Buch lesen: «Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – Band 185e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski», Seite 2

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Kufalt zieht grübelnd die Stirne in Falten. Er weiß natürlich, dass es in der Zelle kein Versteck gibt, das die Beamten nicht kennen. Die haben da vorne eine Liste, ein Wachtmeister hat es ihm mal erzählt; zweihundertelf Möglichkeiten gibt es, in dem Dreckding von Zelle was zu verstecken.

Aber für ihn handelt es sich jetzt nur darum, ein Versteck zu finden, das anderthalb Stunden vorhält. Länger dauert die Vorführung beim Arzt nicht, und länger hat der also auch keine Zeit zu suchen.

Im Rücken vom Gesangbuch? Nein, das ist schlecht. In der Kapokmatratze? Das wäre nicht dumm, aber dafür ist die Zeit jetzt zu kurz, er kann nicht auftrennen und zunähen in der halben Stunde bis zur Vorführung. Außerdem musste er sich erst das passende Garn von den Sattlern besorgen.

Nun zeigt es sich, dass es dumm war, den Kübel zu leeren, anderthalb Stunden in dem Dreck auf dem Boden zu liegen, das hätte dem Hunderter nichts geschadet, das wäre wieder rauszukriegen gewesen, aber nun war der Kübel leer.

Unter den Tisch kleben?

Am besten unter dem Tisch mit Brotkrumen festkleben!

Er dreht schon an den Kügelchen, aber dann lässt er es wieder: es ist zu bekannt und ein Blick genügt. Lieber nicht.

Kufalt wird nervös. Es klingelt schon zum Schluss der letzten Freistunde, in einer Viertelstunde geht die Vorführung los. Ob er den Schein doch mit zum Arzt nimmt? Er könnte ihn ganz fest zusammenrollen und sich hinten reinstecken. Aber vielleicht gibt der Netzemeister dem Hauptbullen vom Lazarett einen Wink, und dann wird er so gefilzt – die sind imstande und untersuchten ihn auf Mastdarmkrebs!

Er ist ratlos. Es ist genau, wie wenn er rauskommen wird. Da sind auch so viele Möglichkeiten, und bei allen ist ein ‚Aber’ dabei. Man muss sich entscheiden können, aber das eben kann er nicht. Wie soll er auch? Die haben ihm doch hier fünf Jahre lang jede Entscheidung abgenommen. Die haben gesagt: ‚Friss!’ und da hat er gefressen. Die haben gesagt: ‚Geh durch die Tür!’ und da ist er durchgegangen, und ‚Schreib heute!’ und da hat er heute seinen Brief geschrieben.

Die Luftklappe ist auch nicht schlecht. Nur zu bekannt, viel zu bekannt. In dem einen Bettbrett ist ein Riss – aber wenn einer zufällig hinsieht, sieht er sofort den Schimmer vom Papier. Er könnte den Schemel auf den Tisch stellen und das Dings auf den Schirm der Deckenlampe legen, aber das machen alle, und außerdem kann gerade einer durch den Spion linsen, wenn er auf dem Tisch steht.

Kufalt dreht sich rasch um und sieht nach dem Spion. Richtig, er hat's gefühlt, da ist ein Glotzauge, das ist dem seines, das Fischauge!

Und in gespielter Wut springt er gegen die Tür, ballert daran und brüllt: „Willst du weg vom Spion, Kalfaktor, verdammter!“

Es geht knallbumms, die Tür fliegt auf, und in ihr steht der Hauptwachtmeister Rusch.

Nun heißt es theatern, denn Rusch liebt nur die eigenen Späße. Bei Hauptwachtmeister Rusch muss man demütig sein, und so ist Kufalt ganz hübsch betreten, als er stottert: „O Verzeihung, Herr Hauptwachtmeister! Herr Hauptwachtmeister verzeihen, ich dachte, es wäre das Biest von Kalfaktor, der kneistert immer, wo ich meinen Tabak lasse.“

„Wat denn? Wat denn! Krach gibt's nicht. Der Lack geht von der Türe.“

Kufalt schmeichelt: „Herr Hauptwachtmeister wissen doch, bei mir ist immer alles in Butter, kein Ratzer im Lack.“

Der Hauptwachtmeister, ein etwas stoppliger Napoleon, der wahre Herrscher über das Gefängnis, wortkarg, stets voller Überraschungen, erbitterter Feind jeder Neuerung, des Stufenstrafvollzugs, des Direktors, der Beamten, jedes Gefangenen – der Hauptwachtmeister Rusch antwortet nicht, sondern geht zum Schränkchen, an dem Personalien- und Vergünstigungstafel hängt.

„Was ist mit Vögeln?“ fragt er.

„Mit Vögeln?“ fragt Kufalt, halb verwirrt, halb grinsend.

