Buch lesen: «Perlen und schwarze Tränen», Seite 5

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Was für einen lustigen Abend wir nur hatten! Die Süßspeise war ausgezeichnet, eine Art wirklich gelungener Mousse au Chocolat. Sie aß in bester Laune; und ich beobachtete sie und war erfüllt bis zum Rand von Liebe und Nachsicht. Ich sah ihre linke Hand mit den paar Narben und ich liebte sie wegen der Narben, über die sie niemals Scham empfand, die sie nie verstecken wollte. Ich sagte: »Die Tochter des Herodias mit den Händen Christi.« Und ich pfiff vor mich hin. »Was war das?« fragte sie sehr rasch, als sei sie wirklich interessiert und wissensdurstig.

Als ich mit Klari per Schiff von Genua nach Syrakus fuhr, hatten wir an Bord der »Ausonia« eine geradezu herrliche Süßspeise. Es sah aus wie gesponnene Sonnenstrahlen, und dazu hatten wir sehr guten Wein, und Klari trug das Abendkleid mit den Spitzen und war sehr ausgeschnitten. Unser Schiff fuhr an Capri vorbei, und Wolken zogen um den Monte Tiberio, und ich seufzte, denn ich dachte an ein andres Mädchen, und Klari ließ sich von mir umarmen, auf dem Bett in der Kabine, im Abendkleid mit Spitzen, denn sogar sie wußte, daß es Stunden im menschlichen Leben gab, da Abendkleider weniger wichtig waren als das absolute Gewicht des Augenblicks, gewogen in unsrer Hand.

»Erinnern Sie sich noch?« fragte ich Jane, »als wir das erstemal zusammen ausgingen, gingen wir in ein kleines Lokal hinter Piccadilly, das war auch ein französisches Lokal, und Sie sagten etwas über Zusammen-Ausgehen, daß Sie mit mir nicht ausgehen würden, wenn Sie sich nichts daraus machten. Und zum Schluß hatten wir Kognak –«

»Da fällt mir ein – wie wäre es …?«

Ich bestellte Kognak, und der dritte Kellner erschien mit einem großen Servierbrett voll Kognak- und Likörflaschen; und Jane war wieder sehr wählerisch und sagte, sie kenne die Firmennamen an den Flaschen gar nicht, und ob wir nicht doch einen Hennessy bekommen könnten, den bekamen wir dann auch.

Sie ließ ihr Stück Zucker zuerst etwas Kaffee aufsaugen, und dann etwas Kognak, und sie sah zufrieden aus und begann in der andren Sprache zu sprechen, und dann klingt sie immer wie ein Mädchen von fünfzehn – bevor der große Schock kam, diese völlige Umstellung in einem wohlbehüteten, jungen Leben.

Der Herr neben uns war fertig mit dem Essen; er zahlte aber nicht, sondern sagte dem Kellner ein paar Worte und warf uns einen halb belustigten, halb vorwurfsvollen Blick zu. »Die sind jung«, dachte der Herr, »und haben keine Ahnung. Arme Kinder. Sie sind verheiratet und sprechen eine fremde Sprache, denn Englisch ist nicht gut genug für sie. Ich hasse die Franzosen. Wer würde mir aber sonst Kredit geben außer den Firmen, für die ich arbeite?«

Der Mann war nämlich ein Weinhändler und leider auch gar kein richtiger Herr. Jetzt ging er nach Hause in seine Wohnung in Mayfair, denn er ahmte ja die Lebensweise der richtigen Herren nach. Und wenn er schon kein Herr war, so war er wenigstens ein Sonderling – nach Hause gekommen, würde er vor der Photographie seiner verstorbenen Frau eine Kerze anzünden und würde dann niederknien und für sie beten und sie um Verzeihung bitten; sie hatte vor neunzehn Jahren Selbstmord begangen, auf den Monat waren es jetzt neunzehn Jahre, und alles wegen einer dummen Chansonette.

Ich versuchte, mit meinem Stück Zucker genau so zu verfahren wie Jane, ich nahm aber zu viel Kaffee, und der Zucker war schon fast völlig zergangen, als ich den Kognak darauf goß, und außerdem verschüttete ich ein wenig Kognak auf dem Tischtuch. Jane runzelte die Stirn, aber ganz freundlich, und ich lachte laut, ziemlich blödeidiotisch; ich lachte recht lang und ausführlich.

