»Habe eben an dich gedacht, Batzke«, berichtete Kufalt.
»Dann geht’s dir mies«, stellte Batzke fest.
»Und dir?« fragte Kufalt.
»Dito, danke, dito«, antwortete Batzke.
Eine kleine Pause entstand, dann rückte Batzke so auf der Bank hin und her, als wollte er aufstehen. Und darum fragte Kufalt hastig: »Ist denn gar nichts zu machen, Batzke?«
»Zu machen ist immer was«, erklärte der große Batzke.
»Aber was?«
»Ach, du denkst, ich baldowere für dich?«
Ziemlich lange Stille.
»Warum bist du denn damals nicht unter den Pferdeschwanz gekommen?« fing Kufalt wieder an.
»Ach, quatsch bloß nicht, Mensch«, antwortete Batzke.
»Du warst wohl bei deiner Schiffsreederwitwe in Harvestehude?« erkundigte sich Kufalt weiter.
»Ach, hör bloß auf, Willi«, sagte Batzke. »Hast du was zu rauchen?«
»Nee.«
»Ich auch nicht.«
Sie grinsten sich beide an.
»Haste Geld?« fragte Batzke wieder.
»Nee.«
»Und was zu verscheuern?«
»Auch nicht.«
»Also fahren wir nach Ohlsdorf.«
Und Batzke stand auf und dehnte seine pferdestarken Knochen, dass sie knackten.
Kufalt blieb sitzen. »Was tu ich denn in Ohlsdorf?«
»In Ohlsdorf«, erklärte Batzke, »ist der modernste Kirchhof von der Welt.«
»Was geht der mich an?« fragte Kufalt. »Begraben lass ich mich noch lange nicht«
Beide grinsten wieder.
»Also, komm schon, Mensch«, drängte Batzke.
»Aber was soll ich da?«
»Ich denke, du willst ein Ding drehen mit mir?«
»Aber wieso auf dem modernsten Kirchhof von der Welt?«
»Das wirst du schon alles sehen.«
»Fahrgeld zahl ich jedenfalls nicht für dich«, sagte Kufalt unschlüssig.
»Wer hat dich darum gebeten, du Penner? Die paar Groschen habe ich noch.«
Und sie gingen los, zum Hauptbahnhof.
Hier, am Schalter, trotzdem das ganze Fahrgeld mit ein paar Nickeln abgetan war, sah Kufalt, dass Batzkes ganze Brieftasche vollgepfropft war mit Zwanzig- und Fünfzigmarkscheinen. Aber wenn Batzke auch daran gelegen zu sein schien, dass sein neuer Kumpel von dieser Tatsache Kenntnis nahm, so hütete er sich doch, für Kufalt zu zahlen, er begnügte sich mit dem fassungslosen Ausdruck auf dessen Gesicht.
Der Zug war zu voll, da konnte man nicht darüber reden. Aber kaum waren sie aus dem Ohlsdorfer Bahnhof heraus, da sagte Kufalt: »Mensch, Batzke, du hast aber einen Haufen Kies!«
»Na ja«, sagte Batzke. »Das muss auch so sein. – Da drüben liegt der Kirchhof.«
»Ja«, sagte Kufalt. Der Kirchhof interessierte ihn nicht. Er fühlte sich geborgener. Zwanzig Mark musste sich Batzke abpumpen lassen. Das waren viertausend Adressen. Und ein gutes Stück weiter in der Sicherheit. Bereit also, sich Batzke völlig unterzuordnen, fragte er: »Gehen wir jetzt rauf auf den Kirchhof?«
»Willst du?«
»Wenn du meinst?«
»Ob du willst, frage ich.«
»Ich kann mir den Kirchhof ja mal ansehen.«
»Ach«, sagte der große Ganove Batzke, »mir liegt eigentlich an Kirchhöfen nichts.«
»Also gehen wir woandershin.«
Und Batzke schlug einen Weg ein, der vom Kirchhof fortführte.
»Wo gehen wir denn nun hin?«
»Du musst auch nicht alles wissen.«
»Hör mal, Batzke«, bat Kufalt. »Kauf ein paar Zigaretten, was?«
»I wo …«, fing Batzke an und besann sich. Dann: »Ich hab kein Kleingeld.«
»Aber du hast doch genug Zwanzigmarkscheine«, sagte Kufalt.
