Buch lesen: «Flüchtige Verstrickungen»

Schriftart:

Hans Hohlbein

Flüchtige Verstrickungen

Roman

Für Christian

1.Auflage

Taschenbuchausgabe Dezember 2012

Pubslihed by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de (epubli Verlagsgruppe Holtzbrinck)

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Hans Hohlbein, www.gramenzhohlbein@76x.de

Umschlaggestaltung: foto&art Hans Windeck

Umschlagfoto: Matthias Hoffmann, www.mauerfotos.de

Druck und Einband: (epubli GmbH)

Printed in Germany

1

„Chris, ich muss dir etwas Wichtiges anvertrauen!“ Vorsichtig vergewisserte ich mich, dass uns keiner zusah, während sich meine zur Faust geballte Rechte ganz unauffällig meinem Freund Christian näherte. In der fest geschlossenen Hand befanden sich zwei kleine Sicherheitsschlüssel, die ich ihm heimlich, als wären es die Tresorschlüssel für einen Banksafe, hier in unserem Stammcafe übergeben wollte. Seinem fragenden Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er nicht ahnen konnte, was jetzt über dem Tisch auf ihn zukam, denn meine im Flüsterton vorgetragene Offenbarung klang weit weniger überzeugend, als der feste Entschluss, mein Leben schon am morgigen Tag entscheidend verändern zu wollen.

Ging mein Plan schief würde es mich Kopf und Kragen kosten. In vielen schlaflosen Nächten hatte ich mit mir gerungen, und das Für und Wider dieser mein ganzes Leben gefährdenden Entscheidung abgewogen:

Mit wem konnte ich über dieses gefährliche Vorhaben reden? Und vor allem, wem konnte ich grenzenlos vertrauen? Lange hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen und erst nach reiflicher Überlegung war die Entscheidung auf meinen Freund Christian gefallen. Hier in der vertrauten Umgebung des Lindencafes wollte ich meinem besten Freund ein Geheimnis anvertrauen, dass unter keinen Umständen jemals die Außenwelt erreichen durfte. Er war der Einzige, der von meinem Wagnis erfahren durfte, denn uns beide verband weitaus mehr als bloße Freundschaft. Unser enges Verhältnis basierte auf Vertrauen und Verlässlichkeit, aus den vielen gemeinsamen Erfahrungen unserer frühen Jahre.

Es war jene wilde Internatszeitzeit im kleinen Havelstädtchen Werder, die wir in all den Höhen und Tiefen jugendlichen Leichtsinns durchlebt hatten. Die Turbulenzen des Rock and Roll Ende der Fünfziger, das Erwachen unserer Sexualität, die Begleiterscheinungen des pubertären Heldentums, die vielen unvermeidlichen Störmanöver unseres Jungseins, all diese tief greifenden Erlebnisse hatten unser freundschaftliches Bündnis für immer besiegelt, uns wie Blutsbrüder für ewig zusammengeschmiedet.

Chris hatte mir in so manch heikler Lebenssituation zur Seite gestanden, allen voran die Auseinandersetzungen mit den lokalen Banden des Städtchens, der jeder von uns durch die ständige Konfrontation mit Werders dominanter Halbstarkenszene ausgesetzt war. Welche Gefahren sich auch immer vor uns auftaten, Chris rettete uns wieder und wieder vor den Attacken gewalttätiger Schläger, indem er ganz einfach die Gitarre nahm und sich schützend vor seine Jungs stellte.

Allein schon die Berührung der Saiten, der erste Anschlag, der Widerhall der Akkorde am alten Gemäuer, seine ganz individuell kraftvolle Interpretation des Rock and Roll, von diesem faszinierendem Spiel ging eine ureigene Magie aus, und im Handumdrehen zähmte Chris jeden der von uns allen gefürchteten Bandenmitglieder.

Damals absolvierten wir beide eine Fotografenlehre, Chris in Treuenbrietzen und ich in Neuruppin, eine verstaubte Zeit im biederen Umfeld der miefigen Fünfziger. Zweimal im Jahr half uns ein vierwöchiges Fachschulstudium diesem Provinzmief für einige Zeit entfliehen zu können. Mit leuchtenden Augen und großen Erwartungen hingen wir aus den Fenstern der alten Dampfbahn, wenn sie schnaufend in den kleinen Bahnhof des verträumten Havelstädtchens einfuhr.