„Vögeln! Vögeln!“ knarrt der Despot ärgerlich und tippt mit dem Finger auf die Vergünstigungstafel. „Hier steht: zwei Kanarienvögel. Wo sind die? Verschoben, was?“

„Aber Herr Hauptwachtmeister“, sagt Kufalt vorwurfsvoll und denkt dabei voll Angst an den Hunderter, der immer noch in seinem Halstuch steckt. „Die gelben Spatzen sind doch draufgegangen, als im Winter die Zentralheizung kaputt war. Ich hab's Ihnen doch noch gesagt!“

„Gelogen. Gelogen. Erstunken. Gelogen. Der Schuster, der Maaß, hat zweie zu viel. Das sind deine. Verschoben!“

„Aber, Herr Hauptwachtmeister, ich habe es Ihnen doch gesagt, dass sie krepiert sind! Ich bin im Glaskasten bei Ihnen gewesen und habe es Ihnen gemeldet.“

Der Hauptwachtmeister steht unterm Fenster. Er dreht dem Gefangenen den Rücken, der sieht nur die dicken weißen Hände, die mit den Schlüsseln spielen.

‚Wenn er doch ginge!’ fleht Kufalt. ‚Jeden Augenblick kommt die Vorführung zum Arzt, und ich mit dem Schein im Halstuch! Ich bin ja geplatzt! Ich komme gleich wieder in Untersuchungshaft!!’

„Die dritte Stufe!“ knurrt das Haupt. „Immer die dritte Stufe. Alle Unordnung im Bau. Ihr Geld, Ihre Arbeitsbelohnung...“

„Ja –?“ fragt Kufalt, als nichts mehr kommt.

„Aufs Wohlfahrtsamt. Da kannst du dir jede Woche fünf Mark holen.“

„Herr Hauptwachtmeister“, fleht Kufalt „das werden Sie doch nicht tun, wo ich meine Zelle immer so fein gewienert habe!“

„Wat denn! Tu' ich. Mach' ich. Mir ganz egal. Wienern –? Ordnung mit Vögeln – hahaha!“

„Haha“, lächelt auch Kufalt gehorsam.

„Was ist“, fragt der Hauptwachtmeister und kann plötzlich Deutsch, „mit dem Netzemeister und dem neuen Netzekalfaktor?“

„Neuer Netzekalfaktor?“ fragt Kufalt. „Ist denn ein neuer da? Den hab' ich noch gar nicht gesehen.“

„Viole! Scheiß die anderen an! Zehn Minuten warst du bei denen in der Zelle!“

„Aber nein, Herr Hauptwachtmeister, ich war heute überhaupt nur zur Freistunde aus meiner Zelle!“

Der Hauptwachtmeister streicht mit dem Finger nachdenklich über das Schrankdach. Er besieht den Finger, nicht unbefriedigt, dann beriecht er ihn. Nein: es hat auch nicht eine Spur von Staub auf dem Schrank gelegen. Er besinnt sich und geht gegen die Tür. „Also Arbeitsbelohnung durch Wohlfahrt.“

Kufalt überlegt fieberhaft: ‚Sag ich jetzt nichts, so geht er und ich kann den Hunderter verstecken, aber hänge ewig bei der Wohlfahrt. Hau' ich die aber in die Pfanne, bin ich zwar den Hunderter los, kriege aber übermorgen meine Arbeitsbelohnung hier bar ausbezahlt. Aber auch nur vielleicht.’

„Herr Hauptwachtmeister...“

„He –?“

„Ich war in der Zelle – bei denen.“

Der wartet. Schließlich: „Was ist –“

„Der kriegt für den dicken Juden Briefe. Das müssen Sie mal filzen gehen.“

„Nur Briefe?“

„Er wird's ja nicht tun für die schöne Nase von dem.“

„Weißt du was?“

„Filzen müssen Sie, Herr Hauptwachtmeister. Heute noch, gleich – da finden Sie was.“

Die Tür geht auf: „Kufalt zum Arzt!“

Kufalt sieht auf den Hauptwachtmeister.

„Los!“ sagt er gnädig. „Vögel krepieren hier alle im Bau.“

„Dem Aas, dem Netzemeister, habe ich das fein besorgt“, denkt Kufalt, als er die Treppe hinunterschlurrt. „Nun hat er keine Zeit in meiner Zelle zu suchen. Ach Gott das wäre ja jetzt auch egal! Nun habe ich den Schein doch noch bei mir, verdammt!“

* * *

Erstes Kapitel – Reif zur Entlassung – 6

Erstes Kapitel – Reif zur Entlassung – 6

Der Wachtmeister sieht Kufalt über das Geländer weg nach. „Ein bisschen dalli, Kufalt! Tut, als wüsste er nicht Bescheid. Bist doch wahrhaftig genug zum Arzt gelaufen!“

‚Ist ja gar nicht wahr’, denkt Kufalt. ‚Seit der mich damals angezeigt hat wegen Simulieren, als ich den Daumen verknackst hatte und nicht stricken konnte, bin ich keine dreimal mehr bei ihm gewesen. Und ich hatte nicht Viole geschoben, ich hatte den Daumen wirklich verknackst!’

