Natürlich, aber es ist unvermeidlich, dass in der Mittagspause alle von diesem großen Ereignis reden. Sie sind sehr stolz darauf, dass sie den hohen Herrn Seidenzopf, noch vor Kurzem Gebieter über Gedeih und Verderb, so haben abfahren lassen …
»Das hätte ihm so gepasst, wenn wir uns in ’ne Streiterei eingelassen hätten!«
»Wenn der sich einbildet, er kann uns alles sagen …!«
»Der kann warten, bis wir kommen.«
»Angewinselt – wer wohl zuerst winselt!«
»Fein, wie ihr ihn rausgebracht habt, richtiger Polizeigriff. Wolle-Teddy – ab dafür!«
»Der kommt nicht wieder!«
»Das mach dir bloß ab! Natürlich kommt der wieder. Dreihunderttausend – dafür läuft der sich die Absätze schief.«
»Vielleicht kommt als nächster Jauch.«
»Au schnafte, wenn der losbullert, lach ich mir ’nen Ast.«
»Den Jauch wird der Marcetus schon nicht schicken, der weiß doch auch, dass der bloß ein Bulle ist!«
»Wenn nun Marcetus selber kommt …?«
Lange betretene Pause.
Eine etwas unsichere Stimme: »Ausgeschlossen, viel zu fein dafür.«
»Möglich ist es doch!«
»Möglich ist alles, aber ich glaub’s nicht.«
»Halten wir eben auch den Rand, der wird schon gehen, wenn ihm keiner antwortet.«
Aber doch sind die Gesichter etwas bedenklich. »Marcetus – nee, hoffentlich nicht, der ist ein schlaues Aas.«
»An die Arbeit, die Herren«, sagt Maack. »Höchste Zeit, wir müssen reinhauen wie die Wilden.«
Das Geschmetter der Maschinen will einsetzen, hebt an, stolpert und – Stille!
Alle sehen auf einen Platz, auf einen Platz an einer Schreibmaschine, und der Platz ist leer!
Alle sehen sich um im Zimmer, aber im Zimmer blieb keiner übrig für diesen leeren Platz.
Einer pfeift lang, gedehnt.
»Ahoi! Ahoi! Mann über Bord!«
»Wo ist Sager?«
»Wollte Bier holen!«
»Hilfsstubenvorsteherschreiber!«
»Stubenvorsteherhilfsschreiber!«
»So ein Schwein, na warte!«
»Ahoi! Ahoi! Mann über Bord! Ahoi! Ahoi!«
»Kameraden …«, fängt Maack an und schluckt mühsam.
»Ach scheiß, Kameraden!« schreit das wilde Tier Jänsch wütend. »Ich scheiß auf die Kameradschaft. Lumpen!« schreit er. »Ganoven! Da ist die Tür! Kufalt, mach die Tür auf, lass sie offen, breit offen: So, stellt euch alle mit dem Rücken zur Tür an die Wand! Schön weit auseinander, dass ihr euch nicht berührt! Arm gewinkelt vor die Augen! Wer guckt, kriegt von mir eine geschallert. – Nun …!« Er brüllt. »Raus mit euch Ganoven, mit euch Lumpenmännerchen, mit euch Feiglingen – haut ab, keiner sieht euch in eure Verräterfresse, gut könnt ihr jetzt abhauen, keiner sieht hin, geht auf Zehenspitzen! Ab!«
Pause, lange Pause, sie stehen blind und dunkel an der Wand. Knackt eine Diele? Ging einer? Schlich einer? Oh, verlorene Kindheit, verlorener Glaube an den Mitmenschen! Jänsch schnauft, er ruft: »Bist du schon weg, Monte? Du kriegst auch einen fetten Druckposten bei denen!«
»Stubben, dämlicher!« piepst Monte.
Der ist also jedenfalls noch da.
Und Jänsch, in seinem tiefsten Bass, doch schon erlöster: »Mich möchste woll, Pupenjunge?!«
Schallendes Gelächter – und die Augen sehen wieder, sehen neu ins Sonnenlicht, erkennen einander: Nein, es ist keiner mehr fortgeschlichen, sie bleiben beieinander.