Der Fotografenberuf wie auch die Profession des Medizinisch Technischen Assistenten, in jenen Jahren zählte sie zu den so genannten Splitterberufen, und einzig dieser besondere Status brachte es mit sich, dass diese beiden sehr unterschiedlichen Gruppierungen gemeinsam in einem Haus untergebracht waren.

Die ausnahmslos weiblichen MTA Lehrlinge verteilten sich über beinahe alle Räumlichkeiten des Internates und selbst in unserer Fotoklasse waren die Mädels stets in der Überzahl, so dass das kleine Häufchen angehender Männer mit einem einzigen Zimmer auskommen musste, welches direkt hinter dem Jungenwaschraum gelegen war. Für uns schwachbrüstige Männerbastion bot diese versteckte Quartierslage allerdings eine ideale Vorrausetzung, um Strategien für unsere weiblichen Eroberungsfeldzüge entwerfen zu können. Welch wunderbare Konstellation für pubertierende Helden!

Durch die Höhen und Tiefen vieler gemeinsamer Erlebnisse sind Chris und ich in dieser langen Internatszeit von Jahr zu Jahr enger zusammengerückt, unsere Freundschaft bekam dort ihre entscheidenden Wurzeln. Chris war für mich nicht nur allein ein Freund, musikalisch betrachtet war er sogar Vorbild und Idol zugleich, auch wenn ich letzteres mit vielen Jugendlichen der Havelstadt teilen musste.

Der Rock and Roll war auf dem Vormarsch, eroberte mit Elvis Presley, Peter Kraus und Bill Haley auch einen beachtlich großen Teil des Ostens. Die Gitarre wurde zum dominierenden Musikinstrument, und Chris war auf diesem Instrument ein wahrer König, denn er spielte wie ein junger Gott und wurde damit nicht nur bei unseren Internatsmädchen, sondern allmählich auch bei einem beachtlichen Teil der Jugend in Werder zum Favorit der Herzen. Oft holte man ihn an Wochenenden zu Bühnenauftritten in die Tanzgaststätte Melodie, wo er mit Songs von Peter Kraus und Elvis Presley den Saal regelrecht zum Kochen brachte. Unsere anfänglichen Probleme mit Werders lokaler Halbstarkenszene hat Chris durch schlagende Akkorde mit seiner Nashville nahezu weggefegt. Selbst die härtesten Jungs wurden weich wie Butter, wenn er schluchzend und röhrend den Elvis gab.

In der Anfangszeit hat man unserem Häufchen smarter Fotojungs ständig aufs Neue Prügel angeboten, verständlich, denn schließlich konnten Werders harte Jungs die „Hahn im Korbe Situation der Foto Fuzzis aus dem Internat nicht so ohne weiteres kampflos hinnehmen. Aber schon wenig später, als der gewaltige Rockerfolg von Chris mit Nichts mehr aufzuhalten war, kam für uns das große Aufatmen:

Die von uns allen gefürchtete Bande bot uns einen bedingungslosen Waffenstillstand an. Unsere Erleichterung schien auf einmal grenzenlos zu sein. In Röhrenhosen gezwängt und mit zur Ente gekämmtem Haupthaar, mühten wir Jungs uns voller Übermut vor all den Mädchen mit dem gerade in Mode gekommenen Hula Hup ab. Wir schwangen die Reifen um unsere Hüften, die Welt drehte sich, alles um uns schien zu fließen, und wie im Flug vergingen die letzten vier Wochen der Fachschulausbildung.

Der August beendete auch unsere dreijährige Lehrzeit. Internat ade. Nicht enden wollende Abschiedsszenen, heiße Tränen auf brennenden Lippen, Treueschwüre für die Ewigkeit. Unsere Klasse verstreute sich wieder in alle Provinzen der kleinen Republik. Vorbei!

