Es ist der schönste Nachmittag von der Welt, das Mittagessen war gut gewesen, für jeden Mann hatte es zwei Rouladen gegeben.
Kufalt sitzt vor seiner Emailleschüssel, die Typenhebel sind sauber, nun trocknet er sie und reibt die Gelenkstellen mit dem Ölläppchen ab. Er arbeitet ruhig und schläfrig, eigentlich fühlt er sich sehr wohl.
Beerboom hatte sich gleich nach dem Mittagessen verdrückt, war ins Bett gegangen, wohl um zu heulen. Aber diese Flucht wurde rasch entdeckt. Die Schreibstube hörte oben Seidenzopfs Bass rollen, Beerboom protestierte gellend, dann aber erschien er, gejagt von Seidenzopf.
»Bürozeit ist Bürozeit. Sie haben das unterschrieben.«
»Ich hab ja gar nicht gelesen, was ich unterschrieben habe.«
»Hepphepphepp, nun setzen Sie sich fein an die Arbeit …«
»Meine Nerven halten das nicht aus, hier neun Stunden stillesitzen.«
»Sie wollen doch Geld verdienen. Schreiben Sie! Schreiben Sie! Sehen Sie, wie viel der Maack schon fertig hat – und Sie …«
Ja, es sieht nicht so aus, als wenn Beerboom heute seine fünfzehnhundert Adressen schaffte. Kufalt kalkuliert den Stoß, der vor Beerboom liegt. Das sind vielleicht dreihundert Adressen. Fünfundvierzig Pfennig das Hundert. Nein, Beerboom wird heute nicht mal sein Kostgeld verdienen …
Der Maack dagegen, der Große, Lange, Blasse, schreibt wie eine Maschine. Das ist nur ein flüchtiger Blick in die Adressenliste vor ihm, dabei schreibt die Hand schon – und die Adresse ist fertig. Hundert auf Hundert türmt sich dort, Stöße über Stöße. Aber er sieht auch nie hoch, er ist eine Maschine, Adresse um Adresse, ein unbewegtes Gesicht, er schreibt.
Nur von Zeit zu Zeit, wie alle anderen übrigens auch, steht er auf, geht in den Vorraum, an dem eiköpfigen Wachhund Mergenthal vorbei, taucht in den Keller. Mergenthal murrt dann immer etwas wie: »Schon wieder!« – »Macht es nicht zu schlimm!« – »Sie können auch noch warten!«
Als Maack das nächste Mal verschwindet, folgt ihm in kurzem Abstand Kufalt. Mergenthal murmelt: »Jetzt ist einer unten«, aber wie alle anderen beachtet Kufalt dieses Murmeln nicht und steigt in den Keller.
Wie nicht anders zu erwarten, ist dort unten ein Klo. Und wie nicht anders zu erwarten, ist es besetzt. Und wie wieder nicht anders zu erwarten, riecht es stark nach Zigaretten.
Wartend dreht sich Kufalt auch eine und brennt sie an.
Die Spülung rauscht, und Maack tritt heraus. Erst will er wortlos an Kufalt vorbei, dann aber, als der ein bisschen lächelt, sagt er leise: »Nur drinnen im Klo rauchen. Wenn Seidenzopf Sie klappt, kostet es Strafe. Mergenthal brummt nur, für einen Antreiber ist der ganz anständig.«
»Danke«, sagt Kufalt und lächelt wieder. »Danke sehr.«
Maack geht schon. Plötzlich dreht er sich um. »Wenn ich Sie wäre, würde ich Seidenzopf das nächste Mal, wenn er durch die Schreibstube geht, fragen, was er für das Reinigen von der Maschine bezahlt. Sonst sehen Sie in den Mond.«
»Ja«, sagt Kufalt. »Gut, das werde ich tun.«
»Die Stunde dreißig Pfennig, das ist hier Tarif.«
»Danke schön. Dreißig Pfennig. – Sie wohnen nicht hier im Heim?«
»Ich muss jetzt wieder rauf«, sagt Maack und verschwindet.
Kufalts Rückkunft beachtet niemand. Es ist ein Aufstand, eine Art Tumult da oben. Beerboom hat den Federhalter hingeworfen und geschrien, er könne nicht mehr weiter, er würde irrsinnig, das sei schlimmer als Rohrstöcke spalten. Das sei schlimmer als Zet. Wozu ihn die freigelassen hätten, wenn er hier doch wieder eingespunnt sei?