»Na«, brummt Jänsch, »wir werden ja morgen früh sehen, wer sich die Sache noch mal beschlafen hat. Ich trau keinem mehr.«
»Trauen – hab ich nie getan.«
»Alle Menschen sind Schweine.«
»Hör zu«, sagt Maack zu Jänsch. »Es ist doch besser, du übernimmst von jetzt an das Schreibstubenkommando. Du machst das besser als ich, Jänsch.«
»Bist zu fein, Maack«, sagt Jänsch missbilligend. »Ich denk immer: Fein kommt von dünn. Alles Scheiße. Also nun los, Kufalt, du musst mit tippen, nimm dich ein bisschen zusammen, verstehste?!«
»Ja«, sagt Kufalt.
»Und ich?« jammert Monte. »Ich kann doch nicht zehntausend alleine packen?«
»Wärst du vorhin aus der Tür getrudelt«, sagt Jänsch. »Na, lass man, reg dich bloß nicht künstlich auf. Wir helfen dir alle heute Abend. Los!«
Und nun geht es wirklich los.
Kufalt, wieder einmal an der Maschine, an einer schönen neuen Maschine, ist glücklich. Glücklich und unruhig.
Glücklich, denn die Finger tanzen los, kaum hat das Auge die Adresse auf der Kartothekkarte erwischt, tanzen, fehlerlos, und weiter, weiter. Wo ist die letzte Nacht? Versunken, vergessen, er wird einfach umziehen, aus, Liese, aus! Das ist das Gute im Leben: Immer wieder kommt etwas anderes, man braucht sich nicht an das Vergangene zu hängen, vorbei, vorbei!
Wie die anderen hat er die Umschläge zu Hunderten gebündelt neben sich liegen. Er reißt eine Schlaufe durch, sein Nachbar, der Fasse, hat vor drei oder vier Umschlägen seine Schlaufe zerrissen – und als Kufalt mit seinen hundert durch ist, hat Fasse noch ein paar Umschläge nach. Ach, Kufalt ist hoch in Form, es sind seltsame Dinge, aber so ist es, man weiß nichts voraus, heute hätte es schlecht gehen müssen, und heute geht es gut. Er ist glücklich.
Aber unruhig. Und unruhig sind alle anderen auch. Soviel Geräusper, Stocken, nachdenkliches Pfeifen, Summen hat es noch nicht gegeben bei ihnen. Gut, Seidenzopf ist dagewesen, er hat gedonnert und gedonnert, aber darum ist das Gewitter noch nicht vorbei – der Blitz ist nicht niedergefahren. Sager war kein Blitz, Seidenzopf war kein Blitz … Immer noch steht das Gewitter am Himmel – wann kommt der Blitz?
Punkt fünf Uhr fünfunddreißig fuhr der Blitz aus dem Himmel. Punkt fünf Uhr fünfunddreißig klopfte es hart gegen die Tür.
Maack (natürlich Maack, als ob er noch Schreibstubenvorsteher wäre!) rief »Herein«, die Gesichter drehten sich zur Tür, eintrat Pastor Marcetus.
»Guten Abend«, sagte er und ging drei, vier Schritte bis in die Mitte des Raums.
»Guten Abend«, sagten ein paar, gehorsam, halblaut, und verschluckten sich dabei.
Vier (Maack, Kufalt, Jänsch, Deutschmann) wandten sich wieder an ihre Arbeit, die Maschinen fingen wieder an zu tippen und …
Und »Ruhe«, sagte Marcetus. »Ruhe!!!«
Drei (Maack, Kufalt, Jänsch) tippten doch weiter.
»Ruhe!« sagte der Pastor ein drittes Mal. »Sie werden doch so viel Anstand besitzen, Ruhe zu halten, wenn ich fünf Minuten zu Ihnen sprechen möchte. Ja?«
Einer (Einer! Nämlich Jänsch) tippt weiter, vertippt sich, tippt wieder los, es klingt so dünn, so verloren in dem großen Raum, der eben noch so laut war – Jänsch sagt wütend: »Ach scheiß!« Und auch seine Maschine verstummt.