Mit Chris und mir aber sollte es anders weitergehen. Schon bei unserem letzten Aufenthalt in Werder hatte sich uns eine Möglichkeit der beruflichen Veränderung angeboten. Für uns beide die einmalige Gelegenheit, dem Provinzmief für alle Zeit den Rücken zu kehren.

So beschlossen wir im August 1960 unser heimatliches Provinznest gegen die Metropole der ostdeutschen Traumfabrik des Films einzutauschen. Vakant war eine Anstellung bei der DEFA in Babelsberg, der einzigen Filmgesellschaft der DDR. Wir brauchten nicht weiter zu überlegen und stimmten kurz entschlossen dem verlockenden Angebot zu. Endlich schienen sich unsere Träume zu erfüllen und wir packten unsere Koffer für die Abenteuerreise in die Filmstadt.

Für Chris war die Entfernung zum Arbeitsort kurz, er konnte täglich mit dem Zug nach Hause fahren, während ich in Babelsberg saß und für die ersten Nächte erst einmal keine Bleibe hatte. Unter Umgehung einiger Vorschriften fand sich schließlich auch für dieses Problem eine Lösung, die auch wenn sie nicht gerade komfortabel war, auf ungewöhnlichem Wege eine direkte Verbindung zu meinem neuen Arbeitsplatz herstellte:

Es war der letzte Julitag des Jahres 1960 als ich, neugierig auf meine erste unbekannte Unterkunft, weit nach Mitternacht den festlich illuminierten Babelsberger Park verließ. Übervoll mit neuen Eindrücken vom gerade zu Ende gegangenen Sommerfest, schlenderte ich durch den schmiedeeisernen Haupteingang des DEFA Studios, vorbei an den großen Hallen der ostdeutschen Traumfabrik und steuerte, genau wie vom alten Pförtner beschrieben, auf ein kleines Nebengebäude zu, dessen Eingangstür im matten Licht einer alten Laterne vor sich hin dämmerte. Beim näher kommen erkannte ich auf der grau gestrichenen Tür ein rotes Kreuz, welches zweifelsfrei darauf verwies, dass ich im Begriff war, die Krankenstation des Studios aufzusuchen, obwohl ich mich weder über körperliche Gebrechen, noch über Unwohlsein vom Biergenuss im Park beklagen konnte. Zu dieser nächtlichen Stunde hätte ich auch keine ärztliche Hilfe mehr erwarten können, dafür war der neue Tag einfach noch zu jung.

Obwohl der Schlüssel zur Eingangstür zu passen schien, war ich trotzdem ein wenig irritiert, dass mein neues Quartier inmitten dieser medizinischen Einrichtung sein sollte. Ich betrat zögernd den Vorraum, sah mich neugierig um, und blieb auf einmal erstaunt vor einer seltsam anmutenden Tür stehen, die mich noch mehr verunsicherte.

Neben dem Wartezimmer und den ärztlichen Behandlungsräumen konnte die Krankenstation noch einen zusätzlichen Raum vorweisen, auf dessen Tür in schlichten schwarzen Buchstaben Frauenruheraum geschrieben stand. Ich war schon ein wenig verwirrt ob dieser fragwürdigen Konstellation: Sollte hinter dieser Tür wirklich meine neue Herberge auf mich warten?

Vorsichtig schloss ich die Tür auf und erschrak beim Betätigen des Lichtschalters über die grell zuckenden Blitze mehrerer Neonlampen, die den weiß getünchten kleinen Raum mit seiner spartanischen Einrichtung in ein fahles Licht tauchten. Alles was ich in dem Zimmer vorfand, war eine schwarze kunstlederne Liege, ein kleines weißes Metallschränkchen und ein eingestaubter Rohrstuhl, der auch schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte.

Solche Ruheräume, die aus einer gewerkschaftlichen Forderung heraus entstanden und ausschließlich den werktätigen Frauen zugedacht waren, räumten gestressten Mitarbeiterinnen im Bedarfsfalle eine kleine Ruhepause ein. Der Begriff „Stress“ war damals allerdings noch ein Unbekannter, und so führten solche Inseln der Ruhe im Allgemeinen auch ein verwaistes Dasein. Und wie ich der Patina auf den Möbeln ablesen konnte, war ich auch der Einzige der dieses Quartier seit längerer Zeit aufsuchte. In dieser totalen Abgeschiedenheit beschlich mich deshalb auch für einen Augenblick das seltsame Gefühl, in einer Klosterzelle gelandet zu sein.