Nein, es sind schlechte Aussichten, den Schein noch irgendwie loszuwerden. Auf allen Gängen ist Hochbetrieb. Vorführung zum Direktor, zum Polizeiinspektor, zum Arbeitsinspektor, zum Arzt, zum Pastor, zum Lehrer – auf allen Stationen knallen die Riegel, knacken die Schlösser, laufen Beamte mit Listen, schieben sich Gefangene in ihren blauen Schlotterhosen lang.

‚Mir geht eben alles schief. Wenn ich mal wirklich kess bin und schneide mir eine Scheibe ab – ein richtiger Ganove werde ich doch nie...’

Unten begrüßt ihn Oberwachtmeister Petrow, ein oller Posener, schon in der Vorkriegszeit Kittchenhengst gewesen, Liebe aller Gefangenen.

„Na, Kufalt, olles Haus, is sich Zeit rum? Siehst du, is gewesen ein Blitz! Warum hat Hauptwachtmeister dir Zelle gegeben? Hättest du machen können auf der Treppe ab das kleine Endchen Knast! – Wie lange? Fünf Jahre? Mensch, Kufalt, Zeit läuft sich wie Auto; was sich kleines Mädchen freuen wird, dass du alles hast aufgespart für sie.“

Der dicke Petrow schnauft strahlend, und die Gefangenen grinsen beifällig.

„Nein, stell dich dort hin, Kufalt, Haus. Nich zu Batzke, denn ihr schwatzt, und der Olle kuckt aus Glaskasten, kuckt, kuckt! – Siehst du, hier, und drei Schritte Abstand. – Komm her, du Neuer mit Brille, willst du zu Fuß gehen auf Hamburg –? Bleib hier, mein Söhnchen, mach ein bisschen halt hier bei uns, Liebling ... Geh nicht mehr weiter.“

An die dreißig Gefangene stehen schon da, wartend auf die Arztvisite, und noch kommen immer mehr von allen Stationen dazu. Kufalt hat den kleinen Tischler, den Emil Bruhn, entdeckt und winkt ihm aus der Ferne zu.

„Das wird ja heute wieder endlos“, stöhnt er zu seinem Vordermann, „todsicher ist der Fraß eiskalt, wenn wir auf die Zelle kommen. Und heute gibt's Erbsen.“

Der vor ihm dreht sich um. Er ist ein langes Reff in einer unglaublichen Kledage, Röhren aus lauter hell- und dunkelblauen Flicken, eine Weste, die so kurz ist, dass zwischen Hosen- und Westenrand eine Handbreit Hemd hervorsieht, und eine Jacke mit Ärmeln nur bis an die Ellbogen. Darüber ein kleiner, blasser, böser Kopf.

„Dich haben sie ja beim Hausvater fein in der Mache gehabt“, sagt Kufalt. „Hast ihn wohl geärgert. – Wie lange reißt du ab?“

„Sprechen Sie mit mir?“ fragt das Reff. „Darf man denn hier sprechen?“

„Nee. Aber du darfst ruhig du zu mir sagen, unsre Kübel werden doch alle zusammen ausgeschüttet. – Wieviel musst du abreißen?“

„Ich bin zu zwei Jahren Gefängnishaft verurteilt. Aber ich bin unschuldig, zwei Zeugen haben einen Meineid geschworen. Ich habe schon Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet.“

„Das mit dem Meineid sagen wir alle, wenn wir reinkommen“, tröstet Kufalt. „Das gibt sich. – Was hat auf deinem Schild über der Zelle gestanden, vor der Verhandlung?“

„Schild –? Wie meinen Sie das? Ach so! Untersuchungsgefangener, als ein ‚U’.“

„Quatsch, das ‚U’ heißt doch nicht Untersuchungsgefangener, das heißt Unschuldiger. Und was hängt jetzt an deiner Zelle?“

„Strafgefangener. ‚S’.“

„Wieder Quatsch. Schuldiger! Das ist alles ganz einfach. Wenn du verknackt bist, bist du auch schuldig, da hilft kein Reden. Urteil ist Urteil. Rede hier bloß keinen Stuss von wegen Meineidsanzeigen, auf die süße Tour fallen wir hier nicht rein. Da sind 'ne ganze Menge, die nehmen das gewaltig sauer, wenn du so daherredest.“