»Richtig!« sagt der Pastor scharf zu Jänsch. »Außerordentlich richtig. Sie haben sich schön hineingeritten.«
Er schweigt wieder, Jänsch brummt böse, der Pastor sieht sich um und sagt sehr höflich: »Herr Monte, überlassen Sie mir bitte für fünf Minuten Ihren Stuhl – ich bin ein alter Mann.«
Monte springt gehorsam und ein bisschen rot auf, Jänsch brummt noch böser, aber er hindert Monte nicht, den Stuhl in die Mitte des Zimmers zu setzen.
»Danke schön«, sagt Marcetus freundlich und setzt sich. Er setzt sich ruhig hin und sieht sich im Kreis um. Kufalt kommt es vor, als werde er besonders eindringlich und mit einem besonderen Stirnrunzeln angesehen.
»Nun …«, sagt der Pastor langgedehnt.
Aber nichts erfolgt.
Der Geistliche hat seinen schönen schwarzen steifen Haarhut in der einen Hand, ein gutes großes weißes Leinentuch in der anderen. Er fährt sich mit dem manchmal leicht über das Gesicht. Ein rosiges, volles Gesicht mit einem ausdrucksvollen Mund und einem starken Kinn. (Die um ihn sitzen, haben alle ein schwaches Kinn, bis auf Jänsch, der nun wieder eine andere Art starkes Kinn hat, mehr ein Boxerkinn.)
Und Jänsch ist es also auch, der da schließlich sagt, brummig und böse: »Bitte, Herr Pastor, wir müssen arbeiten, wir haben nicht so viel freie Zeit wie Sie.«
Der Pastor geht darauf nicht ein, er sagt vielmehr zu Jänsch: »Sie sind hier der Obmann, ja? Der Schreibstubenleiter? Oder ist es nicht vielmehr Herr Maack?«
»Sager hat Sie angelogen«, grinst Jänsch. »Ich bin hier der Vorsteher.«
»So«, sagt der Pastor und denkt nach. Noch einmal: »So.« Er überlegt gründlich. Dann fragt er: »Dann erledigen Sie hier also alles: Auszahlen, Verrechnen und so weiter?«
Auch Jänsch überlegt. Er sieht einmal rasch zu Maack hinüber, aber der Pastor folgt so aufmerksam diesem Blick, dass die beiden sich nicht verständigen können.
So sagt Jänsch mürrisch: »Ja, tu ich.«
Der Pastor sagt sanft: »Dann nehme ich an, dass dieser Gewerbebetrieb von Ihnen korrekt bei der Gewerbepolizei angemeldet worden ist.«
Stille.
»Und dass der Lohnabzug für Einkommensteuer von Ihnen richtig verrechnet worden ist, ja?«
Stille.
»Und dass die Anmeldungen zur Krankenkasse erstattet sind? Und die Marken geklebt?«
Ziemlich lange Stille.
Der Pastor sieht nicht mehr die Gesichter seiner Leute an, er schaut nachdenklich und gütig in den blauen Sommerhimmel, der ganz durchgoldet ist.
Dafür sehen sich die sieben untereinander an, sehr flüchtig nur, es liegt so was in der Luft …
»Wir danken Ihnen verbindlichst, Herr Pastor«, sagt Maack höflich, »das kann alles noch erledigt werden. Heute ist ja erst der dritte Tag.«
»So«, sagt der Pastor.
»Man hat nämlich drei Tage Frist«, sagt höflich Jänsch. »Und ohne Ihren Wink hätte ich es vielleicht vergessen.«
»So«, sagt der Pastor noch einmal. Und es ist ihm anzumerken, dass er nicht mehr ganz so zufrieden ist.
»Mein Geschäft«, fängt der Pastor neu an, »ist ein undankbares Geschäft. Jeder von Ihnen kommt sich ständig von mir übervorteilt vor. Sie sehen nur, wir nehmen elf ein und geben Ihnen bloß sechs …«
»Vier fünfzig«, sagt Jänsch.