Diesen einengenden Gedanken aber schob ich schnell wieder beiseite, stellte meine Reisetasche auf den leicht eingestaubten Stuhl und begann mit der Vorbereitung meines ungewöhnlichen Nachtlagers. Etwas unbeholfen wuselte ich eine dicke graue Flanelldecke auseinander, entfaltete das ordentlich zusammengelegte weiße Laken, um es auf der Kunstlederfläche der Pritsche ausbreiten zu können. Meiner Reisetasche entnahm ich den von meiner Mutter sorgfältig gebügelten Schlafanzug, und putzte mir anschließend über dem kleinen Waschbecken die Zähne.

Wenig später unternahm ich den mühsamen Versuch auf der knarrenden Liege, unbeholfen mit dem großen Laken kämpfend, in die richtige Schlafstellung zu gelangen. Die schmale Pritsche wollte eine bequeme Seitenlage einfach nicht zulassen, und so gab ich letztlich den sinnlosen Kampf gegen das Betttuch auf, um mich wieder in eine normale Rückenlage fallen zu lassen. Zufrieden war ich auch jetzt noch nicht. So steif auf dem Rücken liegend, die Arme eng an den Körper gelegt, fühlte ich mich eher wie ein auf die OP vorbereiteter Patient, nicht aber wie ein zufriedener Schlafgast in seiner neuen Herberge. Auch wenn es mir äußerst schwer fiel in dieser unbequemen Stellung, und dazu noch in einem Frauenruheraum in den Schlaf zu kommen, war ich gewillt, meiner ersten Nacht optimistisch entgegenzusehen. Irgendwie war es aber trotzdem ein beruhigendes Gefühl festzustellen, wie ganz allmählich ein wohliger Schauer über meinen Körper zog:

Endlich war es soweit, ich hatte es geschafft, befand mich mitten im Herzen der Traumfabrik und sah dem kommenden Morgen meines ersten Arbeitstages schon viel erwartungsvoller entgegen. Nichts konnte mich jetzt mehr davon abbringen, meinen Entschluss rückgängig zu machen, so sicher war ich mir, dem ersehnten Traumziel ein bedeutendes Stück näher gekommen zu sein.

Zufall oder Fügung, das heutige Sommerfest im Park, für mich das erste Erlebnis in meiner neuen Welt, eine Welt die ich fortan erobern wollte, eine unbekannte Welt, eine Welt von der ich überzeugt war, dass sie nach Abenteuer und Freiheit roch. Dieser ungewöhnlich warme Abend, die Luft unter den großen alten Laubbäumen im Babelsberger Park, die sich seidig und frisch zugleich angefühlt hatte, und die mit vielen brennenden Kerzen geschmückte Rasenfläche, auf der sich Jung und Alt vergnügte, all das hatte mich mit Heiterkeit erfüllt.

Hier im Zentrum der großen weiten Welt, weit weg vom heimatlichen Provinzmief, wollte ich mich endlich fallen lassen, konnte eintauchen in diese unbeschwerte, vorwärts strebende Szenerie. Überwältigt von den Impressionen aus Fantasie und Traum, mischte ich mich unter die fröhlichen Leute, ließ mich von ihrer Heiterkeit anstecken, ließ mich einfach treiben, schaukelnd im Strom aus Menschengetümmel, saß zuletzt allein vor mich hinträumend irgendwo am Wegesrand.

Erst weit nach Mitternacht hatte ich das bunte Spiel der Lichter hinter mir gelassen, war zurückgeschlendert, durchschritt das schmiedeeiserne Parktor, steuerte auf das Studio zu und wusste, direkt an diese wundervolle Parkanlage grenzt das riesige Gelände des einzigen Filmbetriebes der DDR, zu dessen Mitarbeiter ich mich ab heute zählen durfte.