»Ich mag jetzt nicht wechseln. Hol du sie. Ich geb dir das Geld heute Abend wieder.«
»Schön«, sagte Kufalt und sah sich nach einem Laden um.
Er entdeckte einen und wollte rein.
»Halt«, rief Batzke und nahm einen Schein aus der Brieftasche. »Hier hast du zwanzig Mark. Hol gleich fünfzig Stück. Juno. Ich geh langsam voraus. Da runter.«
»Schön«, sagte Kufalt wieder.
Die Ladenbimmel in diesem Vorstadtgeschäftchen klingelte ziemlich lange, aber keiner kam. Kufalt hätte sich aus den aufgebauten Packungen ganz hübsch Zigaretten in die Tasche stecken können, aber so was tat er nun wieder nicht. Es lohnte nicht das Risiko.
Kufalt ging von Neuem zur Ladentür, öffnete und schloss sie noch einmal, wobei er die Klingel lange lärmen ließ. Als noch niemand kam, rief er mehrmals laut: »Hallo.«
Schließlich kam ein verschrumpeltes Weiblein mit aufgekrempelten Ärmeln in einer blauen Schürze aus dem Hinterzimmer.
»Entschuldigen Sie bloß, lieber Herr«, sagte sie mit ihrer hellen Altweiberstimme. »Ich hab gescheuert, da hört man die Klingel schlecht.«
»Ja«, sagte Kufalt. »Ich möchte fünfzig Ariston.«
»Ariston?« fragte die Alte. »Ich weiß nicht, ob wir die haben.« Sie sah zweifelnd die Regale an. »Wissen Sie, lieber Herr, was meine Tochter ist, die hat gerade ein Kind gekriegt, heute Nacht, ich mach es nur zur Aushilfe hier im Laden.«
»Also geben Sie mir eine zu fünf«, sagte Kufalt gottergeben. »Machen Sie ein bisschen schnell. Ich muss weiter.«
»Ja, ja, lieber Herr, ich verstehe ja.«
Und sie fischte eine Zigarette aus einer Packung und hielt sie ihm hin.
»Fünfzig hab ich gesagt«, sagte Kufalt wütend.
»Sie haben doch eine zu fünf gesagt«, sagte das alte Weib.
»Also geben Sie mir schon fünfzig. Ja, lieber Gott, von denen!«
»So bedienen ist schwer«, seufzte die alte Frau. »Und die Leute sind immer so ungeduldig. Hier!« und sie reichte ihm die fünfzig Stück.
»Hier«, sagte Kufalt und reichte ihr das Geld.
Sie besah sich weitsichtig den Schein. »Zwanzig Mark?« fragte die Alte. »Haben Sie’s nicht kleiner?«
»Nein«, sagte Kufalt dickköpfig.
»Ich weiß nicht, ob wir so viel dahaben.« Und sie ging in das Hinterzimmer.
»Machen Sie bloß schnell!« rief Kufalt ihr nach und wartete weiter.
Aber dann kam sie doch. Drei Fünfmarkstücke, ein Zweimarkstück, ein Fünfziger –: »Ist es recht so, lieber Herr?«
»Ja, ja«, sagte Kufalt und rannte eilig los.
Von Batzke war nichts mehr auf der Straße zu sehen, soweit Kufalt auch den ihm bezeichneten Weg hinauflief. Nichts war zu merken von Batzke – dann kam er ganz überraschend aus einer Nebenstraße.
»Gehen wir hier weiter«, sagte er. »Na, hast du die Zigaretten?«
»Hier«, antwortete Kufalt. »Und hier ist auch das Geld.«
»Geht in Ordnung«, sagte Batzke. »Hier hast du zehn Zigaretten für dich.«
»Danke schön«, sagte Kufalt.
»Wer war denn im Laden?« fragte Batzke im Weitergehen.
»’ne alte Frau«, sagte Kufalt, »wieso?«
»Weil’s so lange gedauert hat.«
»Ach so«, sagte Kufalt. »Ja, lange hat’s gedauert, sie wusste mit nichts Bescheid.«
»Nein«, bestätigte Batzke.
»Wieso?« fragte wieder Kufalt.
»Weil’s so lange gedauert hat«, lachte Batzke.
