Als Kufalt am Glaskasten steht, um seine Meldung zu machen, ist der Kasten leer. Kein Hauptwachtmeister zu sehen. Kufalt hebt den Kopf und späht in den Bau: nichts. Natürlich sind da Kalfaktoren im Gang, beim Schrubbern und Wachsen und Wichsen des Linoleums, und natürlich sind da Beamte unterwegs, aber hierher sieht keiner.
Kufalt schaut in den Glaskasten. Die Schiebetür steht halb offen. Es muss gerade Post gekommen sein, ein ganzer Stoß Briefe liegt dort, und obenauf liegt ein länglicher, gelblicher Umschlag mit einer weißen Einschreibequittung.
Er sieht sich um. Niemand scheint auf ihn zu achten. Er späht durch die Tür. Nun liest er, was er schon ahnte: »Herrn Willi Kufalt, Zentralgefängnis.«
Der lang ersehnte Brief von Schwager Werner Pause, der Brief mit Geld oder einer Anstellung.
Es ist nur ein Griff, und Brief nebst Einschreibezettel sind in seiner Tasche geborgen. Langsam geht Kufalt über die Treppe zur Zelle.
Da steht er nun an seinem Tisch unter dem Fenster, den Rücken sorgfältig gegen den Spion, damit niemand sehen kann, was er mit den Händen tut.
Vorsichtig befingert er den Umschlag. Ja, es ist etwas drin, eine Einlage. Sie schicken ihm Geld! Es ist kein sehr umfangreicher Brief, scheint es, aber eine dickere Einlage ist darin.
Also hat Werner ihm doch geholfen. Eigentlich, ganz drinnen, hat er nie daran geglaubt. Aber der Werner ist eben doch ein anständiger Kerl, da kann man sagen, was man will. Dass er erst, als die Sache passierte, so wütend war, nun, übelnehmen konnte man das eigentlich nicht.
Ach, das gute Leben jetzt draußen! Wie wird es schön sein! Keine Entbehrungen, wenn er natürlich auch sehr, sehr sparsam sein wird. Aber man kann in ein Café gehen und vielleicht mal in eine Bar …
Unter tausend Mark können sie nicht schicken, sonst ist es überhaupt kein Start. Und in vier oder fünf Wochen kann man dann noch einmal um eine größere Summe bitten, drei- oder viertausend, um sich ein nettes Geschäft einzurichten, vielleicht Zigarren … Nein. – Nein …
Die Einlage ist kein Geld, ein Schlüssel, ein flacher Schlüssel, ein Kofferschlüssel. Schade … Und der Brief:
Herrn Willi Kufalt,
z. Z. Zentralgefängnis, Zelle 365
Wir beehren uns, Ihnen im Auftrage von Herrn Werner Pause mitzuteilen, dass Herr Pause Ihren Brief vom 3. 4. und Ihre früheren Briefe erhalten hat. Herr Pause bedauert, Ihnen sagen zu müssen, dass z. Z. in seinen Büros keine Stellung für Sie frei ist, dass er aber auch, selbst wenn eine frei würde, sie aus sozialen Gesichtspunkten einem der vielen nicht vorbestraften Arbeitslosen geben müsste, die teilweise im tiefsten Elend leben. Was die weiter von Ihnen erbetene geldliche Unterstützung angeht, so bedauert Herr Pause, Sie auch in diesem Punkte abschlägig bescheiden zu müssen. Nach unseren Erkundigungen haben Sie während Ihrer Haftzeit eine nicht unbeträchtliche Summe für Arbeitsbelohnung verdient, die Sie direkt nach Ihrer Entlassung vor Entbehrungen schützen dürfte. Auch verweist Sie Herr Pause nachdrücklich auf die zahlreichen Fürsorgevereine, in deren Arbeitsgebiet Ihr Fall fällt, und die sicher gerne etwas für Sie tun werden.
Herr Pause lässt Sie nachdrücklich ersuchen, weitere Zuschriften weder an ihn noch an seine Frau, Ihre Schwester, oder an Ihre Mutter zu richten. Die gehabten Aufregungen sind nur schwer und unvollkommen verwunden, ihre Wiederaufrührung würde nur schärferes Abrücken von Ihnen zur Folge haben. Herr Pause lässt Ihnen aber per Eilfracht einen Teil Ihrer Sachen zugehen, den Rest werden Sie erhalten, wenn Sie sich mindestens ein Jahr einwandfrei geführt haben. Den Kofferschlüssel fügen wir diesem Briefe bei.
Indem wir Ihnen dieses mitteilen, verbleiben wir mit vorzüglicher Hochachtung
Pause und Mahrholz
ppa. Reinhold Stekens
Der Maitag ist noch immer hell und strahlend, die Zelle ganz licht. Draußen ist Freistunde. Die Füße scharren und scharren.
»Fünf Schritte Abstand! Abstand halten!« ruft ein Wachtmeister. »Halten Sie den Mund, oder es gibt eine Anzeige!«
Kufalt sitzt da, den Brief in der Hand. Er starrt vor sich hin.
Kufalt erinnert sich genau, wie das war, als Tilburg vor drei oder vier Jahren entlassen wurde. Tilburg war ein ganz gewöhnlicher Gefangener gewesen, er war nach keiner Richtung hin aufgefallen. Er war auch kein besonders schwerer Junge gewesen, hatte einen normalen Knast von zwei oder drei Jahren abgerissen. Was er während dieses Knasts erlebt und gedacht hatte, das konnte man ja nun nicht wissen. So was kann niemand im Kittchen wissen, nicht einmal der Betroffene.