„Na, erlauben Sie mal, ich bin unschuldig, meine Frau und mein Prokurist werden ein paar Jahre Zuchthaus wegen Meineid kriegen. Hören Sie mal zu, ich werde Ihnen das erzählen ...“

Aber es kommt nicht mehr zum Erzählen. Vom Glaskasten her klingt heftiges Schlüsselgeklopfe. „Herr Petrow, passen Sie gefälligst auf! Der Lange da, der Menzel, schwatzt immerzu mit dem Kufalt.“

Petrow stürzt sich wutenbrannt auf den ‚Unschuldigen’: „Soll ich dir Giftzahn ausreißen, Laster, langes, geklebtes? Bist du in Judenschule, denkst du? Glaubst du? Marsch, marsch, marsch, Linken, Rechten, Linken, Rechten in Arrestzelle, kannst du reden mit Eisen, bis Arzt kommt, Schwätziges, du!“

Knack knack, die Zellentür fliegt zu, der ganz verstörte Lange ist verschwunden, und im Vorbeigehen flüstert Petrow strahlend dem Kufalt zu: „Hat er Schiss gekriegt, der Neue? Bin ich schrecklich wütend? Söhnchen, mach mit dem nicht Kumpelage, immer ist das bei Direktor und Inspektor und schwätzt alles, was es hört.“

Und Petrow ist schon zehn Schritte weiter. Da stehen isoliert zwei Braune, schmucke Zuchthaushusaren, sicher auf Transport hier. Und die beiden Isolierten hatten drei Schritte vorwärts gemacht, vom Linoleum herunter auf den gewachsten Zementboden, wohl um etwas Anschluss zu finden bei den anderen Gefangenen, vielleicht wegen Tabak...

„Bleibt sich hier, die Herren, auf dem braunen Linolei, immer auf dem Linolei. Hier, die Herren!“

Die Zuchthäusler sehen nicht auf, sie sehen starr vor sich in die Luft, hören nichts, rühren sich nicht. Kufalt stellt wieder fest, dass Zuchthäusler eine ganz andere Art haben, mit Beamten umzugehen. Gefängnisgefangene schmusen sich an, suchen auf du und du zu kommen, der Zuchthäusler hat nie einen Beamten gesehen, die sind alle Luft für ihn.

Petrow empört sich ernstlich: „Auf den Linolei! Auf den Linolei!“

Die beiden hören nichts, sehen nichts. Nur wie zufällig machen sie gerade jetzt einen Schritt, zwei Schritte, drei Schritte – und stehen wieder auf dem Linoleum. Den Beamten haben sie gar nicht gesehen.

Die Tür zum Lazarett tut sich auf. In seinem weißen Mantel erscheint der Lazaretthauptwachtmeister: „Vorführung zum Arzt!“

„Paarweise antreten!“ schreit Petrow. „Einrücken ins Lazarett!“

Und im selben Augenblick bricht die sorgfältig bewahrte Ruhe und Ordnung zusammen. An die fünfzig Gefangene rücken im Gelärm und Geschwätz durch die enge Schlucht eines Ganges über eine Treppe ins Lazarett. Petrow versucht, wenigstens die beiden Zuchthäusler im Auge zu behalten, aber sofort sind die untergetaucht zwischen den anderen, tauschen Worte, ihre Hände fassen zu.

„Na, wartet! Werde ich filzen euch auf Tabak, Schweine, miserablige! – Na, lass sie! – Stellt euch hierhin, ihr beide!“

„Alles in zwei Gliedern aufstellen, die Gesichter zur Wand, die Rücken gegeneinander. Schuhe und Pantoffeln ausziehen und vor sich stellen!“ kommandiert der Lazaretthauptwachtmeister.

Es geschieht, ein Name wird aufgerufen, und der Gefangene verschwindet im Arztzimmer, der Hauptwachtmeister hinterher.

„Das wird heute wieder endlos dauern“, haucht Kufalt zum kleinen Bruhn, der neben ihm steht.

„Weiß man nicht, Willi“, flüstert Bruhn. „Manchmal macht er sechzig in einer halben Stunde fertig. Siehst du, geht der Krach schon los.“

Aus dem Arztzimmer tönt Geschimpfe, Geschrei, der Gefangene erscheint, wutrot: „Aber ich bin wirklich krank, ich beschwere mich beim Strafvollzugsamt, das lasse ich mir nicht gefallen!“

„Gehen Sie schon, gehen Sie“, drängt der Hauptwachtmeister.

„Simulantengesindel“, hört man den Arzt schreien. „Ich besorg's euch! Der Nächste!“

„Riecht heute sauer“, sagt Batzke auf der anderen Seite von Kufalt. „Wenn er schon beim ersten so anfängt...“

„Wenigstens kommen wir dann schneller dran. Ich will noch zum Fußball. Du doch auch?“

„Weiß noch nicht. Mein Affenfett ist alle, ich muss erst noch mal auf die Anschaffe.“

„Müssen wir uns eigentlich ganz ausziehen?“ fragt Kufalt.