»Vier fünfzig«, bestätigt auch der Pastor. »Sie denken nie daran, dass wir die Miete für die Büros bezahlen müssen und die Heizung und Licht und dass die Schreibmaschinen sich verbrauchen und dass wir Sie durch arbeitsarme Zeiten durchschleppen … Ihr Arbeitsverdienst, oh, mein guter Herr und Gott!« Er lacht bitter. »Sie denken immer, ich tu nichts, als Sie alle Wochen ein-, zweimal anbellen. Und dabei sitze ich den ganzen Tag und schreibe Bettelbriefe für Sie, ich sammle Gönner, Stifter und Mitglieder. Der gibt fünf Mark, der gibt zehn Mark, achthundert solche Beiträge, tausend solche Beiträge im Jahre – davon lebt das Werk …«
»Und sein Pastor«, ergänzt Jänsch.
»Und sein Pastor«, bestätigt Marcetus. »Sie, die Sie so sehr dafür sind, dass jede Arbeit nach ihrem Wert bezahlt wird, Sie werden doch nicht wollen, dass ich ohne Entgelt arbeite?«
»Hören Sie zu, Herr Pastor«, sagt Maack langsam. Er ist sehr weiß, seine Brille rutscht wieder einmal, er schiebt sie mit einem Ruck auf den Nasensattel zurück. »Das mag alles gut und schön sein, was Sie da erzählen, wir wollen uns nicht mit Ihnen streiten, aber …«, und Maack erhitzt sich, »… aber warum lassen Sie uns nicht allein unsern Weg gehen? Wir haben ’ne eigene Arbeit gekriegt, wir tragen doch das Risiko, wenn’s uns dreckig geht, zu Ihnen kommen wir sicher nicht wieder gelaufen – also lassen Sie uns. Jetzt macht es uns Freude, bei Ihnen hat es uns nie Freude gemacht. Kommen Sie doch nicht her mit Drohungen, Kippe oder Lampen kennen wir alle. Lassen Sie uns nur laufen, wir tun Ihnen ja auch nichts.«
»Richtig«, sagt Jänsch, und ein paar andere murmeln beifällig.
»Ich will nicht davon reden«, sagt der Pastor, »dass wir Sie erst zu flotten Maschineschreibern ausgebildet haben. Ich will nicht davon reden, wie unfair ich das finde, dass Sie unsere Kundenadressen ausspionieren. Ich will nicht davon reden, wie verwerflich das ist, dass Sie unsere tarifmäßigen Preise unterbieten. Ich will Ihnen nur sagen, dass keiner von Ihnen an das erhoffte Ziel kommen wird, dass für Sie alle dieser Akt der Undankbarkeit der Anfang zu Verderben und neuen Straftaten sein wird …«
»Als wie woher?« höhnt Jänsch ganz ungerührt.
»Weil Sie …« Aber der Pastor bricht ab und steht auf. »Da sind diese neuen Schreibmaschinen, sie glänzen, sie blitzen, sie sind hübsch sauber, sehr schön … Wie sind die gekauft, he, wie sind die gekauft?«
Einen Augenblick Stille.
Dann sagt Jänsch: »Auf Stottern, denk ich.«
Sie wollen losbrechen mit Lachen, da bricht der Pastor los mit Wut: »Auf Betrug sind die gekauft, auf gemeinen strafwürdigen Betrug!«
Kufalt steht da, ja, er wird angesehen, flammend, böse, angstvoll, verderbend wird er angesehen …
Und dann fährt der Pastor fort: »Als Herr Seidenzopf von Ihnen zurückkam und die Mär von den funkelnagelneuen Schreibmaschinen berichtete, haben wir natürlich die Sache sofort der Polizei übergeben. Die Erhebungen sind noch nicht abgeschlossen, aber es ist schon festgestellt worden, dass sämtliche Schreibmaschinen von dem gleichen mittellosen Burschen gekauft worden sind, und drei Geschädigte haben bereits Strafantrag gestellt …«
Lange, lange Stille.
Der Pastor sieht Kufalt flammend an. »Ja, da wird Ihnen angst, da möchten Sie weg, aber nun ist es zu spät. Ich habe Sie gewarnt, Kufalt, immer wieder habe ich Sie gewarnt.« Er ruft laut: »Herr Specht, bitte, Herr Specht!«
Und die Tür geht auf, und durch die Tür kommt ein Mann, ein breiter, untersetzter Mann, mit einem grauweißen Wachtmeisterschnurrbart, dicken, buschigen, weißen Brauen und einer Glatze über den ganzen Kopf.