»Sie sind so komisch«, sagte ich, »so komisch. Wenn ich mit Ihnen zusammen bin, bin ich immer gut gelaunt. Erzählen Sie mir von Ihrer Kindheit.«

»Sie sind ein wenig betrunken«, sagte sie. »Macht nichts.«

«O Jane, süße Jane – warum –«

Man machte Schluß in dem Lokal. Die französische Gesellschaft stand vor dem Aufbruch; sie schrien laut durcheinander, und die Kellner lächelten nachsichtig über ihre Landsleute. Die französischen Offiziere wischten sich die Stirnen und setzten die Käppis auf; ein Kellner strich um die Tische und fragte Lady Stixen, ob sie ein Taxi wünsche. Die junge Kellnerin bürstete die Tischtücher, und der alte Mann mit den Weinen mußte in wenig rasten: er lehnte sich an das Geländer der Treppe, die zur Küche führte. Der zweite Koch war auf sich stolz; dann machte aber der französische Chef ein paar absprechende Bemerkungen über sein Benehmen heute abend, er tat es aus reiner Gehässigkeit, denn er konnte englische Köche und überhaupt die Engländer nicht leiden. Die Engländer hatten die »Strasbourg« auf der Reede von Oran versenkt, und sein Sohn war mit ihr untergegangen. Da sich die Türe jetzt so häufig öffnete, um Gäste zu entlassen, bekam der Nebel in dem Lokal die Oberhand. Das gelbe Gold an den Wänden wurde ganz und gar verwischt, und die Tische wackelten auf ihren Beinen, und Messer, Gabeln und Löffeln wurden fortgeschwemmt wie von einer schweren Strömung.

Ich sagte: »Süße Jane – wenn wir doch Abende wie heute jeden Abend haben könnten. Und Mittagessen und Frühstücke.«

»Es wäre nicht halb so nett«, sagte sie. »Eine Stunde kann mehr in sich bergen als ein ganzes Leben.«

»Das ist eine oberflächliche Bemerkung, ein Gemeinplatz«, dachte ich. Und ich fragte mich, warum es so weise und großartig klang, wenn sie es sagte. »Ich muß verliebt sein«, sagte ich. »Kein Zweifel. Doch wie lange bin ich schon verliebt?«

Die Kellner wollten gerne, daß wir aufstünden, doch Jane ist dickköpfig; sie tat, als bemerke sie es gar nicht. Sie bat sogar um eine zweite Tasse Kaffee. Ein unwilliger Kellner brachte ihr ihn unter Seufzen.

Ich sagte: »Unser Zustand ist zeitlos. Man tötet die Zeit. Genau so hätte es vor zwei Jahren sein können und vor einem Jahr und in einem Jahr. Außen Krieg und innen Krieg und Nebel in unseren Herzen und ein kurzes Leben hinter uns, und alles sieht aus, als sei man auf der anderen Seite einer gläsernen Wand. Zeit totgeschlagen und alles totgeschlagen.«

»Der Soldat schlägt den Feind tot und das Mädchen schlägt dir die Zeit tot. Und der Feind tötet den Soldaten und du tötest das Mädchen«, sagte der Bursche in der Garderobe und reichte mir Mantel und Hut.

Operette

Doch die Stadt war ja ganz verändert! Der Nebel war zwischen den dunklen Häusern hinausgesickert, und seltsame Gestalten mit verkrampften Gebärden waren von irgendwo draußen hereingeströmt. Neue Barbaren hatten die wichtigsten Bollwerke im Westend besetzt: sie heulten nach Taxis in heiseren Tönen, sie lehnten an Mauern und Toren, sie schlichen oder schlenderten, gespreizt wie fahrende Ritter, breit und gemein und aufgeblasen zu wolkigen Gespenstern.

Sekretäre, Staatsbeamte, Ingenieure, freie Berufe aller Art, anerkannte Verabreder für Verabredungen: die ganze Zivil-Bourgeoisie war verschwunden – heimgekehrt zu den Kaminen, unweit der Speisekammern: abgetreten ins Bett. Die Uniform herrschte, der Götze des Jahrhunderts.