Mergenthal sucht ihn zu beruhigen: »Das ist nur die ersten Tage so. Sie werden das gewöhnt, schließlich denken Sie sich gar nichts mehr dabei.«
»Ich kann das nicht, ich halte das nicht aus! Lassen Sie mich eine halbe Stunde auf die Straße. Ich schwöre, ich komme wieder. Aber ich muss raus … Da ist die Stadt, ich kann doch hier nicht sitzen, ich habe elf Jahre gesessen …«
Er fließt über, es geht immer weiter.
Angelockt von dem Lärm naht Seidenzopf. »Was ist denn nun schon wieder? Aber, mein lieber Sohn, mein guter Sohn, das geht nicht. Die anderen Herren wollen arbeiten.«
»Lassen Sie mich raus. Ins Freie. Warum haben Sie mich nicht auf meinem Bett gelassen, ich hätte mich so schön in Schlaf geheult … Lassen Sie mich raus!«
»Aber, Herr Beerboom, Sie sind doch ein großer Mensch, Sie wissen doch, was eine Bestimmung ist. Es ist hier Bestimmung, dass jeder neun Stunden abarbeitet.«
»Und ich will raus! Ich schlage alles …«
»Beerboom, soll ich die Polizei rufen, Sie wissen doch …«
Mergenthal hat etwas in Seidenzopfs Ohr geflüstert, der denkt nach. »Nun gut. Ich will es verantworten. Beerboom, jetzt schreiben Sie noch drei Stunden Adressen, und dann fahren Sie die fertigen Umschläge mit dem Handwagen zur Post. Herr Mergenthal begleitet Sie. Da kommen Sie raus. Nein, jetzt keine Widerreden mehr. Erst fleißig schreiben, sonst erlaube ich es nicht. Sie haben ja noch nichts fertig. Die Schrift muss auch viel besser sein. Wer soll denn das lesen? Einen gefälligen Eindruck müssen unsere Adressen machen, den Empfänger muss es richtig freuen, wenn er so eine Drucksache bekommt. Sehen Sie, Beerboom, wenn Sie jetzt schreiben: ›Herrn Obersekretär‹, da legen Sie ein bisschen Schwung in das ›Ober‹, da freut sich der Mann, dass er es so weit gebracht hat. Adressenschreiben ist eine Kunst, das ist nichts Langweiliges. – So ist es recht, lieber Maack, so einen Tisch sehe ich gerne. Nun vermittle ich Ihnen auch bald eine schöne Stellung.«
»Die haben Sie mir schon vor anderthalb Jahren versprochen, Herr Seidenzopf.«
»Und Sie, mein lieber Kufalt, ja, das ist recht, das ist hübsch, wie das wieder glänzt und gleißt. Das freut Sie, nicht wahr, wenn Unordnung und Unsauberkeit vertilgt werden? Das muss einen rechten Mann freuen.«
»Mach ich das eigentlich im Akkord oder Tagelohn, Herr Seidenzopf?«
»Das ist eine Vorbereitung für Ihre morgige Arbeit, mein lieber Kufalt. Davon haben Sie den Nutzen, da geht es morgen wie geschmiert. – Hähä, es ist ja auch frisch geschmiert.«
»Und wie viel verdiene ich? Meine Hände habe ich mir auch ganz versaut.«
»Wir sind eine Schreibstube, Herr Kufalt. Wir machen Schreibarbeiten für Firmen in Lohn. Adressen bezahlen die uns, aber nicht, wenn Sie eine Maschine reinigen.«
»Ich kann doch nicht einen Tag umsonst arbeiten! Bekomme ich denn heute auch Essen und Schlafen umsonst?«
»Ich hoffe, mein lieber Freund, Sie sind nicht gierig, nicht geldgierig, meine ich.«
»Es hat doch geheißen, hier wird gutbezahlte Arbeit gegeben?«
Aber Seidenzopf ist schon weiter. »Und Sie, lieber Leuben, langsam geht es. Langsam, was?«
Der Lange, Blasse sieht zu Kufalt hinüber, er bewegt den Kopf aufmunternd.