Und Batzke: „In Fuhlsbüttel mussten wir's. Wie's hier bei den Preußen ist, weiß ich nicht.“

„Unsinn“, flüsterte Bruhn von der anderen Seite. „Gar nichts wird gemacht. Der sieht uns gar nicht an.“

„Glaub' ich nicht“, sagt wieder Kufalt. „In der Strafvollzugsordnung steht doch, dass die Gefangenen vor ihrer Entlassung gründlich auf Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu untersuchen sind.“

„Da steht viel.“

„Also du meinst, wir brauchen uns nicht auszuziehen?“

Batzke flüstert: „Na, was für heiße Sore hast du denn in deinen Lumpen, Kufalt? Machen wir Kippe oder –?“

„Stille seid ihr, Klatschtanten“, ruft Petrow. „Mit Schlüssel in Genick schlag' ich!“

„Ach, Herr Oberwachtmeister, darf ich nicht mal austreten? Herr Oberwachtmeister, es zieht mir ja so durch den Bauch! Ich hab' ja so 'ne Angst vor dem Arzt!“ grinst Kufalt.

„Na, geh scheißen, altes Haus. Drüben in Spülzelle. Dass du aber keine drinnen stößt, sonst alles Qualm, und Doktor schimpft.“

„Bestimmt nicht, Herr Oberwachtmeister.“

Und Kufalt verschwindet in der Spülzelle, deren Tür er anlehnt. Der Sicherheit halber zieht er die Hosen runter, aber dann stellt er sich mit dem Rücken gegen den Spion, nimmt hastig den Schein aus dem Halstuch, schiebt ihn tief in die Socken (‚so, Batzke, Kippe is nich’), macht sich zurecht, lässt einen Augenblick die Wasserleitung laufen und stellt sich wieder in Reih und Glied.

Petrow steckt den Kopf prüfend in die Spülzelle und zieht ihn befriedigt zurück. „Nicht geraucht, keine gestoßen, braver Kerl, Kufalt.“

Und Kufalt fühlt sich ob dieses Lobes richtig gerührt.

Doch Batzke flüstert: „Na, Mensch, Kufalt, wie is –? Kommst du rüber mit der Sore, oder soll ich?“

Und Kufalt dagegen: „Und was ist mit dem dicken Juden und der nackten Schickse? Mensch, hau bloß ab, bei mir immer Fehlmeldung!“

„Na also“, grinst Batzke. „Hast du den Stubben auch hochgenommen? Sauber! Sauber!“

Aus der Ecke grollt eine drohende Stimme: „Wie lange sollen wir hier noch in Socken auf dem kalten Fußboden stehen? Eine Schweinerei ist das! Beschweren werde ich mich!“

Petrow grinst: „Die Herren aus dem Zuchthaus? Hat sich Medizinalrat so angeordnet. Kann ich nichts machen, Herren. Beschweren sich bei Medizinalrat.“

„Möchte ich auch wissen“, sagt Kufalt leise zu Bruhn, „warum diese Schweinerei ist. Zehnmal habe ich mir schon den Husten bei dieser Steherei auf dem kalten Fußboden geholt.“

„Dass wir den Herren Lazarettkalfaktoren ihr Linoleum nicht zerkratzen“, meint Batzke.

„I wo“, erklärt Bruhn, der alles weiß. „Das ist schon sechs, acht Jahre her, da hat mal ein Gefangener dem Arzt die Latschen um den Kopf gehauen. Seitdem darf kein Gefangener mehr in Latschen zu ihm.“

„Verdammte Schweinerei“, knurrt Kufalt. „Wir dürfen uns hier erkälten, weil...“

„Wir sind eben Vieh“, sagt Batzke. „Aber ich will's denen draußen auch zeigen, was ich für ein Vieh bin!“

Die Gefangenen sind dahingeschmolzen wie Schnee an der Sonne, es hat mehr Krach gegeben, mehr Geschrei, empörte Proteste oder weinerliches Gewinsel, aber zum Schluss hat immer die dicke Schulter des Lazaretthauptwachtmeisters die Leute aus der Tür gekantet, Petrow hat sie weiterbefördert, hat mitfühlend ihre Klage angehört und ist froh gewesen, wenn er sie aus dem Lazarett raus hatte.

Nun kommen nur noch die beiden Zuchthäusler und die Entlassungen dran.

„Pass auf, jetzt gibt's Krach“, rät Kufalt.