Der Sergeant hielt sich an die Unkontrollierten, der Gemeine an die Kontrollhuren, der Offizier suchte nach Klassengefährtinnen in dem Hexenkessel. In der Finsternis und im verblasenen Dunst, in der halben Verdunkelung und der regnerischen Dämmerung klebte Klasse an Klasse, Volk an Volk. Der schlecht besoldete britische Unteroffizier trank zwei Glas Bier und fragte den Mann an der Theke nach einer bestimmten Adresse. Der britische Rittmeister trank einen Whisky und dann einen zweiten, konnte sich aber mit niemand anfreunden. Er zog sich in sein Gehäuse zurück, noch unseliger nach den unbefriedigenden Genüssen; in Gedanken bereitete er einen sentimentalen Brief an seine Braut vor, die in Coventry lebte, trauriges Überbleibsel des 18. Jahrhunderts. Doch die Amerikaner! Welch ein Gegenbesuch!

Sie lagen in Baracken in Mayfair und sie lebten in Häusern in Belgravia. Hunderte von ihnen waren aus den Vorstädten gekommen, wo sie ganze Häuserblocks einnahmen, ohne Leitung und Aufsicht. Die Offiziere durften in Hotels leben, wo sie wollten, die Bezüge waren reichlich. Die Mehrzahl war nur kurz beurlaubt aus anderen Städten Englands oder jenen Städten Europas, die jetzt durch Hunger, Prostitution und große Not zu internationalen Treffpunkten geworden waren, in Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland. Sie genossen ihr Leben wie noch nie. Viele machten sich nicht einmal Sorgen wegen eines Dachs über dem Kopf, das war Sache des Mädchens. Das Mädchen war die billige Gottheit der Stunde.

Die Mädchen hatten die Aufgabe, Sünde, Vergnügen und Verderbtheit zu bieten: das Bacchanal. Sie taten, was sie konnten. Sie ließen sich vor einer der Westend-Karawansereien von einer Rotte küssen – sieben bis zehn Mann –; sie wurden der Reihe nach in dunklere Ecken gedrängt, wo der angenehme, doch stereotype Vorgang vollzogen wurde, teils im Stehen, teils aufgepflanzt gegen Wand oder Tor. Sie waren meistens betrunken, abgerissen gekleidet und äußerst laut. Sie hatten bisher vom Leben noch nichts verkostet in ihren Besserungsanstalten, Elendsquartieren und Instituten, so dürsteten sie nach Abwechslung. Sie hielten das für Leben, und sie verzweifelten immer erst nach zwei Wochen, wenn auch die Dümmsten unter ihnen die ersten Anzeichen der Geschlechtskrankheit entdeckten.

Die Mädchen kamen aus Liverpool und Leeds, aus den nördlichen und westlichen Grafschaften. Sie waren auf Grund des Frauen-Rekrutierungsgesetzes zum Industriedienst eingezogen worden und taten auch manchmal ihre Pflicht, zwischen zehn Uhr früh und vier Uhr nachmittags, in einem Betrieb, wo sie sich zwischen den geölten Maschinen herumtrieben, wo ihre äußere Form verfiel und wo sie schließlich in der Damentoilette ihre Zeit verschliefen. Andre wieder trugen selbst Uniform und glaubten an die Ehre der britischen Wehrkräfte. Sie gingen mit ihren Männern in billige oder teurere Zimmer, je nach Rang des geschlechtsdiensttuenden Amerikaners. Sie liebten das Geld und die flüchtige Zeit. Sie waren, weiß Gott, liebende Liebhaberinnen. Viele von ihnen waren bereits aus Gefängnissen ausgebrochen, wenn man diese Institute wirklich Gefängnisse nennen kann, wo sie der Kriegsstaat untergebracht hatte, solange Vater mit der Achten Armee im italienischen Dreck steckte und Mutter mit ihrem WAF-Verband in Nordirland stationiert blieb.

Genug Unschuld gab es in der Gosse in Coventry Street, Jugend am Steuer des Unheilbootes auf dunkelnden Wassern; genug Unerfahrenheit und Vertrauen zu der Namenlosigkeit des Symbols, des fremden Rangabzeichens auf der Schulter des fremden Soldaten. Und der Mann, der dir aller Wahrscheinlichkeit nach ein Gläschen spendieren wird, und dann noch eins und dann noch eins, und dich bitten wird, mit ihm das zu tun, was du schon die Eltern tun sahst, als du vier oder fünf Jahre alt warst, jenes Allerweltsunternehmen, von der Kanzel als Sünde verleumdet und als Sensation beflüstert in den ersten Schuljahren, Bewegung und Druck und das berühmte Gefühl des Niesens – der Mann, ders mit dir tat und es manchmal Tag für Tag weiter tat, anonym noch immer, wenn auch mit einem Namen, doch ohne Eltern und Heim; der Mann, der dich vielleicht sogar heiraten wird, wenn er sich in dich verliebt, wie es der Freundin in Huddersfield passiert ist: Dieser Mann wandelte im leuchtenden Schatten einer wunderbaren Wolke, glorreicher und glanzvoller als Tod im Bergwerk und sogar Tod durchs Raketengeschoß. Es war der Tod auf dem Schlachtfeld, der sein Banner wehen ließ über allem Elend der Straßenhurerei; der seinen Jahrhunderte alten Idealen abgebrühte Jünger warb.

