hier, um zu bedienen. Im Moment ist er in Asien. Er ist Projektleiter bei dem Bau eines neuen Kraftwerks. Deshalb wird er in der nächsten Zeit nicht hier sein.“ Da ich den Mund voll habe, nicke ich nur. Ich werde Thuan dann in den nächsten Tagen mal via ‚Skype‘ kontaktieren.

Als ich das Lokal verlassen habe, sage ich: „Zeig‘ mal den Fußweg nach Hause.“ Neben mir wird ein Bildschirm aktiviert. Der Ausgang des Einkaufszentrums wird gezeigt. Dann bewegt sich der Bildschirm in einer Art ‚streetview‘ schnell in Richtung meines Hauses. Die angezeigte Temperatur ist 23 Grad Celsius, die Sonne scheint und der Himmel ist wolkenlos. Also entscheide ich, nach Hause zu laufen. Laufschuhe habe ich ja heute Morgen angezogen und eine Jeans. Das Hemd habe ich gewechselt und das neue Hemd ist bequem. Also laufe ich los. Bei dem Wetter sind auch viele Fahrräder unterwegs. Ich hätte mir auch eins leihen können, aber ich laufe lieber. Auch wenn das länger dauert. Die 4,2 Kilometer bis nachhause habe ich in maximal vierzig Minuten geschafft. Ich bin zwar ein alter Sack, aber noch erstaunlich gut zu Fuß.

Ist ja witzig, wie viele Leute man bei solch einem schönen Wetter unterwegs trifft. Viele Jogger, aber auch eine Menge alter Säcke sind zu sehen. Die alten Leute haben meist Hunde dabei. Hunde verschiedener Größe, einige der Leute haben auch zwei oder drei Hunde. Die ganzen Grünflächen sind voll davon. Festzustellen ist dabei, dass alle Hunde gut trainiert sind und aufs Wort hören. Es ist ja kein Geheimnis, dass nicht nur Menschen einen Coach haben. Auch Hunde, die bei den Menschen leben, erhalten automatisch einen Coach, der sie trainiert und sich auch um sie kümmert, wenn die Menschen mal keine Zeit für ihren Hund haben.

Etwa 800 Meter von meiner Wohnung entfernt begegnet mir ein joggendes Pärchen. Es sind Anja und Thomas. Die Beiden wohnen bei mir im Haus. Jeder hat zwar eine eigene Wohnung, aber die sieht man sehr oft zusammen. Da läuft wohl mehr als nur das Joggen. „Hallo Hans“ sagt Anja „Mal wieder einkaufen gewesen? Sie gehen ja sehr oft einkaufen. Macht das eigentlich Spaß? Ich war bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr in einen Geschäft. Ich suche mir die Sachen, die ich haben will, am Bildschirm aus. Bei der dreidimensionalen Darstellung sehe ich alles, ich kann mir alle Zeit der Welt lassen, kann mir das auch mehrmals ansehen, bis ich es dann bestelle. Meist ist es dann innerhalb von zwei bis drei Stunden bei mir. Wozu soll ich denn dann noch irgendwo hingehen? Da gehe ich lieber joggen.“ Ich lächle nur und zucke mit den Schultern. Ich muss ja nicht jedem sagen, dass ich manchmal einfach nur andere Leute sehen möchte.

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