»Das ist der Kufalt, Herr Kriminalsekretär Specht«, sagt Pastor Marcetus.
»Also kommen Sie mal mit, Herr Kufalt«, sagt der Sekretär gemütlich. »Kommen Sie ruhig und ohne Zicken mal mit.«
Er fasst Kufalt leicht am Oberarm, die Gesichter der anderen sehen sehr weiß auf ihn hin, dann sind sie weg, und die Tür kommt näher und näher (sagt denn kein einziger ein Wort zu mir?!) – und die Tür geht auf, und die Tür geht zu, und das Treppenhaus – und da tönt von innen eine starke, feste Stimme: »Und nun, meine jungen Freunde, können wir …«
Vorbei, verloren. – Verloren, vorbei.
Als Kufalt erwacht, glaubt er zuerst noch zu träumen. Es war ein widriger, böser Traum, der ihn heimgesucht hatte. Diese Nacht: Immerzu war er verfolgt und floh und versteckte sich sinnlos, wo ihn alle sahen. Oder er wurde angeklagt und musste sich rechtfertigen, und während er immer beschwörender sprach, kniffen sie die Augen ein und feixten einander an und hörten nicht zu …
Kufalt hatte das Gefühl, als hätte er geweint, als sei sein Kopfkeil nass noch von Tränen, und … und hatte er nicht geschrien: »Lasst mich gehen, lasst mich gehen allein!« –? Ja. Ja. Ja und ja. Aber nun ist er erwacht, ein fahles, graues Licht liegt in der engen Zelle, und direkt vor ihm, fast über seinem Gesicht, sieht er zwei Ungeheuer, Urwelttiere, bewehrt, wie bereit zum Angriff auf ihn. Braunrot mit flachem, gepanzertem Körper, die Fühler gegen ihn gerichtet, den gierigen Schnabel auf ihn zu, hocken sie über ihm wie Gespenster, wie drohende Dämonen – und sein Geist, der aus den düsteren Schluchten des Traumes kommt, müht sich zu verstehen: wieso …?
Und dann spürt er das brennende Jucken an Armen und Beinen, er bewegt ein wenig den Kopf, die Bettdecke verrutscht, und die Tiere auf ihr verschwinden eilig …
Wanzen, denkt er. Natürlich wieder mal Wanzen, die haben noch gefehlt. Alles kommt wieder zusammen – wo gibt es ein Polizeigefängnis ohne Wanzen?
Er springt auf und wäscht sich. Er betrachtet seinen Körper, der nun schon wieder gezeichnet ist wie vor …? Er fängt an zu rechnen: Wie lange ist er draußen gewesen? Einhundertundzwei Tage! Einhundertzwei Tage, und nun wieder drin! Recht so. Wozu hat er sich abgestrampelt …?
Er läuft auf und ab in der schmierigen Polizeigefangenenzelle, mit den braunen Flecken an den Wänden von zerdrückten Wanzen. Er könnte ja jetzt auf die Wanzenjagd gehen, damit wenigstens die nächste Nacht etwas ruhiger wird – aber was hat Wanzenjagd für einen Zweck? Was hat eine ruhige Nacht für einen Zweck?
Gar keinen, Dussel!