Es war die große Wanderung der Weiblichkeit: sie vollzog sich abschnittsweise; geographische und soziologische Rangordnungen wurden scharf eingehalten. Junge Mädchen waren dem Ruf der Maschine gefolgt, von Halifax nach Birmingham und von Wigan nach Manchester. Landpomeranzen von den Walliser Bergen liefen in Swansea und Cardiff ein. In den Städten ereigneten sich häufig Fälle kleinerer Diebereien in den Warenhäusern, Geschäftslokalen, sogar auf der Straße. Ein Mädchen wurde in die Besserungsanstalt zurückgeschickt, einem anderen gelang es, in die Vorstädte Londons zu entkommen. Die nächste Phase hieß Islington oder Ealing oder Camden Town. Man hielt noch an eine Art von Beruf fest, doch wenn die Verdunkelung kam, dann schwärmten die Mädchen über den Broadway in die Kinos und dann in die Schenken und dann in die Tanzlokale. Nach der Vorstellung beherrschten sie die Straße in ihrer ganzen Breite und Länge; sie forderten Angebote heraus und lehnten sie ab; mit kreischendem Lachen pöbelten sie Uniformierte an; sie ergossen sich in Klumpen in die Stationen der Untergrundbahn, wo eine lange Reise begann, von deren Ende sie sich noch keine Vorstellung machten.

Und so wurden sie befördert: zum Westend, zum offenen Geschlechtsverkehr, zur Hoffnung auf einen Traum aus Satin. Das Londoner Westend war der Nabel der Welt. Es war in konzentrischen Kreisen angelegt: in der Mitte die Wohnungen mit den Offizieren drin, wie sie ausgestreckt auf ihren Betten lagen, mit den halbangezogenen weiblichen Hilfskräften aus der WAF quer daraufgelegt; im nächsten Ring die Unteroffiziere in den Wirtsstuben, die Herzen erweicht durch das Bier; und schließlich, im äußersten Kreis, die Soldaten der britischen und amerikanischen Armee an den Straßenecken, die in schnellem Rhythmus die Vorstadtdamen in die Mysterien der Venus einführten.

Doch nicht nur horizontal verbreitete sich der Plan. Vertikal ging es abwärts in die Souterrainlokale, wo man nach der Sperrstunde im »Klub des Großen Nepps« noch schlecht und recht was zu trinken bekam; abwärts in die U-Bahn, wieder ins Licht, ins künstliche, offizielle Licht der offiziellen U-Bahn-Verbindung, wenn kein Geld mehr für ein Taxi da war oder man für den Kampf um dieses Verkehrsmittel nicht mehr nüchtern genug war. Die U-Bahn wurde auch noch von Leuten benutzt, die andere Interessen und Sorgen hatten als Liebe und Suff; so wurde der unterirdische, lange Schlauch zur Szene des Konflikts, blutiger Streitereien und Zusammenbrüche und erzwungener Gefaßtheit. Oben, bei den Kassen, gab es ein letztes Widerstandsnest. Mit den Fahrkartenautomaten wurden Scherze getauscht. Verschlungene Statuen hingen auf den Rolltreppen. Mumien in Uniform griffen ineinander und hielten sich fest an dem Freund. Zusammengewachsene, umschlungene, todmüde Leiber wirbelten abwärts und fielen strömend auf den Bahnsteig.