„Glaub' ich nicht“, zweifelt Bruhn. „Sollte mich wundern.“

Und nach fünf Minuten erscheinen die beiden wieder aus dem Arztzimmer, mit denselben ausdruckslosen Gesichtern, und diesmal taucht der Herr Medizinalrat selbst hinter ihnen auf: „Der Hauptwachtmeister bringt Ihnen gleich die Medizin rauf. Ja, auch Watte. Jawohl.“

„Die können's besser, die Jungen“, beneidet sie Kufalt.

„Ach was“, sagt Bruhn, „feige ist er bloß, der Doktor. Das können doch Lebenslängliche sein – und was riskieren die schon, wenn sie ihm in die Fresse schlagen? Lebenslänglich bleibt immer lebenslänglich. Das weiß der Doktor ganz gut.“

„Kehrt! Den Arzt anschauen! Das sind die Leute, die diese Woche zur Entlassung kommen, Herr Medizinalrat.“

„Schön.“ Der Medizinalrat sieht nicht hoch. „Die Leute können abgeführt werden. Alle gesund, alle arbeitsfähig, Herr Hauptwachtmeister.“

„Dafür haben wir hier nun eine Stunde gewartet“, sagt Bruhn.

„Aber ich schreibe eine dicke Beschwerde, wenn ich raus bin“, erklärt Kufalt.

„Vieh muss wie Vieh behandelt werden“, grinst Batzke. „Recht hat er, der Pflasterkasten!“

* * *

7

Als Kufalt in seine Zelle kommt, hat er schon wieder Grund zum Ärger. Da haben sie unterdessen Essen ausgegeben und ihm seinen Essnapf auf den Tisch gestellt, aber nur einen Schlag haben sie hineingetan! Hunde, die verdammten! Soll er Kohldampf schieben noch in den letzten Tagen? Und gerade Erbsen, die er so gerne isst!

Aber als Kufalt dann sitzt und hastig löffelt – er muss schlingen, denn es kann jede Minute klingeln zur Freistunde der dritten Stufe –, widersteht ihm das Essen plötzlich. Das hat er ein paarmal gehabt in diesen Jahren: wochenlang, monatelang konnte er den breiigen Fraß nicht runterbringen.

So wühlt er nur appetitlos in der Schüssel, ob sich vielleicht ein Stückchen Schweinefleisch hinein verirrt hat – aber nichts.

Er kippt das Essen in den Kübel, macht die Schüssel sauber und schmiert sich einen Kanten mit Schmalz. Sein Schmalz schmeckt deftig, die Schneider braten es ihm unten auf dem Bügelofen mit Äpfeln und Zwiebeln aus. Zu ihm sind sie anständig, bei ihm nehmen sie nicht mehr als ein Viertel vom Pfund für ihre ‚Arbeit’, andere müssen die Hälfte oder gar drei Viertel geben, und wer grün ist, der kriegt überhaupt nichts zurück. Da hat es eben der Hauptwachtmeister beschlagnahmt. Die Schneider sind noch anständig gewesen und haben alle Schuld auf sich genommen. Erzählen die. Mach da schon was!

Kufalt hockt auf seinem Schemel und gähnt. Am liebsten haute er sich eine Weile aufs Bett, aber der Hauptwachtmeister kann jeden Augenblick an die Glocke schlagen, es wäre schon längst Zeit.

Wie sich die Zeit dehnt, diese letzten Tage und Wochen! Sie geht nicht hin, sie geht nicht hin, sie bleibt, sie klebt, sie geht nicht hin. Sonst hat er jede freie Minute gestrickt, aber er mag nicht mehr, nicht eine Masche mehr wird er denen stricken! Nichts mag er mehr. Auch nicht draußen sein. Sicher schreibt Werner überhaupt nicht, und dann darf er beim Pfaffen um Unterkunft betteln.

Das Beste wäre ein gutes sicheres Einkommen, es braucht nur klein zu sein, aber sicher. Nichts mehr von den Ganoven sehen, irgendwo ganz unauffällig hausen, ein gewisser, gleichgültiger Willi Kufalt, und man hat sein Zimmer und sitzt warm durch den Winter. Vielleicht mal Kino. Und nette Büroarbeit, und so weiter und so weiter. Er wünscht sich nichts Besseres. Amen.

Die Glocke schlägt an.

Er fährt hoch, greift nach Mütze und Halstuch, fühlt noch mal, ob der Schein fest im Strumpf sitzt – da macht schon Steinmetz die Tür auf: „Freistunde dritte Stufe!“

Unterm Glaskasten sammeln sie sich, elf Männlein von sechshundert.

„Seid ihr alle?“ fragt Petrow.