Kufalt springt auf, er steht neben Seidenzopf. »Ich will wissen, was ich für die Dreckarbeit kriege! Fünf Stunden sitze ich jetzt dran. Dreißig Pfennig ist Ihr Stundenlohn.«
Seidenzopf sieht ihn kalt und böse an. »Wir geben Ihnen eine Mark. Kein Wort mehr. Es ist vollkommen unzulässig, dass Sie hier aufspringen und mich bedrängen. Setzen Sie sich auf Ihren Platz. Sie haben mich schwer enttäuscht.« Und mit einem Seufzer, weitergehend, fortgehend: »Es gibt so viele Arbeitslose, nicht wahr?«
Drüben, an seinem Tisch, der blasse Maack nickt unmerklich.
Kufalt ist mit sich zufrieden.
Das Abendessen ist erledigt. Es ist Feierabend für Willi Kufalt, der zweite Abend seiner Freiheit, nach rund eintausendachthundert Abenden in der Gefangenschaft.
Er sitzt im Gemeinschaftszimmer des Heims und sieht durch die Scheiben auf die dämmerige Straße. Das Fenster ist groß, hat schöne, klare Scheiben, auf der Außenseite ist ein hübsches Gitterwerk, Kunstschmiedearbeit, na ja.
Leute gehen vorüber, der Abend ist lau, manche gehen nach Haus, und manche gehen von Haus fort. Auch Mädchen sind darunter. Es ist kein solcher Gewinn, wie man es sich im Kittchen geträumt, die Beine dieser Mädchen in den kurzen Röcken zu sehen.
Aber immerhin. Hier in der Nähe soll ein großer Park sein, es wäre ganz hübsch, da umherzugehen. Aber man müsste von Seidenzopf eine feierliche Erlaubnis zu diesem Ausgang erbitten, und Kufalt hat das Gefühl, als hinge ihm dieser Seidenzopf allgemach zum Halse heraus.
Beerboom streicht wie ein ruheloser Geist durch das Haus, oben, unten, an den Fenstern, an den Türen, aber alles ist gut gesichert. Armer Beerboom, er wartet auf die erste Gewinnbeteiligung aus seinen drei Mark. Wenig Wahrscheinlichkeit, dass Berthold damit überkommt. Nun, wenn es ganz dunkel geworden und die Hoffnung zergangen ist, wird er sich auf sein Bett legen und heulen. Das erleichtert, das tränkt das Gehirn mit Müdigkeit und macht es doof und schläfrig.
Kufalt schaltet das Licht ein und geht an den Bücherschrank. Es sieht unerfreulich in den Fächern aus, die Bücher liegen halb schräg, manche stecken mit dem Schnitt nach vorn. Kufalt zieht ein Buch heraus. »Unsere U-Boot-Helden.« Er zieht den dunklen Nachbarn des Heldenbuchs heraus: »Hamburgisches Gesangbuch.«
Nun will ich noch ein drittes Mal …
In der Tür erscheint Minna. »Für einen Herrn brennen wir hier aber kein Licht«, sagt sie spitz, schaltet das Licht aus und verschwindet.
»Gottverdammich!« brüllt Kufalt und schaltet das Licht wieder ein.
Er zieht ein neues Buch aus dem Schrank. »Die Sünde wider den Geist« von Artur Dinter. Er schlägt das Buch wahllos auf und beginnt zu lesen.
Von der Tür erklingt die weinerliche Stimme Frau Seidenzopfs. »Hier darf aber nicht Licht gebrannt werden am frühen Abend. Es ist ja noch ganz hell draußen. Einer brennt oben Licht, einer brennt unten Licht. Was soll denn das für eine Lichtrechnung werden?«
Frau Seidenzopf schaltet das Licht aus und geht fort. Die Tür lässt sie offen. Kufalt legt das Buch fein sachte in den Schrank zurück, schließt die Tür und setzt sich auf einen Stuhl am Fenster.
Es ist fast ganz dunkel draußen.
Plötzlich wird es hell im Zimmer. Der sittlich hochstehende und innerlich gefestigte junge Mann ist eingetreten, der Student Petersen, vielleicht sechsundzwanzig Jahre alt, der Berater der Strafentlassenen.
»Sitzen Sie hier im Dunkeln? Mögen Sie das?« fragt er.
»Das mag ich«, sagt Kufalt und sieht blinzelnd zu dem langen blonden jungen Menschen hinüber.