Der Herr Specht, der Herr Kriminalsekretär Specht hat gestern Abend nur so ein kleines Protoköllchen aufgenommen und dabei gegrinst. »Na, natürlich, alter Junge, betrügerische Absicht haben Sie nicht gehabt – nee, nee, wie denn? Wieso denn? Sechs Schreibmaschinen – hundertachtzig Emm haben Sie von Ihrem Arbeitsverdienst abzahlen wollen, jeden Monat … Glaub ich Ihnen, glaub ich Ihnen alles! – ’ne Zigarette möchten Sie? Aber doch nicht, wenn Sie mir solchen Stuss erzählen, da muss man schon ein bisschen auspacken, alter Junge, wenn man ’ne Zigarette geschenkt haben will! Das wissen Sie doch von früher, wo Sie fünf Jahre Knast geschoben haben. Zigarette? Von nichts kommt nichts.«
Ja so, ja so, der alte Ton, die alte Melodei – es fängt alles wieder von vorne an, und vielleicht sitzt Beerboom im selben Haus, zehn Zellen weiter, und wird auch vorgeführt und auch von Wanzen geplagt und Rübe ab oder Zet lebenslänglich – und freut sich, der Affe …
Und Liese. Da haben sie sicher längst Haussuchung gemacht und seine schönen Sachen durcheinandergeworfen, und sie hat womöglich gedacht, sie kommen deswegen. Und sie hat alles verquatscht, und sie kommen gar nicht deswegen, sondern seinetwegen, und sie erzählt den ganzen Kohl wegen Beerboom. Und dann geht noch das Trara los, und die halten ihn ewig in Untersuchung …
Und, o Gott, mein himmlischer Vater, an den Wänden möchte man hochgehen, am Bettbein möchte man sich aufhängen, und so viel Sorgen gibt’s gar nicht, wie ich in den letzten vier Monaten gehabt habe, und wenn einer einen Löffelstiel verschluckt, damit er ins Krankenhaus kommt und ’ne nette Operation hat, die aasig weh tut – ich verstehe das, ich versteh alles! Wenn der Bauch so weh tut, dass man immerzu brüllt, kann man keine Sorgen im Kopf haben …
O Augen, die trocken brennen.
Ratsch, bumm und der Riegel. Knack, knack, knack und das Schloss.
Habachtstellung unter dem Fenster.
Eine graue Wachtmeistervisage.
»Sie heißen?«
»Willi Kufalt!«
»Wilhelm Kufalt!«
»Nee, Willi Kufalt.«
»Mitkommen!«
Die Gänge und die Eisentreppen und die Eisentüren mit ihren ewig knackenden Schlössern und die Wachtmeister, die laufen (»der Wachtmeister ist ein Renntier!«), und die Kalfaktoren, die scheuern und wienern –: alles wie einst!
Ein großes düsteres Zimmer mit blinden Fenstern, mit hässlichen gelben Aktenregalen. Und an einem Schreibtisch sitzt ein großer starker Mann mit frischen Farben, ein paar Durchzieher in der Backe, eine blonde, steile Haarbürste über dem Schädel, und raucht eine ungeheure schwarze Zigarre.
Gott sei Dank, kein Specht, keine Kriminalerfresse, denkt Kufalt. Gott sei Dank, schon der Richter.
»Polizeigefangener Wilhelm Kufalt«, meldet der Wachtmeister.
»Gut«, sagt der große Mann. »Ich klingele dann, Wachtmeister. Setzen Sie sich, Kufalt.«
Kufalt tut es.
Der Mann blättert. »Was Ihnen vorgeworfen wird, Herr Kufalt, das wissen Sie ja. Nun erzählen Sie mir mal, wie Sie, der Sie fast mittellos sind, dazu gekommen sind, in sechs Geschäften auf Ihren Meldeschein sechs Schreibmaschinen zu kaufen. Wozu brauchen Sie sechs Schreibmaschinen?«
Und Kufalt fängt an zu erzählen. Er erzählt erst schwer und stockend, er muss immer wieder zurück, er sieht, er muss ganz am Anfang anfangen, eigentlich bei der Entlassung, eigentlich noch vor der Entlassung, damit man alles versteht.
Aber diesem Mann da kann man schon erzählen. Zum ersten macht er keine Notizen, sondern hört zu. Und zum zweiten kann er richtig zuhören, Kufalt merkt, er hat noch keine feste Meinung von der Sache. Der Specht war gleich überzeugt, Kufalt sei ein Betrüger, dieser noch nicht.
Er erzählt und wird immer wärmer, siehe da, es ist ganz gut sogar, hier einmal zu sitzen und einem Menschen alles erzählen zu können. Aber dann ist er fertig, plötzlich ist er fertig, wie leergelaufen, und etwas hilflos und etwas abwartend sieht er den Richter an.