Diesen wundervollen ersten Abend im Babelsberger Park hatte ich unendlich ausgedehnt, hatte lange Zeit zwischen all den flackernden Kerzen auf einem Baumstumpf gesessen, und das muntere Treiben der Menschen, eine für mich völlig neue Lebenserfahrung, wie ein Süchtiger in mich aufgesaugt. Später, im Frauenruheraum, beim Einschlafen auf der harten Pritsche, dachte ich noch ein letztes Mal zurück an die Zeit vordem, an die Zeit zwischen Kindheit und Lehre, und erinnerte mich, dass meinem Drang, um jeden Preis in die Traumwelt des Filme Machens eintauchen zu wollen, ein nachhaltiges Schlüsselerlebnis voraus ging:

Zu Beginn meiner Lehrzeit musste ich einmal wöchentlich zur Berufsschule nach Rheinsberg fahren, früh hin und abends zurück. In den fünfziger Jahren eine kleine Weltreise. Ähnlich wie ein Wandersmann stieg ich mit gepacktem Schulranzen und ein wenig Proviant ausgerüstet in die schnaufende Bimmelbahn nach Rheinsberg, um dort für quälende Stunden die Schulbank zu drücken. Nach der Schule, die gewöhnlich gegen vierzehn Uhr beendet war, verblieb mir allerdings noch ein wenig Freizeit, die ich mit Vorliebe im Rheinsberger Schlosspark verbrachte. Unter den alten schattigen Bäumen schmeckte nicht nur das mitgebrachte Pausenbrot besser, auch manch geheimnisvolle Lektüre wurde in dieser lauschigen Umgebung gierig von mir verschlungen.

An einem schönen Tag im Sommer aber, sollte alles ganz anders kommen. Die romantische Stille des Schlossparks wurde plötzlich auf höchst ungewöhnliche Weise von einem Drehstab der DEFA unterbrochen.

Am Ufer des Rheinsberger Sees, in unmittelbarer Nähe des Schlosses, wurden in jenem Sommer Teile des Filmes Mazurka der Liebe unter der Regie von Hans Müller realisiert und als stiller Zaungast konnte ich beobachten, wie es die Filmleute fertig brachten, die Natur belassene Schönheit des Parks für ihre Zwecke künstlich zu verändern. Für diesen Operettenfilm probte man gerade eine im Duett gesungene, längere Liebesarie. Die Szenerie spielte sich in einem Ruderkahn ab, der sanft in der nachmittäglichen Sonne durch das Schilf wogte. Besonders aufmerksam wurde ich allerdings auf die ungewöhnliche Einflussnahme, die das Szenenbild während dieser Proben am vorhandenen Landschaftsbild vornahm:

Um die späte warme Sonnenstimmung in der Szene optisch besonders herauszuarbeiten, hatte der Regisseur angeordnet, das gesamte Schilf im Umkreis von etwa zehn Metern mit Goldbronze einsprühen zulassen.

Von der Umsetzung dieser Idee war ich damals total fasziniert, sah von meinem Beobachterposten aus noch sehr lange dem Verlauf der Dreharbeiten zu, und hatte Mühe den Zug nach Hause nicht zu verpassen, so sehr hatte mich diese ungewöhnliche Art des Filme Machens in seinen Bann gezogen.

Erst am späten Nachmittag trat ich innerlich total aufgewühlt und völlig durcheinander die Heimreise an. Alles in meinem Körper schien zu brennen und verlangte in dem überhitzten Zugabteil nach einer Abkühlung. Ich hielt meinen Kopf aus dem offen Fenster, um ihn ein wenig abzukühlen, vor Allem aber, um wieder klare Gedanken fassen zu können. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte ich, wie sich die träge voranschnaufende Eisenbahn, wie ein Wurm vorwärts windend, durch eine lang gestreckte Kurve quälte. Dabei spuckte die alte Dampflok lange Bänder dünner Rauchfähnchen aus, die im Zugwind flatternd in kurzen Stößen zu mir herübergeschickt wurden. Kräuselnd stauten sie sich für Sekunden vor dem offenen Fenster des Abteils, um sich in winzig grauen Fetzen Einlass in das Wageninnere zu verschaffen. Der Rauch begann auf meinen Augen zu brennen, so dass ich mich ganz schnell wieder vom Fenster zurückzog und in die hölzerne Sitzbank des Abteils fallen ließ.