Petersen zieht die Gardinen zu. Er setzt sich behaglich stöhnend in einen Sessel und streckt die Beine von sich. »Gott, was bin ich müde! Was bin ich herumgelaufen!«
»Ist die Universität weitab?«
»Ja, auch. Aber ich war nicht auf der Uni. Ich bin bei einem Herrn gewesen, der früher auf die Schreibstube kam.«
Kufalt sieht fragend.
Petersen erzählt bereitwillig: »Er wohnt mit einem Mädchen zusammen. Und nun will sie weg von ihm.«
»Nicht halten, was laufen will«, sagt Kufalt.
»Sie erwartet aber …«
»Und was haben Sie gemacht? Was haben Sie gesagt?«
»Was soll man sagen? Ich habe mich hingesetzt. Erst haben sie sich gefreut, dass ich kam. Ich hab ihnen auch ’ne Unterstützung gebracht von uns hier. Dann sind sie ins Streiten gekommen.«
»Worüber haben sie denn gestritten?«
»Über eine Eau-de-Cologne-Flasche, fast leer. Wissen Sie, er ist so ein ordentlicher Mensch, es muss alles an seinem Platz liegen. Und nun hat er die Eau-de-Cologne-Flasche im Küchenschrank gefunden. Und sie gehört doch auf den Waschtisch. Darüber haben sie gestritten.«
»Blech.«
»Ziemlich heftig haben sie gestritten. Schließlich schrien sie. Als sie fertig waren, waren sie auch fertig. Dann haben sie geweint.«
»Es ist«, sagt Kufalt, »ja nicht die Eau-de-Cologne-Flasche, es ist, weil es ihnen dreckig geht. Wenn es einem dreckig geht, wird alles schwer. Ich hab mich im Kittchen auch über jeden Dreck aufgeregt.«
»Ja«, sagt der Student. »Ja, das ist wohl so. Aber was soll man machen?«
»Wovon leben sie denn?«
»Er war früher auf der Schreibstube. Er hat gut geschrieben. Aber dann plötzlich hat er gesagt, er kann nicht mehr über die Straße gehen. Das ist bei manchen so. Wenn sie rauskommen, merkt man ihnen nichts an. Dann ist alles neu. Aber dann kriegen sie es plötzlich …«
»Dann fangen sie an zu spinnen, ja. Der Beerboom spinnt auch schon. Bei dem passen Sie bloß auf.«
»Ja, man muss mal sehen«, sagt Petersen unsicher, »man kann so wenig machen.«
»Sie sollten mit Herrn Seidenzopf reden. Das ist ein Unsinn, solchen Spinner neun Stunden aufs Büro zu setzen, da dreht er noch ganz durch.«
»Es ist Vorschrift, wissen Sie, Hausordnung, dass jeder neun Stunden absitzen muss.«
»Absitzen, ja.«
Die Tür geht auf. Minna ruft giftig, die Hand am Schalter: »Frau Seidenzopf lässt Ihnen sagen, Herr Kufalt, das Licht …«
»Was ist denn los, Minna?« fragt Petersen.
»Ach, Sie sind auch hier«, sagt Minna. »Eine Stunde Licht wird Ihnen von Ihrem Lohn abgezogen, Herr Kufalt«, verkündet Minna und zieht sich zurück.
Petersen und Kufalt sehen einander an.
»Ich werde mit Herrn Seidenzopf sprechen«, sagt Petersen. »Das Licht wird Ihnen nicht abgesetzt.«
Kufalt macht eine Bewegung. »Es spielt keine Rolle. Jedenfalls danke.« Dann: »Wie ist das hier eigentlich? Dürfen wir nur mit Ihnen aus dem Haus?«
»Nein, natürlich auch allein. Immerhin empfiehlt es sich, namentlich abends … wissen Sie, ich gehe überall mit Ihnen hin.«
Leise, mit Fältchen um den Augen: »Ich tanze auch gerne.«
»Was machen wir am Sonntag?«
»Wir können ja mal zum Hafen gehen. Und nachher in ein nettes Lokal, wo es nicht so teuer ist. Zum Abendessen lassen wir uns Brote mitgeben.«
»Ich habe eine Verabredung am Sonntagabend. Sie müssen mich eine Stunde weglassen. Ich verspreche Ihnen, ich bin pünktlich wieder da.«
Der Student sagt: »Sie können allein gehen. Es kann Ihnen keiner verbieten.«
»Nein«, sagt Kufalt. »Nicht allein. Ich will offiziell, für die hier, bei Ihnen gewesen sein …«
Petersen steht auf und geht hin und her. Verlegen sagt er: »Lieber Herr Kufalt, nein, das möchte ich lieber nicht. Ich könnte Unannehmlichkeiten haben.«
»Schön«, sagt Kufalt. »Es war keine wichtige Verabredung. Im Grunde war es gar keine Verabredung. Ich wollte nur Bescheid wissen über Sie. Gute Nacht, Herr Petersen.«
Kufalt sitzt an seiner Schreibmaschine und schreibt Adressen. Es ist nun der zweite Tag, dass er das tut. Gestern hat er siebenhundert geschafft, heute muss es besser werden. Es geht schon einigermaßen, er vertippt sich noch ein bisschen viel, aber das rutscht so durch unter den vielen hundert Adressen. Alle paar Stunden kommt Herr Mergenthal, notiert, was fertig ist, bündelt es und trägt es hinaus.