»Ich finde, du bist komisch, Batzke«, sagte Kufalt argwöhnisch. »Ist was?«
»Was soll denn sein?« lachte Batzke weiter. »Weißt du auch, wohin wir gehen?«
»Nein«, sagte Kufalt, »keine Ahnung.«
»Dann wirst du’s ja gleich sehen«, sagte Batzke.
Und so gingen sie denn beide weiter, schweigend und rauchend. Der Platz, an den Kufalt von Batzke geführt wurde, war mit einem großen Haus bebaut, mit einem ganzen Komplex aus Backsteinzinnen, Zementwänden, hohen Mauern, kleinen rechteckigen Fensterlöchern, mit Gittern davor …
»Das ist ja ein Bunker«, sagte Kufalt enttäuscht.
»Das ist Fuhlsbüttel«, erklärte Batzke fast feierlich, mit ganz anderer Stimme. »Da drin habe ich sieben Jahre abgerissen.«
»Und darum sind wir hier rausgefahren, dass du dir dein Kittchen ansiehst«, fragte Kufalt halb empört und halb enttäuscht.
»Wollte den alten Bau mal wiedersehen«, sagte Batzke ungerührt. »War ’ne schöne Zeit drin, nich so mies wie heute …«
»Na, weißt du, du magst es aber tun: soviel Marie und denn noch stöhnen …«
»Komm auf die andere Seite rum. Ich zeig dir die Tischlerei, wo ich damals drin gearbeitet habe.«
Kufalt ging mit.
»Siehst du dahinten? Das ist sie! Aber eine feine Tischlerei, sage ich dir, einfach Klasse, nicht solche Bruchdinger wie bei den Preußen.«
Kufalt hörte zu.
»Rolljalousieschränke habe ich gemacht«, sagte Batzke träumerisch und betrachtete seine Pranken, jetzt gepflegt, jetzt manikürt, »weißt du, das gibt Spaß, Willi, wenn man das so hinkriegt, dass die Stäbe nicht klemmen, rumplumplum und auf ist der Laden, ratschbumm und zu ist er!«
Kufalt lauscht. Batzke ist in seine Erinnerungen verloren. »Und dann haben wir mal für den Direktor eingebaute Schränke gemacht – ich hab immer in seine Villa kommen dürfen. Warte, wir gehen rum, ich zeige sie dir.«
Sie gehen rum.
»Na ja«, sagt Batzke unzufrieden. »Von außen kannst du die Schränke nicht sehen, aber schnafte, sage ich dir, wie das so ging. Und alte Möbel hat er sich gekauft, der Direktor, da hatte er einen Narren daran gefressen, weißt du. – ›Kommen Sie mal wieder rüber, Batzke‹, hat er zu mir gesagt. ›Sehen Sie sich mal an, was ich da wieder für einen Bruch gekauft habe, ob Sie den zurechtkriegen.‹«
Und mit einem tiefen Aufatmen: »Ich hab’s immer wieder zurechtgekriegt. Einlegearbeiten, die kaputt waren, uralte Dinger, ich hab sie hingekriegt, Junge, einfach großartig!«
»Na – und?« fragt Kufalt missbilligend. »Da kannst du doch immer wieder rein, wenn’s so schön war. Die fahren dich von der Davidswache gratis raus, da hätten wir kein Fahrgeld auszugeben brauchen.«
»So?« sagt Batzke und sieht Kufalt böse funkelnd an. »So? Meinst du das? Ich will dir was sagen, Kufalt, du bist einfach doof!«
Und damit dreht sich Batzke um und fängt an, eilig auszuschreiten. Er umrundet den ganzen Bau, einmal, zweimal, und schweigend läuft Kufalt neben ihm her, zitternd, dass er sich die Gunst eines so mächtigen Geldgebers verscherzt hat.
»Du kannst ja schließlich machen, was du willst«, sagt plötzlich Batzke. »Ich hab heute weiter nichts vor. Ich latsche nach Haus.«
»Ich auch«, sagt Kufalt eifrig. »Ich auch.«
Und so wandern sie denn den langen Weg nebeneinanderher, und so war Batzke ja nun auch wieder nicht, dass er den ganzen Weg gemuckscht hätte, nein, eine ganz vernünftige Unterhaltung kam zustande. Sie hatten ja so einige gemeinsame Erinnerungen, und man konnte herrlich lachen, wenn man sich all die Doofen ins Gedächtnis zurückrief, die man reingelegt hatte, Wachtmeister wie Strafgefangene.