»Na ja«, sagt der und betrachtet nachdenklich den Aschenkegel seiner Zigarre. »Na ja, so rum kann man es auch erzählen. Herr Pastor Marcetus und seine Herren erzählen es ein bisschen andersherum.«
»Ach die!« sagt Kufalt verächtlich und fühlt sich plötzlich sehr überlegen. »Die haben ja nur eine Wut im Bauch, weil ich ihnen die Arbeit weggeschnappt habe!«
»Das wollen wir nun doch lieber nicht behaupten«, sagt der Richter streng, »dass diese Herren aus Konkurrenzgründen wissentlich falsch über Sie aussagen. Nein, so etwas wollen wir lieber nicht sagen.«
Und der Richter sieht Kufalt tadelnd an.
Kufalt ist plötzlich wieder ganz klein. Natürlich hat er eine Dummheit gemacht, der Richter und der Pastor, das sind beides Studierte. Und Studierte glauben zuerst einmal nur das Beste voneinander. Namentlich, wenn da so ein kleiner Vorbestrafter sitzt.
»Hören Sie einmal zu, Herr Kufalt«, sagt der große Mann. »Sie wissen doch Bescheid. Sie sind doch lange genug in Strafhaft gewesen, um zu wissen, wie leicht ein Mensch in was reingerät.«
»Ja!« sagt Kufalt mit Überzeugung.
»Und Sie wissen ebenso gut, dass ein Mensch wie Sie doppelt vorsichtig sein muss. Doppelt …? Hundertfach!«
»Ja, das weiß ich.«
»Wenn ich nun selbst voraussetze, dass alles, was Sie mir erzählen, wahr ist – sind Sie dann nicht unendlich leichtsinnig gewesen? Sie hafteten doch für das Geld, Sie allein laut Ihrer Unterschrift für alle sechs Maschinen – und Sie hatten doch nicht annähernd so viel Mittel und auch nicht so viel Einnahmen zu erwarten, um für solch eine Summe gradezustehen.«
»Aber wir hatten doch ausgemacht, dass es allen anderen auch gleichmäßig vom Verdienst abgezogen werden sollte!«
»So! Und heute, wo Ihre Schreibstube aufgeflogen ist und kein Verdienst mehr kommt, von dem man abziehen könnte, wie bezahlen Sie da nun?«
Kufalt windet sich. »Wenn Herr Pastor so gemein ist und macht uns die Arbeit unmöglich …«
»Seien Sie kein Narr«, sagt der Richter streng. »Gebrauchen Sie Ihren Verstand. Was geht das die Verkäufer an? Sie haben zwölf Monate lang hundertachtzig Mark im Monat zu zahlen, wie wollen Sie das jetzt machen?«
Kufalt hat eine Erleuchtung: »Dann gebe ich die Maschinen einfach zurück. Es steht drin im Kaufvertrag, dass die Maschinen zurückgegeben werden müssen, wenn ich nicht pünktlich zahle.«
Der Richter lehnt sich vor. »Und wenn die Maschinen nun weg sind? Verstehen Sie, wenn die geklaut sind?«
Kufalt sagt ungläubig: »Unsere Maschinen werden doch nicht geklaut!«
»Heute Nacht«, sagt der Richter mit Bedeutung, »heute Nacht ist in Ihre Bodenstube eingebrochen worden. Die Diebe haben sich vier Maschinen eingepackt …«
Kufalt hockt da, er denkt angestrengt nach. Die Lumpen, es kann nur einer von uns gewesen sein – wer kann es bloß gewesen sein? Fasse? Öser? Monte? O Gott, oder etwa der Schreibstubenhilfsvorsteher Sager?! Und die hier denken womöglich, ich steck mit ihnen unter einer Decke. Verloren … verloren …!
Er sieht den Richter verwirrt an.