Sie schrieen, sangen, zappelten, umarmten und liebten sich und schrumpften im Schlaf zusammen. Sie lachten laut und brüllten aus ganzem Herzen. Ein einsamer Zivilist wagte es, auch betrunken zu sein: seine alte Matrosenkappe in forschem Winkel überm rechten Auge, stimmte er ein Seemannslied der guten alten Zeit an. Ein indischer Matrose stieß ihn weiter. Sechs Neger benahmen sich artig und wurden von einem Haufen anderer amerikanischer Soldaten angegriffen. Mitten auf dem Bahnsteig lag ein großer Soldat auf seiner rechten Seite, völlig bewußtlos; blond war er und schön und lang gewachsen. Sein Kinn lag im Erbrochenen, er rührte sich nicht. Eine Menge sammelte sich um ihn und erwartete die weitere Entwicklung. Drei Riesen, mit den weißen Gamaschen und den weißen Helmen der amerikanischen Militärpolizei, näherten sich drohend. Die Menge verlief sich. Andere Sensationen zogen die Aufmerksamkeit an. Ein Neger war herausgefordert worden und hatte angenommen. Ein Boxkampf begann, der Neger siegte. Die Menge nahm ganz und gar für den Schwarzen Partei, der den Sieg in demselben Geiste akzeptierte wie zuvor die Herausforderung. Der Weiße hatte sich vom schmutzigen Boden wieder erhoben und fand Trost am ausladenden Leib seiner Freundin. Sie hatte einen glorreichen Sieg erwartet, war es jedoch zufrieden, das besiegte Haupt an ihrem verfallenen Busen zu bergen. Der Mann vergoß Tränen. Er dachte an seine Heimatstadt, wo alles glatt an der Oberfläche war und sonnig und still, mit den Sykomoren am Flusse.

Der singende Korporal der Seesoldaten war der nächste, der die Neugierde der Menge fesselte. Ein Zahnarzt in Uniform hielt eine Rede über den Krieg. Ein zweiter Held in Zivil versuchte sich in Unterbrechungen. »Wir drehen ihnen den Kragen um –«, und die Mädchen kreischten, quietschten, kicherten, brüllten, schrieen und bellten, öffneten und schlossen ihre Reihen. Die Züge donnerten in die Stationen und hielten an: der Wirbel teilte sich in Unterwirbel. Der Stationsvorstand pfiff, die weiblichen Schaffner riefen, der Zug fuhr wieder an, seine Lichter wie Fackeln strahlend; weiter, immer weiter durch die Tunnels; verborgen unter Grund wie ein explosives Mysterium.

Alle diese Männer und Weiber und Mädchen, die Huren und die Zuhälter und die Nutznießer eines Abends, hätten vielleicht längs des Schienenstranges in das schwarze Loch hineinwandern können, weiter und weiter und weiter hinziehen, stets unterirdisch, unter der wahren Welt, ein Licht in der Finsternis; sie hätten Meilen und Meilen gehen können, besoffen und von Fleischeslüsten besessen, sich gegenseitig abgreifen und drücken und pressen können, bis sie Atem und Samen und Bewußtsein verloren, eine ungefüge Masse, ein fühlloser Haufe, bis sie schließlich die große Bewegung Untergrund erreicht hätten, das große Ideal, die unterirdischen Kämpfer: das hilflose, hoffnungslose, hungernde, sterbende Europa, jenseits des Kanals – unter Grund, doch wie anders! Die dort das Schweigen des Todes statt hier der Lärm des Lebens; das Werk der Opfer statt das Leiden der Übeltäter.

»Es ist das Übel, das wir bekämpfen in diesem Krieg …« Der alte Mann war am Krebs gestorben und der jüngere Mann rauchte seine Zigarre, und der Mann mit dem stupiden Schnurrbart versteckte sich in einer anderen Untergrundfestung; sie alle, sie alle einander so nahe, so nahe der Herrlichkeit und der Macht; so nahe dem Mittelpunkt einer unheiligen Erde.

Uns paßte der Wirbel auf der Straße nicht. Wir versuchten, ein Taxi zu kriegen, doch der Nachtportier hörte nicht auf diesem Ohr. Ich schepperte ohne Erfolg mit den Halbkronen in der Tasche. Wir mußten uns an den Kämpfen in Piccadilly beteiligen. Taxis fuhren vor, hielten, wechselten ihre Passagiere und fuhren mit der neuen Kundschaft im Nu wieder davon. Andere fuhren mit größter Schnelligkeit vorbei; andere fuhren langsam, doch die wollten wieder keine Fuhre, die so weit war wie Janes Wohnung. Vier, fünf Offiziere waren in einen alten Wagen hineingestopft und brüllten ihren Trotz heraus gegen die harrende Menge. Die Straße vereinte sich in dem Ruf: »Taxi! Taxi!«; der Ruf klang flehend, elend, hochmütig, drohend. Schrille Pfiffe unterbrachen die menschlichen Stimmen. Andere Männer standen in kleinen Gruppen in der Mitte der Fahrbahn und winkten mit müden Händen durch die Halbdunkelheit. Wenn ein Auto stehenblieb, stürzten sich Schwärme von Militärpersonen darauf, in enger, taumelnder Formation.