„Nein, Batzke fehlt noch.“

„Der pennt, muss extra geweckt werden.“

„Nein, der will nicht kommen.“

„Einen feinen Begriff kriegen die vorne. Die werden uns rasch wieder die Extrafreistunde abknöpfen, wenn sie sehen, dass wir nicht mal hingehen.“

„Wer hat den Fußball?“

„Einen neuen brauchen wir auch wieder. Den kann man nicht mehr flicken.“

„Halt's Maul, Schuster, gut ist der noch zu flicken, sei bloß nicht so faul!“

„Wenn die feinen Herren übermorgen rauskommen, können sie schon mal zehn Mark schmeißen von ihrer Arbeitsbelohnung.“

„Ich brauch' mein Geld für mich.“

„Nanu, Herr Oberwachtmeister, warum gehen wir denn heute durch den Keller?“

„Is sich näher.“

„Und verboten ist es auch.“

„Wer verboten? Gar nicht verboten!“

„Rusch!“

„Was der verbietet, ich hust' in die Hosen.“

„Da steht doch wer!“

„Mensch, Bruhn, kommst du mit uns mit?“

„Au fein, Emil, da können wir schön miteinander klöhnen.“

„Petrow hat mich rausgeschmuggelt, Rusch ist jetzt nicht im Bau. Fein, was, Willi?“

„Das gibt es gar nicht! Der ist noch nicht mal zweite Stufe! Herr Oberwachtmeister –!“

„Ich nichts sehen. Nicht wissen, wie Bruhn rausgekommen.“

„Hältst du den Sabbel, neidischer Hund! Gönnst das dem Bruhn wohl nicht, dass er ein einziges Mal mit uns rauskommt?“

„Stubben, dämlicher, wenn ich mal was will, gibst du an, noch und noch.“

„Bei Bruhn ist das anders, bei Bruhn sagt kein Wachtmeister was.“

„Anders – weil er dein Süßer ist, was? So was gibt's gar nicht, ich werde dir Lampen machen!“

„Tu's doch, wenn du's wagst! Ich weiß auch was von dir...“

Sie sind draußen. Es ist der Freihof vom Jugendgefängnis, auf dem sie Fußball spielen und spazierengehen dürfen, ohne Aufsicht – Petrow hat sich schleunigst gedrückt –, als Vorbereitung für die Freiheit, allerdings von einer fünf Meter hohen Mauer umgeben.

„Komm, Willi, lass ihn doch reden, ich bin ja jetzt draußen.“

„Ja, komm. Wir gehen hier die Mauer lang, da stören wir sie nicht beim Spiel.“

„Dir muss man eine in die Fresse schlagen, du hochnäsiger Hund, du!“

„Schlag doch, schlag doch, wenn du Courage hast!“

„Das will ich dir beweisen, du Priemmaul, du elendes –!“

„Spielen wir nun Fußball oder nicht, Schuster –?“

„Viel zu elend bist du mir, hau bloß ab mit deinem Puppenjungen. Aber ich sag' es dem Rusch –!“

„Also komm endlich, Willi!“

„Dieser elende Schuster, Emil! Ich will dir auch sagen, warum er so stänkert. Meine beiden gelben Spatzen hab' ich ihm verkauft für vier Pakete Tabak. Und der Rusch hat es gerochen. Nun ist er die Vögel und den Tabak los. Darum ist er so giftig, nicht deinetwegen.“

„Wann kommt er raus, der Schuster? Der spinnt ja schon.“

„Und ob! Drei Jahre muss er noch abreißen. Aber er schmiert sich ja an jeden ran, den Beamten besohlt er heimlich die Schuhe, noch und noch, und jetzt will er ja auch wieder in die katholische Kirche eintreten, da kriegt er sicher Bewährungsfrist!“

„Ja, der kommt immer wieder raus, der versteht den Bogen.“

Sie gehen in der warmen Maisonne immer unter der Mauer auf und ab. Grün ist kein Gräserl, kein Zweig zu sehen, aber der Himmel ist schön blau, und nach den trüben Zellen ist die Sonne doppelt hell und warm. Sie wärmt bis in die Knochen, die Glieder werden schlaff und lässig, die immer gespannte, sprungfertige, abwehrbereite Stimmung entspannt sich, die beiden werden weich und ruhig.

„Du, Willi“, sagt der kleine Bruhn.

Er ist ein dicker, molliger Junge, erst achtundzwanzig, mit siebzehn in den Bau gekommen. Mit seinen hellblauen Augen, dem rosigen, vollen Gesicht, dem fast weißen Haar sieht er aus wie ein großes Kind. Auf seinem Schild in der Zelle steht aber ‚Raubmord’, und er hat auch die Höchststrafe für Jugendliche bekommen, damals noch fünfzehn Jahre. Doch nach so was sieht er nicht aus, er ist ein guter Junge, alle im Bau mögen ihn. Nie hat er sich angeschmiert, und doch mögen sie ihn.