Kufalt kann von seinem Platz aus Beerboom nicht sehen, aber in den Pausen, in denen er die neue Adresse in der Liste sucht, hört er ihn rascheln. Beerboom hat heute wieder einen schlimmen Tag, dreimal schon ist er aufgesprungen und wollte aus der Schreibstube fortlaufen. Er hört ständig Bertholds Stimme. Mergenthal hat ihn dann abgefangen und ihn mit Zureden und Schieben auf seinen Platz zurückgeführt. Aber auch heute wird Beerboom keine tausend Adressen schreiben, seine Leistung wird von Tag zu Tag niedriger.
Nun kommt Seidenzopf ins Büro und ruft Kufalt. Der erhebt sich mit Wut. Sicher hat er nicht schön genug gebohnert, er hat es eilig gehabt, wieder an die Arbeit zu kommen.
Aber diesmal ist es nicht das Bohnern. »Herr Pastor Marcetus möchte Sie sprechen. Gehen Sie dort hinein.«
Kufalt klopft, eine Stimme ruft: »Herein«, und er tritt ein.
Hinter dem Schreibtisch sitzt im vollen Licht ein großer schwerer Mann mit schönem, weißem Haar, einem blühenden Gesicht, die Nase ist fleischig, die Mundpartie sehr ausgebildet, kein Bart. Weiße große Hände.
An der Schmalseite des Schreibtisches sitzt eine Dame mit Stenogrammblock, neben ihr die Schreibmaschine. Vor dem Tisch steht einladend für die Besucher ein großer Stuhl, aber Kufalt wird nicht aufgefordert, sich zu setzen.
Der Pastor blättert in Papieren, Kufalt kennt dies Konvolut, er erkennt es wieder, es ist ihm nachgereist, es ist sein Aktenstück aus dem Zentralgefängnis.
Der Pastor lässt sich Zeit. Kufalts »Guten Morgen« hat er mit einem kurzen Brummen erwidert.
Nun schlägt er eine Seite in dem Aktenstück auf und sagt, ohne hochzusehen: »Sie heißen Willi, das heißt Wilhelm Kufalt, von Beruf Buchhalter, mit fünf Jahren Gefängnis wegen Unterschlagung und schwerer Urkundenfälschung bestraft …«
»Ja«, sagt Kufalt.
»Sie sind aus guter Familie. Wie kamen Sie dazu? Weiber? Suff? Spiel?«
Es ist ein kalter, geschäftsmäßiger Ton, in dem zu Kufalt geredet wird. Kufalt kennt diesen Ton. Der Mann da am Schreibtisch hat ihn nicht eine Sekunde angesehen, er braucht den Mann Kufalt nicht anzusehen, er hat das Aktenstück Kufalt.
Der kennt den Ton, der kennt das Echo auch, er zittert am ganzen Leibe, es ist die alte Welt, sie sollte versunken sein, es sind die Jahre, es sind fünf Jahre, es geht so weiter. Soll es immer so weitergehen?
Die Seidenzöpfe mögen mit ihm reden, wie sie wollen, die Beerbooms, wie sie wollen – aber der hier, der müsste es besser wissen, der darf nicht. Der darf nicht!