Trotz des beißenden Qualms war mein Kopf jetzt ein wenig klarer geworden. Zufrieden mit mir selbst streckte ich die Beine weit von mir, lehnte mich ganz entspannt in die sanfte Ausbuchtung der Holzbank und ließ die aufregenden Erlebnisse des Tages noch einmal auf mich einwirken.

Im schläfrigen Fokus meiner müden Augen nichts als das fliehende Band der gemächlich an mir vorbeiziehenden Versatzstücke des abendlichen Waldes. Über seinen Wipfeln die tief stehende Abendsonne, wie ein kleiner rötlich leuchtender Ball von Ast zu Ast hüpfend. In ihren Augenwinkeln glaubte ich ein freundliches Zwinkern wahrzunehmen, als wolle sie mir sagen; „Gehe deinen Weg, und gehe ihn unbeirrt!“ Von diesem Moment an war ich fest entschlossen, alles für einen Einstieg in die phantastische Welt des Films zu tun, koste es was es wolle.

Dass ich es nun, knapp drei Jahre später, gemeinsam mit meinem Freund Chris wirklich geschafft hatte beim Film zu landen, erfüllte mich mit einem Gefühl von Stolz und Zufriedenheit, machte mich einfach nur glücklich. Vor uns beiden tat sich jetzt eine fantastische neue Welt auf. Eine Welt voller Abenteuer und Träume, Abenteuer die geradezu darauf warteten, von uns erobert zu werden. Die Atmosphäre eines Filmstudios, das Flair des Filme Machens, für uns hatte es etwas ungeheuer Kribbelndes, mehr noch, jetzt umwehte uns der Hauch der großen weiten Welt. Und atemlos tauchten wir ein, voller Leidenschaft, nahmen gerne diese Herausforderung an, genossen mit allen Sinnen dieses für uns ungeheuer neue, einmalige Lebensgefühl.

Erfolge kamen, wechselten mit Niederlagen. Als endlich die Erfolge die Niederlagen überholten, lag bereits die erste Etappe unserer gemeinsamen Karriere hinter uns. Mit neuem Arbeitsvertrag und fünfzig Mark mehr Gehalt in der Tasche waren wir unserem Ziel schon ein beachtliches Stück näher gekommen, auch wenn dieser erste Karriereabschnitt über ein gutes Jahr gedauert hatte.

Wieder war es Sommer. Unser gemeinsamer Erfolg sollte nun auch in einem gemeinsamen Urlaub seine Erfüllung finden. Und so beschlossen wir an die Ostsee zu fahren, um in neue Abenteuer zwischen Sonne, Strand und Meer einzutauchen. Wir waren uns sicher, hatten nicht die geringsten Zweifel:

Alle Mädchen würden uns zu Füßen liegen! Zwei junge erfolgreiche Männer, das musste man uns einfach ansehen! Und in dieser Überzeugung packten wir eilig unsere Reisetaschen. Im Schnellzug nach Stralsund schwebten wir hoffnungsvoll dem unbekannten Abenteuer mit neuem Glücksgefühl entgegen. Unsere Träume eilten uns voraus, zu braunen Körpern im weißen Ostseesand.

Mit der Kleinbahn bummelten wir weiter, dampften gemächlich über die Insel Usedom bis in das kleine Fischerdörfchen Ückeritz und fanden auch sofort eine Unterkunft, die sich in einer kleinen Schilf gedeckten Kate befand. Das kleine Häuschen, im Inneren eines großen Hofes gelegen, war eher ein Nebengelass, und nicht zuletzt auch das einzige Quartier was zu dieser Zeit noch zu haben war.

Im Haupthaus, einem lang gestreckten Bau mit Innenhof, befanden sich die eigentlichen Urlauberzimmer. Ungewöhnlich die riesige Toreinfahrt, sie musste früher einmal einem großen Bauernhof gedient haben, in dem mir das kleine Reet gedeckte Fachwerkhäuschen im hinteren Teil des Hofes etwas verloren vorkam. Anders als das große Haus, erinnerte die kleine Hütte noch an den Ursprung des Ortes, der einmal ausschließlich von Fischern besiedelt war. Da aber alle Gästezimmer im Haupthaus belegt waren, schickte uns die Vermieterin in das kleine Fischerhäuschen, dessen Eingangstür weit offen stand, und die uns ohne Vorraum direkt in die Küche führte.