»Gehen wir doch zu einem der Hotels«, sagte Jane. Wir gingen zum Berkeley. Draußen hatten sich ein paar Gäste angesammelt, und Neuankömmlinge wie wir mischten sich heimlich und unauffällig darunter. Ein großer Portier und ein hurtiger, winziger Laufbursche waren am Werk. Sie fächerten gegen die Hauptstraße aus und drangen in Richtung des Claridges vor. Der Portier nahm meine halbe Krone, blieb jedoch bei seiner traditionellen Gerechtigkeit – und die hieß: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ein Taxi fuhr vor und nahm ein parfümiertes Paar auf. In der Hoteltür hatten zwei Damen in Hermelin und ein Stabsoffizier ihren Spaß mit einem Herrn, der soeben erst ihre Bekanntschaft gemacht zu haben schien. In Kriegszeiten finden sich die sonderbarsten Gesprächsgenossen. Ein polnischer Offizier stieß dazu. Sie lachten herzlich, doch innerhalb der Grenzen des Erlaubten. Jane trat heran und lauschte aufmerksam. Ihre Züge leuchteten auf, und ich bemerkte um ihre Augen eine sonst unbekannte Lustigkeit, als hörte sie bekannte Stimmen, die sie schon lange entbehrt hatte. Der polnische Offizier warf ihr einen schnellen Blick zu. Ich dachte mir, die stärksten Bande seien die Bande der Klasse, Kaste und Erziehung. Ich beneidete diese Menschen zwar nicht, doch ich fühlte mich ausgeschlossen. Als die Gesellschaft dann den nächsten Wagen nahm, beschlossen wir, es aufzugeben. Der Nebel wurde wieder dichter; wir gingen zu Fuß durch Mayfair zur U-Bahnstation Bond Street.

Ich sagte: »Der polnische Offizier hat sehr lasterhaft ausgesehen.«

Sie sagte mit abweisender Stimme: »Sie haben ja keine Idee, wie lasterhafte Leute wirklich aussehen. Das Pech ist, ich kenne sie alle.«

»Alle Laster?«

»Alle.«

Ich antwortete nichts. Wir gingen an einem der großen Mayfair-Hotels vorbei. Aus der Küche im Souterrain kamen Licht und Gestank. Ich war eifersüchtig und machte eine dumme, grobe Bemerkung. Sie nahm daran Anstoß und sagte es auch.

Die U-Bahn war höllisch. Wir kämpften uns auf den Bahnsteig durch, der voll war von betrunkenen Soldaten, Offizieren, von Huren, Theaterbesuchern und Kindern. In ihren Schlafstellen schliefen die Unschuldigen des Londoner Bombardements friedlich dahin, oder sie saßen da und beobachteten aus forschenden Augen den Glanz der Nachtschwärmer und -schwärmerei. Einige Kinder teilten die Bettstatt mit ihren besoffenen Müttern. Andere träumten allein, die Hände auf der schmutzigen Decke, goldene Locken um ein pausbäckiges Gesicht. Viele von den ständigen Gästen hatten ihren Spaß mit den Soldaten, die mit den Sitten des Londoner Nachtlebens noch nicht vertraut waren.

Als dann die Züge einliefen, brachen Scharen anderer Halbwüchsiger aus den Waggons vor und vereinigten sich mit ihren Familien. Sie hatten gerade ihre letzte Fahrt auf den U-Bahnstrecken beendet: sie hatten Kameraden getroffen aus Bezirken, die so weit entfernt lagen wie Wimbledon, Chiswick und Wembley; sie hatten neue Ideen von Spiel, Trunksucht und Laster in fremden Distrikten aufgeschnappt.