Der Mann Kufalt zittert am ganzen Leibe, er fühlt, wie sein Gesicht weiß und kalt geworden ist, aber er fragt im gleichen Ton wie der Pastor: »Muss in Gegenwart der Dame verhandelt werden?«
Pastor Marcetus sieht zum ersten Male hoch. Er hat einen langsamen, gleichgültigen Blick, der sich festsetzt auf Kufalts Gesicht. »Fräulein Matzke ist meine Sekretärin. Durch ihre Hände geht alles. Sie weiß alles.«
»Ist die Dame vereidigt?«
»Was heißt das? Sind Sie hier, um zu fragen? Die Dame ist meine Angestellte.«
»Ich frage darum, weil ich nicht weiß, ob Privatpersonen meine Strafakten lesen dürfen.«
»Fräulein Matzke ist vollständig zuverlässig.«
»Trotzdem. Ich weiß nicht, ob es gesetzlich zulässig ist.«
»Sie sehen, Ihre Gefängnisverwaltung hat mir Ihre Akten zugeschickt.«
»Ja, Ihnen. – Die Dame ist vorbestraft?«
Der Mann hinter dem Schreibtisch macht einen Ruck. »Bürschchen …«, sagt er.
»Ich frage darum: Wenn es eine Kollegin wäre, wäre es nicht so schlimm.«
Einen Augenblick ist Stille. Dann sagt der Pastor: »Also bitte, Fräulein Matzke, warten Sie draußen.«
Die Dame entschwindet, Kufalt steht mit gesenktem Kopf vor dem Schreibtisch.
»Der Bericht Ihres Anstaltsgeistlichen lautet nicht günstig über Sie.«
»Nein«, antwortet Kufalt. »Ich will nämlich aus der Kirche austreten.«
»Das hat damit gar nichts zu tun.«
»Vielleicht doch.«
Pastor Marcetus setzt von neuem an: »Auch was Herr Seidenzopf mir über Ihre Führung und Leistung sagt, klingt nicht sehr ermutigend.«
»Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«
»Sie brauchen ständig Widerworte.«
»Ständig? Ich habe einmal dagegen protestiert, einen ganzen Tag ohne Lohn zu arbeiten.«
»In Ihrer Lage ist man demütig.«
»Bei Demütigen ist es nicht schwer, demütig zu sein.«
»Sie können nichts. Ihre Handschrift ist miserabel …«
»Ich war kein Schreiber.«
»Auch auf der Schreibmaschine fehlt viel. Sie vertippen sich ständig und schaffen nichts.«
»Man muss sich nach der langen Haft auch wieder einarbeiten.«
»Das sind Ausreden. Maschineschreiben verlernt man nicht, man ist in zwei Stunden wieder in Gang.«
»Nicht, wenn man die Nachwirkungen von fünf Jahren Haft verspürt.«
»Die meisten Gefangenen sind Stümper in ihrem Beruf. Deswegen sind sie in der Welt nicht vorwärtsgekommen und auf den falschen Weg geraten.«
»Vielleicht sehen sich der Herr Pastor einmal meine Zeugnisse an.«
»Wozu? Ich sehe Ihre Leistungen. Wirkliche Qualitätsarbeit findet man nur unter den Affektverbrechern. Wer wegen Eigentumsvergehen bestraft ist, konnte nichts. Tüchtige Arbeit findet in der Freiheit immer ihren Lohn.«
»Fünf Millionen Arbeitslose beweisen das.«
Rede und Gegenrede sind sich immer schneller gefolgt. Der fleischige Pastor hat nicht mehr seine milden, fröhlichen Farben, er ist dunkelrot angelaufen. Kufalts Gesicht ist fahl, es zuckt und zerrt.
Nach einer Pause des Atemholens sagt der Pastor böse: »Ich überlegte eben, ob ich Sie nicht am besten sofort der Polizei übergebe …«
Kufalt sagt wütend: »Bitte! Tun Sie es doch! Das Ganze nennt man Entlassenenfürsorge.«
Aber in ihm warnt etwas: Das sagt der nicht nur so, der hat was auf dem Kieker. Was hab ich denn ausgefressen? Nichts. Aber – dumm ist der nicht.