Im Inneren der Kate, vor dem gusseisernen Wandherd, stand die Oma der Familie, eine sehr alte Dame, die gerade mit einem großen Holzscheit das Feuer ihres Ofens fütterte. Bekleidet mit dem typisch schwarzen Kopftuch und einer blassblauen, klein karierten Schürze, dirigierte sie emsig mit einem Feuerhaken die Kochringe über der offen lodernden Herdflamme, als hätte sie in ihrem ganzen Leben nie etwas anderes getan. Durch den Schatten in der Tür aufgeschreckt drehte sie sich zu uns ein, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und begrüßte uns ausgesprochen freundlich auf Plattdeutsch. Wenn sie zu reden begann, gravierte das schräg einfallende Sonnenlicht tiefe Furchen in ihr Lächeln, Spuren eines Lebens, indem Urlaub wohl nie vorgekommen ist.

Unser Zimmer musste vermutlich der kleine schmale Raum sein, der direkt links am Kochherd vorbei von der Küche abging. Die Tür, die an der rechten Herdseite gelegen war, führte anscheinend zum Wohnzimmer der alten Dame. Doch bevor sie uns in unsere Behausung entließ, deutete sie an, unbedingt einen Blick in ihr Wohn und Schlafgemach zu werfen. Dabei strichen ihre vom Alter gezeichneten, sonnengebräunten Hände mehrmals flüchtig über den Schürzenrand, als wolle sie sich für ihre Küchenarbeit bei uns entschuldigen. Ein liebenswürdiges Lächeln legte sich über die Runzeln ihres Gesichtes, als sie jetzt emsig vom Herd weg auf die leicht vergilbte Tür zuschlurfte, die alte Messingklinke ganz bedächtig herunterdrückte, um uns nicht ohne Stolz einen kurzen Einblick in ihr kleines Reich zu gewähren.

Auf die sorgfältig polierten Gründerzeitmöbel, die aus einem dunkelroten Plüschsofa, einem ovalen Tisch mit Spitzendeckchen und einer wunderschönen Glasvitrine bestanden, flimmerte gedämpftes Sonnenlicht durch die kleinen Katenfenster. Von diesem Anblick waren wir beide so gebannt, dass wir auf der Stelle erst einmal wie angewurzelt stehen blieben. In dieser konservierten Stille wagten wir kaum den alten Webteppich zu betreten, betrachteten mit großen Kinderaugen ein gold gerahmtes Bild mit Elfenreigen und fühlten uns beinahe in jene Zeit zurückversetzt, in der das Ticken der Wanduhr das einzige Geräusch im Hause gewesen war. Staunend, mit offenen Mündern, wie ehrfurchtsvolle Christen vor einem barocken Altar, standen wir reglos vor dem Allerheiligsten der alten Dame. Und erst nach einer geraumen Weile zogen wir uns, andächtig wie Gläubige, die am Ende einer Messe die Kirche wieder verlassen wollen, mit bewundernden Worten aus dem kleinen, museal anmutenden Raum zurück.

Vorsichtig zog die alte Dame die Tür ins Schloss und blieb noch kurz in der Küche am Herd stehen, um den Wasserkessel wieder auf die Ringe über der Feuerung zu setzen. Erst nachdem sie dieses Ritual sorgfältig zu Ende gebracht hatte, nahm sie ein Schlüsselbund von der Hakenleiste ihrer Kochstelle, schlurfte auf die kleine Tür neben dem Herd zu, öffnete sie und bat uns einzutreten. Dabei vergaß sie nicht zu erzählen, dass dieser Raum früher einmal das Kinderzimmer gewesen war und ging, ihre Erzählung fortsetzend, noch einmal in die Küche zurück, um für uns das notwendige Frühstücksgeschirr zu holen. Behutsam stellte sie das voll beladene Tablett auf das kleine runde Tischchen unter dem winzigen Katenfenster ab und zog sich mit einem freundlichen Nicken aus der schmalen Behausung zurück.