Und als die zehn Zigaretten von Kufalt alle waren, spendierte ihm Batzke noch einmal fünf. »Damit musst du nun aber auskommen.«
Als sie dann in der Stadt waren, stand Batzke einen Augenblick zögernd vor einem Lokal und sagte schließlich: »Na, komm mal mit rein, ich zahle dir ein Abendbrot.«
»Ich danke dir auch schön, Batzke«, sagte Kufalt.
Es war kein sehr berühmtes Lokal, in dem sie dann saßen, eher eine verräucherte, verschmutzte Stampe. Das Gängeviertel dichte bei. Aber das Essen schmeckte, das Bier schmeckte, und schließlich fragte Batzke: »Willst du wirklich was anfassen, Willi?«
»Kommt drauf an«, sagte Kufalt, der erst einmal satt war.
»Ich hab was ausbaldowert«, sagte Batzke.
»Ja?« fragte Kufalt.
»Auf dem Postscheckamt«, sagte Batzke.
»Da ist ohne Kanone nichts zu machen«, sagte Kufalt sachverständig.
»Du bist wohl blöd? Überfall!« empörte sich Batzke.
»Was denn sonst?« fragte Kufalt.
»Da kommt«, flüsterte Batzke und sah sich um, »jeden Mittwoch und Sonnabend so ’ne olle Schachtel und holt immer sechs-, achthundert ab. Damit rennt sie durch die halbe Stadt, bis in ein Geschäft an der Wandsbeker Chaussee.« – Pause. »Na, was meinst du?«
Kufalt zog ein Gesicht. »Das ist nicht so einfach.«
»Ganz einfach ist das«, erklärt Batzke. »Beim Lübecker Tor gibt ihr einer von uns beiden was über die Rübe, der andere reißt ihr die Tasche weg, einer rechts, der andere links …«
Das ist doch nichts, denkt Kufalt. Der haut mit der Marie ab, und mich nehmen sie hops.
Und laut: »Ich verstehe dich nicht, Batzke, wo du die ganze Tasche voll Marie hast.«
»Ach, höre doch bloß auf mit meinem Geld!« schreit Batzke wütend. Und ruhiger: »Also willst du, oder willst du nicht? Es gibt ja noch mehr, die mitmachen.«
»Das muss man sich überlegen«, erklärt Kufalt.
»Morgen ist Sonnabend«, sagt Batzke.
»Ja, ja«, sagt Kufalt nachdenklich.
»Also nein?« fragt Batzke.
»Ich weiß nicht«, sagt Kufalt zögernd. »Ein bisschen doof kommt es mir vor.«
»Wieso doof? Ohne Risiko is nichts.«
»Aber nicht so viel Risiko für so wenig Geld. Ich will nicht schon wieder Knast schieben.«
»Den schiebst du so und so«, sagt Batzke nachdenklich. Er pausiert und setzt dazu: »Wenn ich nämlich will.«
»Wieso?« fragt Kufalt verblüfft.
»Findest du nicht, der Kellner sieht mächtig blöd aus«, fragt Batzke ablenkend.
»Wieso muss ich Knast schieben, wenn du willst?« fragt Kufalt hartnäckig.
»Willst du dem Kellner nicht die Zeche bezahlen?« lacht Batzke plötzlich. »Ich geb dir auch einen von meinen Scheinen.«
»Von – deinen – Scheinen …?«
Kufalt glotzt.
»O Mensch, hast du’s noch immer nicht kapiert?!« platzt Batzke los. »Linke Marie ist das, Inflationsgeld ist das! Und geht hin und kauft fünfzig Zigaretten damit!«
Plötzlich steht vor Kufalts Auge die Szene vom Vormittag: die runzlige, verwirrte Alte mit der hellen Stimme, im Hinterzimmer die Frau, die gerade ein Kind bekommen hat, vielleicht deren letztes Geld – und in welcher Gefahr war er gewesen? Der Batzke hatte sich schön in eine Seitenstraße gedrückt, der Lump, der Elende! Und wenn nun ein Verkäufer im Laden gewesen wäre, irgendeiner, der nur ein bisschen wacher war, dann hätte Kufalt um diese Stunde schon wieder auf der Polizei gesessen, mit einem hübschen, langen Knast vor sich …
Aber der Batzke lacht ihm ins Gesicht, dieser elende Kerl, der steckt das Wechselgeld ein und macht nicht einmal Kippe …
»Batzke!« schreit Kufalt. »Ich will jetzt sofort …«
»Ober, mein Freund zahlt!« schreit Batzke, greift seinen Hut, und ehe noch Kufalt protestieren kann, ist er aus dem Lokal.