»Und was machen Sie nun, Herr Kufalt?«
»Ich …«, sagt Kufalt und reckt sich, »ich geh wieder ins Gefängnis. Es hat alles keinen Zweck, ich seh es schon ein, ich geh wieder rein … Meinethalben … mir macht es nichts, mir kommt es nicht mehr darauf an …«
Der Richter beobachtet ihn scharf. »Und warum haben Sie sich bei der Firma Gnutzmann ›Meierbeer‹ genannt, Herr Kufalt? Ist eine Sache sauber, legt man sich doch keinen falschen Namen bei.«
»Damit die auf der Schreibstube nicht merkten, ich hatte den Auftrag gekriegt«, sagt Kufalt und steht auf. »Aber es hat keinen Zweck, Herr Richter. Lassen Sie mich wieder in die Zelle. Ich hab eben immer Pech.«
»Pech haben Sie?!« fragt der Richtig bissig. »Unverdientes Glück haben Sie. Wenn man in so ’ner Lage ist wie Sie, dann macht man nicht solche Geschichten. Dumm sind Sie, leichtsinnig sind Sie, unüberlegt sind Sie. Damit kommt man nicht weiter. Immer unzufrieden, immer meckern, immer was anderes. Sie saßen da ganz gut und sicher auf Ihrer Schreibstube, das ist nun doch wohl wahrhaftig nicht so schlimm, wenn man mal angeschnauzt wird … Aber natürlich: Abenteuer, einen Haufen Geld verdienen …« Er ist sehr ungnädig. »Ausbimsen und Abenteuer, solch ein grüner Bengel …!«
Kufalt steht da, ein unruhiges Gefühl ist in ihm – er wird ausgeschimpft, schön, aber er spürt, hinter diesem Schelten steht etwas anderes, etwas Gutes …
»Den Herrn Sekretär Specht haben Sie wohl nicht verknusen können?« fragt der Richter. »Er hat mir erzählt, Sie haben sich bei der Vernehmung ganz wie ein großschnäuziger alter Ganove benommen.«
»Der Herr Specht hat aber auch wie ein richtiger Kriminaler zu einem richtigen Ganoven mit mir gesprochen. Nicht so wie Sie, Herr Richter«, sagt Kufalt listig.
»Ach was! Der Specht hat Sie gerettet, nur der Specht. Der hat gestern Abend noch die Kaufverträge gesucht, und weil er sie in Ihrer Wohnung nicht fand, ist er noch nachts in Ihre Bodenkammer gelaufen, und da hat er wohl die Kaufverträge gefunden, aber erst später. Vorher hat er noch was anderes gefunden – was wohl?«
»Die Einbrecher …«
»Und wer sind wohl die Einbrecher gewesen?«
»Ich weih doch nicht …«, stammelt Kufalt.
»Sie wissen schon. Na, zeigen Sie mal, ob Sie wenigstens eine Ahnung haben, wer Ihre Freunde und wer Ihre Feinde sind …«
»Ich …«, fängt Kufalt an und schweigt wieder.
»Na bitte«, sagt der Richter.
»Fasse«, sagt Kufalt.
»Öser«, sagt Kufalt.
»Monte«, sagt Kufalt.
»Sager«, sagt Kufalt gesteigert.
»Maack«, sagt der Richter.
»Jänsch«, sagt der Richter.
»So, und nun wissen Sie Bescheid. Ihr Glück war es, dass der Specht darüber zukam. Und Ihr Glück war es, dass die Kaufverträge da bei Ihnen aufbewahrt waren auf dem Büro und dass der saubere Herr Maack so eine Art Tilgungsplan dazu geschrieben hatte, was jeder von Ihnen abzubezahlen hatte … Dass er sich’s nachher anders überlegt hat – ein Lump, Ihr Freund, Kufalt, ein erbärmlicher Lump.«
»Sein Mädchen erwartet ein Kind«, sagt Kufalt.
»Ich will Ihnen etwas sagen«, antwortet der Richter und ist nun wirklich wütend. »Das ist Duselei von Ihnen, das ist Schwäche, das ist blanke Dummheit von Ihnen. Entweder wollen Sie raus aus dem Dreck oder nicht. Ja?«
»Ja«, sagt Kufalt.
»Also!« sagt der Richter. »Die Schreibmaschinen werden heute durch die Polizei den Verkäufern zurückgegeben, und dann werden ja auch die Strafanträge zurückgezogen werden. So lange müssen Sie noch warten. Aber ich denke, heute Abend oder morgen früh können wir Sie entlassen.«