Wenig später hörten wir sie wieder geräuschvoll mit den Ringen des Herdes hantieren, während wir erhebliche Mühe hatten in der Enge des Zimmers unsere Sachen unterzubringen. Die beiden Liegen mussten früher zwei Kinderbetten gewesen sein, ein Nachtschränkchen, ein kleiner Tisch und zwei schmale Stühle, das alles war mit viel Geschick in das kleine Zimmer gestopft worden. Chris der sehr groß war, hatte erhebliche Probleme mit der kleinen Schlafgelegenheit klar zu kommen, doch unser beider Toleranz war letztlich größer als die kurzen Betten und der winzige Raum, zumal wir uns hier ausnahmslos in der Nacht aufhalten wollten, oder das, was letztlich von ihr übrig blieb.

Wohnkomfort interessierte uns damals überhaupt nicht, uns drängte es geradezu ans Meer, hin zu den unendlichen Weiten, dorthin wo die Freiheit grenzenlos ist, und wo das Abenteuer mit Sicherheit schon auf uns wartete.

Für uns begann der Tag gewöhnlich am späten Vormittag, wenn wir an der etwas schwerhörigen Oma vorbei schlichen, um an den weit weg gelegenen Strand zu wandern. Auf dem Herd summte zu jeder Tageszeit der Wasserkessel, und sein monoton pfeifendes Klagelied schwebte zeitlos über der dahindämmernden Küche. Jedes mal wenn uns die alte Dame wahrnahm, drehte sie sich freundlich zu uns ein, und es hatte den Anschein, als würden sich die Runzeln ihres Lächelns oberhalb der Stirn mit den Falten ihres Kopftuches vereinen. Unseren Morgengruß erwiderte sie stets mit dem gleichen Satz: „ Ja, ja, nu jeht et wieder an jrünen Strand der Spree.“ Dabei streifte sie, wie ich es von ihr bereits schon kannte, verlegen ihre Hände an der Schürze ab, eine Geste die einfach dazu gehörte, um sich dann gleich wieder ihrem Kochherd zuzuwenden, während wir dem Meer und unseren Eroberungen entgegeneilten.

Bei unseren Strandspaziergängen stellte sich auch bald Erfolg ein, denn Chris lernte eine Schwedin und ich eine Berlinerin kennen. Zwischen Dünen und Meeresrauschen verbrachten wir eine traumhafte Zeit. Im kleinen Glück des verliebt seins versinkend, verloren wir uns in der Weite zwischen Himmel und Meer, ein Schwebezustand der weder Raum noch Zeit kannte. Die scheinbar endlosen Tage, sie vergingen wie im Rausch.

Irgendwann erwachten wir aus dem Taumel der Gefühle, die Wirklichkeit hatte uns wieder eingeholt. Zwei Urlaubswochen, sie waren wie im Flug vergangen, und nach einer letzten Nacht inniger Berührungen hieß es Abschied nehmen. Wieder gab es Versprechungen, Schwüre, und Adressen austauschen. Ich schreibe dir bestimmt und ähnliche Floskeln, so wie einst in Werder, wiederkehrende Worte gedankenlosen Verliebt seins, welche die Zeit irgendwann unter sich begräbt.

Der Augenblick des Abschiednehmens war gekommen. Noch den süßen Geschmack der letzten Nacht auf den Lippen, standen wir auf dem kleinen Bahnhof, um von unseren Liebsten Abschied zunehmen. Der Urlaub der beiden Mädels war früher zu Ende, während Chris und ich noch zwei Tage länger bleiben konnten.

Letzte innige Küsse auf dem Bahnsteig. Hände die nicht loslassen wollten, bis sich die kleine Dampflok schnaufend in Bewegung setzte. Weiße Wölkchen im Blau zurücklassend, dampfte die alte Schmalspurbahn mit unseren Eroberungen davon, bis der Horizont sie in die Unendlichkeit aufnahm.

Zwei Tage später standen Chris und ich auf dem gleichen Bahnsteig. Hinter uns lag ein zauberhafter Ostseeurlaub und der Sommer neigte sich seinem Ende zu.

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