Übrigens behauptet er, wenn er auf die Sache, sehr selten und sehr hilflos, zu sprechen kommt, dass er zu Unrecht verurteilt ist. Es war kein Raubmord, es war Totschlag, in Wut und Verzweiflung hat er seinen Kahnschiffer, der den Schiffsjungen Bruhn bis aufs Blut peinigte, erschlagen. Dass es ihm dann leid tat, mit dem toten Schiffer die goldene Uhr ins Wasser zu werfen, das steht seiner Ansicht nach auf einem anderen Blatt. Nicht um die Uhr hat er den erschlagen.

Da gehen die beiden jungen Leute, fünf Jahre und elf Jahre Knast haben sie hinter sich, jetzt sind sie in der Sonne, und in zwei Tagen ist alles überstanden, und alles wird wieder gut.

„Du, Willi?“ fragt der kleine Bruhn.

„Ja, Emil?“

„Ich hab' dich schon in der Spülzelle gefragt: Willst du nicht hier bleiben? Hier am Ort, meine ich. Nein, sag noch nichts, ich denke mir, wir nehmen uns zusammen ein Zimmer, das wird billiger. – Und wenn du nicht gleich Arbeit kriegst, kochst du und wäschst und machst die Hausarbeit. Ich werd' gut verdienen. Und abends werfen wir uns fein in Schale und gehen aus.“

„Ich muss doch sehen, dass ich Arbeit kriege, Emil. Ich kann doch nicht ewig deine Hausarbeit machen.“

„Arbeit kriegst du. Nur so für den Anfang, dachte ich. Wenn du kräftiger wärst, würde ich dich in der Holzfabrik unterbringen, aber du musst wohl Schreibkram machen oder so was ... Der Alte mag dich doch gerne, der besorgt dir sicher was.“

„Ach, der Direktor, der kann auch nicht, wie er möchte. Und dann, Emil, hier das kleine Nest, überall laufen die Wachtmeister rum und die blauen Jungens auf Außenarbeit und ewig hast du den Bunker vor Augen und nach drei Tagen wissen die Krimschen, woher du bist. Und dann schwatzt es sich rum und die Wirtin erfährt's und dir wird gekündigt...“

„Wir gehen gleich zu einer, die's nicht stört.“

„Ach, das sind doch auch wieder solche, die wollen uns dann gleich hochnehmen.“

„Braucht nicht zu sein, Willi, glaub mir, braucht nicht zu sein. Es gibt auch andere. – Ich denk' immer, ich krieg' noch mal ein anständiges Mädel, nicht solch Nuttenpack, und heirate und werde Meister und hab' Kinder ...“

„Würdest du's ihr denn sagen?“

„Weiß nicht. Müsste man mal sehen. Aber besser nicht.“

„Aber du musst es ihr sagen, Emil! Sonst hast du ja immer Angst, es kommt raus und sie läuft dir weg.“

Sie stehen in der vollen Sonne, sie sehen sich nicht an, sie sehen vor sich hin in den grauen Sand, Kufalt wühlt mit seinem Pantoffel darin.

Bruhn bittet noch einmal: „Also, Willi, mach, komm mit mir!“

Und Kufalt: „Nein. Nein. Nein. Das mit dir, Emil, wäre doch auch wieder Kittchen. Wir würden immer nur vom Bau reden und vom Knast. Nee, nicht.“

„Nein!“ sagt nun auch Bruhn.

„Man hat ja hier alles mitgemacht, und man hat schön mitgeschoben und beschissen und hat andere in die Pfanne gehauen und ist denen in den Arsch gekrochen, denen vorne, aber nun Schluss!“

„Ja“, sagt Bruhn.

„Und dann, wegen des anderen auch ... Weißt du, als ich auf der Penne war, auf der Schule, verstehst du, da habe ich 'ne Liebe gehabt, ganz von weitem, wir haben höchstens zweimal miteinander gesprochen, und einmal hab' ich gesehen, wie sie ihr Strumpfband wieder festmachte in den Anlagen. Das war damals, als die Mädchen noch lange Röcke trugen, weißt du...“

„Ja“, sagt Bruhn.

„Aber das war nichts gegen das erste Jahr hier, als du mir gegenüber auf der anderen Seite die Zelle hattest und ich sah dich morgens. Du hattest nur Hemd und Hose an und setztest den Kübel raus und den Wasserkrug. Und dein Hemd stand offen über der Brust. Dann fingst du an, mir zuzulächeln, und ich hab' immer auf das Schließen gewartet, ob ich dich zu sehen kriegte ... Und dann schicktest du mir den ersten Kassiber ...“

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0+
Umfang:
631 S. 36 Illustrationen
ISBN:
9783754187036
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Rechteinhaber:
Bookwire
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