Kufalt zahlt drei Mark achtzig.
Blieb Rest sieben Mark fünfzehn.
An diesem ereignisreichen, schicksalsvollen Sonnabend wachte Kufalt früh auf, ganz früh. Er lag in seinem Bett und grübelte. Dachte nach in dem schmutzigen, verkommenen Zimmer mit dem knolligen Federbett, das Hunderte vor ihm beschlafen haben mochten, mit oder ohne ihr Mädchen, denn die olle Dübel war nicht so – nein, so was machte ihr Laune. Er sah gegen die Fenster, es musste nun hell werden, aber in diesen kleinen Hof von ein paar Geviertmetern drang kaum Licht. Plötzlich hatte er das Gefühl, draußen schien Sonne. Er sah sie nicht, aber er ahnte sie.
Er stand langsam auf, wusch sich viel und mit Gründlichkeit, rasierte sich sorgfältig, zog frische Wäsche an, seinen besten Anzug – und mit der geliebten Mercedes unter der Wachstuchkappe ging er los. Draußen schien wirklich die Sonne.
Die erste Enttäuschung war die, dass die Leihhäuser erst um neun aufmachten. Kein Mensch konnte ahnen, wann diese alte Ziege aufs Postscheckamt ging. Er stand unter der Reihe der Wartenden, manche trugen Federbetten, einer hatte einen Regulator unter dem Arm. Die Leute standen still, ohne zu sprechen, sie sahen alle vor sich hin, jeder war mit sich allein, gewissermaßen häuslich in seinen Sorgen eingerichtet. Nur wenn jemand Frisches sich an die Reihe der anderen anstellte, warfen sie einen raschen Blick auf ihn, um zu sehen, was er wohl zum Versatz brächte. Dann sahen sie wieder vor sich hin.
Als die Tür geöffnet wurde – endlich, endlich! –, ging alles ganz schnell.
»Dreiundzwanzig Mark«, sagte der Beamte, und als Kufalt in Gedanken an seine hundertfünfzig zögerte, sagte er auch schon: »Bitte weitergehen!«
»Nein, nein«, sagte Kufalt, »geben Sie schon her.«
Eine Weile musste er noch an der Kasse warten, dann hatte er das Geld und lief mehr, als er ging, zu einem Fahrradverleiher, den er sich schon am Abend vorher ausgesucht. Auch hier gab es Schwierigkeiten. Zwanzig Mark schienen dem Verleiher zu wenig als Sicherheit für ein nagelneues Rennrad. Kufalt redete endlos auf ihn ein. Schließlich hinterlegte er noch seinen Meldeschein, hinterlegte er noch den Pfandschein, und dann fuhr er los.
Es war gar nicht so einfach, so gut er früher geradelt hatte, nach netto sechs Jahren im modernen Straßenverkehr zurechtzukommen. Und er musste gut zurechtkommen. Heute kam alles auf Schnelligkeit, raschen Entschluss, Geistesgegenwart an.
Das Lübecker Tor (das kein Tor mehr ist, sondern ein Platz) ist eine unübersichtliche Geschichte. Viele Straßen münden dort ein, die Fußgänger laufen von hier und nach dort, man musste immer den Kopf drehen. Und dann sind da Buden, die den Überblick erschweren, die Elektrischen fahren vorbei und verdecken die Passanten auf der anderen Seite.
Plötzlich aber sah Kufalt – und er ging blitzschnell in Deckung mit seinem Rad – aus der Bedürfnisanstalt drüben auf der anderen Seite ein Gesicht herausschauen, ein bekanntes Gesicht. Und nun wusste er, dass er, trotzdem die Uhr elf Uhr fünfzehn zeigte, nicht zu spät gekommen war.
Hier stand er. Vielleicht dachte er an alles Mögliche, vielleicht sogar an die Zeit, da er ein Kind gewesen war, und seine Mutter war nach dem Abendessen in sein dunkles Schlafzimmer gekommen, hatte sich über sein Bett gebeugt und gesagt: »Träume gut. Aber gleich einschlafen!«
Hier stand er, und die Leute liefen, und sicher war in ihm das ganze Gefängnis wach, er hatte die Brücken abgebrochen, er wusste: Einmal bin ich wieder dort. Wann? Heute Mittag schon? Oder erst in fünf Jahren?