Der Pastor sagt: »In den sechs Stunden von Ihrer Entlassung bis zu Ihrem Eintreffen hier haben Sie sich bereits eines Eigentumsvergehens schuldig gemacht.«
»Ich hab geklaut …? Nun, Herr Pastor werden ja nicht lügen. Geistliche lügen nicht. Aber jedenfalls muss ich da geschlafen haben, wie ich geklaut habe.«
»Sie sind«, sagt der Pastor und hängt seine Augen ganz fest in Kufalts Gesicht, »mit hundert Mark mehr hier eingetroffen, als Ihnen im Zentralgefängnis ausgehändigt worden sind.«
In Kufalt jagt es, dreizehn Möglichkeiten und zwölf schon ausgeschieden, aber er hat längst gesagt: »Das stimmt. Und die hab ich natürlich geklaut. Fragt sich nur, wem?«
»Sie wollen mir keine Angaben über die Herkunft des Geldes machen?«
»Warum? Wo Herr Pastor doch schon wissen, dass ich es geklaut habe.«
»Also rufe ich die Polizei.« Und der Geistliche fasst gegen das Telefon, hebt aber den Hörer nicht, wie Kufalt befriedigt feststellt.
»Telefonieren Sie ruhig, Herr Pastor«, sagt Kufalt. »Mir macht es nichts. Ihr Amtsbruder im Zentralgefängnis wird Ihnen gerne von dem verlorenen Einschreibebrief meines Schwagers erzählen. Er oder der Hauptwachtmeister haben ihn verschusselt. Das wird er vor Gericht zugeben müssen.«
»Was ist das?«
»Das sind so Geschichten, Herr Pastor. Es ist nicht alles klar, was in den Akten ist. Na, jedenfalls bestellen Sie, die sollen in meiner Zelle sich mal das Gitter anschauen, da ist der Brief angebunden.«
»Ich denke, der Brief ist verschusselt?«
»Und Ihr Herr Amtsbruder soll von jetzt an bei der Briefkontrolle auch das Futter im Briefumschlag ansehen, darin steckte das Geld. Meine Schwester hatte es reingesteckt. Heimlich.«
»Was ist das alles!« sagt der Pastor unwillig. »Märchen sind das.«
»Alles findet sich wieder an«, sagt Kufalt ungerührt. »Wenn manche auch das Geld gerne beiseite brächten.«
»Ich versteh kein Wort. Ich denke, Herr Pastor Zumpe hat es gerade nicht im Briefumschlag gefunden? Die Sache scheint mir völlig dunkel.«
»Rufen Sie die Polizei, dann wird sie schon hell werden. Oder, noch ein Vorschlag, schreiben Sie Herrn Zumpe. Der wird Ihnen antworten: Der Kufalt ist ein ekelhafter Kerl, aber diesmal funkt der Laden.«
»Funkt der Laden …?«
»Hat er die Wahrheit gesagt, heißt das.«
»Also gut, ich werde schreiben, und wehe Ihnen, wenn nicht jedes Wort wahr ist! Ich rufe unnachsichtlich die Polizei.«
»Und ich schiebe wieder Knast, gewiss doch, Herr Pastor.«
Der Pastor macht eine mutlose Bewegung. »Also führen Sie sich wenigstens solange gut.«
Kufalt beugt sich über den Schreibtisch. Jetzt ist er wirklich böse. Und hat keine Angst mehr.
Er flüstert dem erstaunten Geistlichen ins Gesicht: »Wenn Sie das nächste Mal mit einem alten Knastschieber reden, dann sagen Sie ihm guten Morgen. Dann fragen Sie ihn nicht in Gegenwart von hübschen jungen Mädchen, ob er wegen Weibergeschichten ins Kittchen kam. Dann bieten Sie ihm lieber noch einen Stuhl an. Dann kotzen Sie ihn nicht an. Das Angekotztwerden, das sind wir gewöhnt, Herr Pastor, das macht uns munter und scharf, das ist das Salz in unserer Suppe, Herr Pastor. Das nächste Mal versuchen Sie es vielleicht mal mit der anderen Tonart, Moll statt Dur, Freundschaft statt Feindschaft. Guten Morgen, Herr Pastor …«
»Halt!« brüllt der Pastor. »Sie können auf der Stelle …«
»Das Friedensheim verlassen …?« fragt Kufalt.
»Ach was! Gehen Sie an Ihre Arbeit. Sie sind es alle nicht wert …«
»Natürlich sind wir alle die Arbeit von Herrn Pastor nicht wert. Guten Morgen, Herr Pastor.«
»Machen Sie, dass Sie wegkommen. Fräulein Matzke soll wieder reinkommen.«
»Guten Morgen, Herr Pastor!«
»Na, meinethalben guten Morgen.«