Wir rauften um den Eingang. Menschen waren in den Waggon hineingestopft. Die rauhe Stimme der weiblichen Stationshilfskraft beschleunigte unsere Schritte. Ein Fliegeroffizier aus Australien berührte Janes Arm und erhielt einen Verweis. Irgendjemand spielte auf einem Instrument, seine Stimme ging im Lärm unter. Der Zug raste dahin, die Betrunkenen rollten herum, die Mädels kicherten, die Soldaten stießen gegeneinander, Hirn und Seele waren uns durchbohrt mit dem Spektakel der Ungezügelten: wir mußten uns bemühen, verhältnismäßig die Form zu wahren. Nicht einen Augenblick lang sah mir Jane ins Gesicht.

Sie war vielleicht böse, weil ich kein Taxi hatte auftreiben können. Sie haßte diese Umgebung vielleicht so sehr, daß sie das Antlitz dessen, der dafür verantwortlich zu machen war, nicht einmal zu sehen wünschte. Wenigstens waren wir aber nicht getrennt. Nicht eines Haares Breite lag zwischen ihrem Rücken und meiner Brust, zwischen ihrem Nacken und meinem Mund, zwischen meinen Händen und ihren Hüften. Wir standen nicht: wir hingen. Ein anderer Soldat ging ihre Vorderseite an, und sie wandte sich bei der nächsten Station um, müde und angeekelt. Die Luft war zum Schneiden, der Lärm nahm zu. Einer wollte aussteigen und stieß uns mächtig. Ich fand plötzlich meine Hand auf Janes Schulter und meinen Arm um ihre Taille. Ich war erregt, und mein Ungewissen, das mir auf der rechten Achsel saß, flüsterte mir ins Ohr: »Gesteh es ein – du hast das gern. Du hast das schon sehr gern. Was für eine Gelegenheit! Du bist nicht ihr Geliebter und du versuchst von dieser Nähe und Enge genau so Vorteil zu ziehen wie sonst einer. Was für ein süßes Mädel du nur hast! Schade, daß sie nicht dein ist.«

»Halt den Mund!« flüsterte ich zurück. Jane hörte mich nicht. Sie machte eine Bemerkung über das Amt, in dem sie arbeitet, sie sprach recht laut, als wolle sie ihre eigne Bedeutung ausspielen gegen die protzigen Rangabzeichen, gegen den Ruhm der Soldateska. Das Lachen im Kreise verstummte, die Stimmen schwiegen einen Augenblick, und ehrfürchtiger Schrecken überfiel die Lauschenden. Schließlich und endlich war es ein berühmtes Regierungsamt, wo sie arbeitete.

Wir stiegen aus und gingen die kurze Strecke zu ihrer Wohnung. Ich sah einen klaren Himmel zu Häupten, nebellos, ein paar Fixsterne schwammen in dunklen Höhen, unberührbar und heilig. Ich war nicht müde, fühlte mich aber alt und abgespielt. Ich nahm ihren Arm, und sie entzog ihn mir nicht. Sie war recht munter und begann, mir eine scherzhafte Anekdote aus ihrem Büro zu erzählen.

Ich wollte sie nicht fragen, ob ich mit ihr in die Wohnung hinaufkommen könne, sie ging jedoch einfach an die Haustür und dann hinein, das Tor ließ sie hinter sich offen für mich. Mit einem einzigen Sprung nahm ich die beiden Stufen, meine Enttäuschung war wie weggeblasen. Ich stieg hinter ihr die Treppen hinauf, und ich erinnerte mich an den Tag, als ich mit ihr zum erstenmal in ihre Wohnung gekommen war. Ich erinnerte mich an ihren geschwungenen Rücken und was ich damals gefühlt hatte, vor zwei Jahren: die starke, trockene Erregung des unsentimentalen Mannes, der sein Jagdtier zur Strecke bringt. Ich sah ihr Profil in dem Licht, das aus der Wohnung des Steuereinnehmers fiel, und die honigfarbene Strähne Haares unter ihrem schwarzen Hut. Ich sah sogar die Perlen um ihren Hals.

Sie öffnete die Wohnungstür; die alte Dame war wohl schon abgereist. Jane knipste das elektrische Licht in dem kleinen Vorraum an und ging in das Wohnzimmer, um den Gasofen anzuzünden.

»Schon gut«, sagte sie. »Kommen Sie nur herein –« Sie nahm aber nicht den Kleiderbügel aus dem Schrank für mich, wie sie es früher getan hatte. Ich fühlte mich vernachlässigt. Ich wußte nicht, ob Krieg oder Frieden auf mich wartete.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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