Batzkes Kopf tauchte immer wieder auf, spähend wie ein Fuchs sah das harte, böse Gesicht, die blinzelnden Augen über die Straße, dann war es wieder fort, und man hatte von Neuem die Möglichkeit, sich auf das Rad zu setzen und heimzufahren. Wozu heimfahren? Ehrlich und anständig unterkriechen, sich demütigen, betteln und doch verrecken!
Kufalt fasste die Lenkstange fester – wie sollte er wissen, wie diese ältliche Buchhalterin aussah?
Er wusste es. Da kam sie, mit einem trockenen Schritt, der braune Rock war ziemlich lang, die Füße setzte sie einwärts, ihr Gesicht war ältlich, sehr weiß, von dem kranken Weiß der Bürostuben. Unter einem kleinen Filzhut hervor hing graues, zum Bubikopf geschnittenes Haar.
Sie kam, und sein Herz klopfte immer schneller, und es flehte in ihm: Wenn er es doch nicht wagt, ich könnte heimfahren, wenn er doch den Mut verlöre!
Es fiel überhaupt nicht auf im ersten Augenblick. Batzke war hinter ihr, er schien sie zu streifen, als er rasch vorbeiging, so wie sich eben Passanten auf der Straße streifen, dann kam es ganz leise wie ein unterdrückter, verblüffter Schrei herüber zu Kufalt.
Die braune Aktentasche in der Hand, lief Batzke in eine Querstraße hinein, und plötzlich schrie sie ganz laut drüben. Leute liefen zusammen. Schon sah Kufalt nur den Auflauf, er sah Batzke nicht mehr, und dann – wie schwer wurde der Entschluss, saß er auf seinem Rad, die Pfeife eines Schupos trillerte, Autos hielten an, eine Elektrische stockte so jäh, dass die Schienen aufschrien, er trampelte an ihr vorüber, in die Querstraße hinein, kein Batzke, in die nächste Querstraße, geradeaus, kein Batzke – alles umsonst? Alles vergeblich?
Es war sinnlos, so weiterzufahren. Er müsste Batzke längst gesehen haben! Verloren! Und doch fuhr er weiter.
Es durfte nicht verloren sein, es durfte nicht umsonst sein. Plötzlich wusste Kufalt, das, was er heute früh gewollt hatte, war nicht der Anfang zu einer Ganovenlaufbahn gewesen, es war der Anfang gewesen zu einem ehrlichen, stillen, kleinen Dasein, untergekrochen in der winzigen Stadt dort hinten, vielleicht mit einem guten Mädchen, mit dem man Kinder haben würde. Nur das bisschen Betriebskapital für den Anfang – dafür hatte es der Anfang sein sollen! Es durfte nicht umsonst gewesen sein.
Hier stehen Villen und Mietshäuser durcheinander, der Lärm vom Lübecker Tor ist längst verklungen. Hier heißt es Maxstraße, Eilbecker Riede. Und nun kommt er wieder hinaus auf eine große, breite Straße. Es ist die Wandsbeker Chaussee, es ist eine Viertelstunde später. Kaum fünf Minuten ist er entfernt vom Lübecker Tor. Und dort, wo sich die Wandsbeker Chaussee und der Eilbecker Weg gabeln, dort, wo eine kleine Verkehrsinsel ist, ein Häuschen mit einer Polizeiwache steht darauf, es ist ruhig dort, still, dort sieht er den Batzke, sieht er ihn wirklich und bremst und steigt ab und sieht ihn von fern an und sagt sich: Alles Unsinn. Ich habe ja Angst vor ihm.
Ein Schupo geht in die Wache, sein Blick fällt flüchtig auf Batzke, aber Batzke stört das nicht: Darf man hier etwa nicht stehen und auf sein Mädchen warten, eine Aktentasche in der Hand?
Kufalt lehnt sein Rad langsam und gedankenvoll an einen Baum, er lässt es da stehen, verloren ist doch verloren, und geht es gut, kommt es darauf nicht an.
Der Batzke sieht nach einer anderen Richtung. Kufalt kommt bis auf einige Schritte an ihn heran, dann wendet der Große, Schwarze den Kopf und sieht den Kumpel von gestern. Ohlsdorfer Friedhof, die linke Marie, die Zeche von gestern Abend.
Batzke zieht die Brauen zusammen, sein Gesicht sieht sehr finster aus, zum Fürchten. Und Kufalt fürchtet sich auch.
Trotzdem weiß er, jetzt hängt alles vom Ton seiner Stimme ab, von seinem Auftreten, von dem, was Batzke über ihn denkt.
Er sagt, er wirft dabei einen Blick auf das Fenster der Wache, hinter dem man einen Schupo sieht: »Kippe oder Lampen!«
Batzke sieht Kufalt an. Er sagt kein Wort. Kufalt merkt, wie seine rechte, freie, ungeheure Tischlerpranke sich anhebt – und dann sieht er etwas in Batzkes Gesicht, was ihm ein bisschen Mut macht: Unschlüssigkeit.
»Alter Junge«, sagt er. Er sagt es ganz freundschaftlich. Plötzlich fühlt er, sie beide stehen auf gleichem Fuß. Endlich einmal nach Jahren der Bekanntschaft wirklich auf du und du. Er hat den Batzke angeschissen. Der Batzke ist natürlich wütend, aber Ganoven fressen einander auf, es gehört zum Geschäft. Es ist ein Naturereignis: Was kannst du da schon machen!
Batzke sagt, und auch er sieht dabei nach dem Fenster von der Polizeiwache: »Aber doch nicht hier!«
»Gerade hier«, sagt Kufalt.
Batzke steht unentschlossen.
Ein Polizeiflitzer kommt die Wandsbeker Chaussee vom Lübecker Tor her angerast, hält vor der Wache, ein Beamter springt heraus, er sieht die beiden gar nicht an: Welcher Ganove stellt sich denn gerade unter den Schutz einer Polizeiwache?! Der Batzke ist eben doch ein schlaues Aas!
Das beweist er auch dadurch, dass er jetzt ohne Weiteres die Tasche öffnet, hineingreift, blind kramt seine Hand darin herum, knüllt was zusammen, gibt es Kufalt.
Aber Kufalt geniert sich nicht mehr. Er macht die Scheine wieder glatt, zählt sie, sechs Fünfziger, und er sagt mit milder Gelassenheit: »Kippe habe ich gesagt! Lass mich mal in die Mappe sehen.«
Batzke zögert wieder. Dann aber greift seine Hand noch einmal in die Tasche. Noch einmal bringt sie ein Paketchen hervor, diesmal sind es acht Fünfziger. Er gibt sie Kufalt und sagt: »Nun aber Schluss, Willi, sonst schmeiß ich den ganzen Kram hin, hier vor der Wache. Aber vorher richte ich dich noch so zu, dass dich deine eigene Mutter nicht wiedererkennt.«
Jetzt ist es mit der Unentschlossenheit an Kufalt. Einen Augenblick steht er so da, sieht Batzke an, der die Tasche wieder schließt, sieht Batzke an, steckt die Scheine in sein Jackett, er sagt und lacht dabei: »Die drei Mark achtzig Zeche von gestern Abend bleibst du mir aber noch schuldig, Batzke!«
»Tjüs«, sagt Batzke.
»Tjüs«, sagt Willi Kufalt.
Und sie gehen auseinander. Jeder in anderer Richtung über den Damm, Kufalt seinem Rade zu, das wahrhaftig noch dasteht.
»Hallo«, ruft es plötzlich, »hallo, Willi.«
Sie gehen wieder aufeinander zu.
Batzke fasst den Kufalt bei der Schulter, fasst ihn schmerzhaft fest und sagt: »Läufst du mir aber in nächster Zeit über den Weg …«
Kufalt macht seine Schulter frei. »Also auf Wiedersehen im Bunker, Batzke«, sagt er und lacht.
Dann geht er zu seinem Rad, setzt sich darauf und fährt los. Er hat es sehr eilig. In spätestens zwei Stunden muss er mit all seinem Kram aus Hamburg sein: Batzke könnte sich den Fall doch noch einmal überlegen. Kufalt ist polizeilich gemeldet, und die Hinterhäuser in den Raboisen kümmern sich nicht viel darum, ob gerade mal einer schreit.
Er tritt mit aller Wucht auf die Pedale.