Also Tilburg wurde eines Tages entlassen. Nun machte er nicht das, was so Gefangene im Allgemeinen machen, er besoff sich nicht und ging auch nicht mit Weibern los in der ersten Nacht, er suchte sich weder Arbeit noch Zimmer. Tilburg fuhr einfach nach Hamburg und kaufte sich einen Revolver.
Dann fuhr er wieder zurück, besah sich den Bunker von außen und ging dann eine von den Straßen, die aus der Stadt hinausführen.
Als er da nun ein Stück gegangen und aufs flache Land gekommen war, begegnete ihm ein Mann. Es war irgendein beliebiger Mann, Tilburg hatte ihn nie gesehen.
Tilburg zog seinen Revolver und gab einen Schuss auf den Mann ab. Er traf den Mann in die Schulter, zerschmetterte den Schulterknochen, der Mann fiel um. Tilburg ging weiter.
Dann begegnete er wieder einem Mann, und auch auf den schoss er, diesmal traf er den Mann in den Bauch.
Eine halbe Stunde später sah Tilburg Landjäger auf Rädern. Er sprang von der Chaussee, lief über Wiesen auf einen Hof. Er schoss ein paarmal und schrie, dass alle im Haus zu bleiben hätten. Dann verteidigte er den Hof gegen die Landjäger. Nun hatte er Gelegenheit, sich als das zu fühlen, als was er sich die letzten Jahre vielleicht ständig gefühlt hatte: als wildes böses Tier. Oder die einzige Erklärung, die er in der Verhandlung später abgab: »Ich hatte so ’nen Rochus auf die Menschen.«
Er schoss noch drei Landjäger um, bis sie ihn umschossen. Aber er wurde dann wieder zurechtgeflickt für die Verhandlung und für ein hübsches neues Ende Knast, das er nicht mehr aufbrauchen dürfte.
Eigentlich kann man den Tilburg ganz gut verstehen, denkt Kufalt über seinem Brief in der Zelle.
Und etwas später: O ich Idiot, den Brief hätte ich wahrhaftig im Glaskasten liegenlassen können! Was mach ich nun nur, wenn er vermisst wird?
»Sie sollen zur Abrechnung kommen, Kufalt«, ruft ein Wachtmeister in die Zelle.
»Jawohl«, sagt Kufalt und steht langsam auf.
»Nu mach schon voran, Mensch, ich hab noch zwanzig Vorführungen.«
»Der Wachtmeister ist ein Renntier«, sagt Kufalt.
»Also los, lauf schon runter zur Zentrale. Ich will nur …«
Kufalt kommt wieder am Glaskasten vorbei. Hauptwachtmeister Rusch schaut hoch und glotzt ihn durch die Brille an. Er bewegt die Lippen, aber er ruft Kufalt nicht an.
Einen schönen Dreck hab ich da gemacht. Der Koffer kommt, und kein Schlüssel ist da. Ich hab ihn in der Tasche, aber ich darf ihn nicht haben. Und ich darf nicht einmal wissen, dass einer kommt. Oh, ich bin ja so alle! Das neue Leben fängt gut an. Wenn ich nur meine Ruhe hätte, in der Zelle, und dreißig Pensums Heringsbelli vor mir!
»O Mensch, o Manningmensch«, flüstert Batzke zu ihm auf der Zentrale. »Hast du den Hausvater gesehen? Geplatzt ist der über die Mottenlöcher!«
»Kriegst du nun einen neuen Anzug?«
»Klar, was denn! Heute Nachmittag gehe ich mit ihm in die Stadt, einen kaufen. Die Fürsorge zahlt. Und mein alter wird kunstgestopft, den krieg ich auch noch mit.«
»Wieso ist er denn so weich geworden?«
»Damit ich nichts ausquatsche von den Mottenlöchern. Die würden doch verrückt vorne, wenn sie hören, es sind Motten in der Kleiderkammer. Die würden ihm schon Kattun geben, dem roten Hund, dem!« Batzke grinst. »Und Motten findet er doch nicht.«
»Findet er nicht?«
»Mensch, hast du geglaubt, das sind Motten? So blau! Motten aus der Flasche sind das!«
»Motten aus der Flasche?«
»Hast du denn nicht gesehen, wie ich dem Bastel den Tabak gegeben habe?! Wir haben das Ding zusammen gedreht. Ausgedacht hab ich’s. Die Hose war schon beinahe durch, und ich wollte doch in anständiger Kluft rauskommen. Da hat Bastel aus der Salzsäureflasche immer einen Tropfen auf den Anzug fallen lassen, und die Ränder von den Löchern hat er mit dem Messer ein bisschen rau gemacht, und etwas Spinneweb hat er darübergerieben, ganz feinecht hat das ausgeschaut, da fliegt jeder drauf.«
»Aber der Hausvater …«
»Der doch grade! Der ist doch so ein Kamel, der kocht doch gleich über, wenn was schiefgeht. Das hab ich mir doch alles genau berechnet. Bei Rusch hätte ich das nicht machen dürfen, der hätte die Lupe genommen und gedacht und gedacht, da hätt ich Knast schieben dürfen für. Aber beim Hausvater …«
»Wenn die Herren von der dritten Gruppe mit ihrer Unterhaltung fertig sind, dann dürfen wir wohl abrücken zur Kasse, ja?« sagt der Wachtmeister.
»Wohin wollen Sie entlassen werden, Kufalt?« fragt der Inspektor.
»Nach Hamburg.«
»Haben Sie Arbeit?«
»Nein.«
»Zu wem ziehen Sie dort?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Schreiben Sie also ›auf Wanderschaft‹«, sagt der Inspektor zum Sekretär.
»Ich gehe doch nicht auf Wanderschaft. Ich will mir ein Zimmer mieten.«
»Das lassen Sie nur unsere Sache sein. Wir machen das so, wie wir das hier gewöhnt sind.«
»Aber es ist nicht richtig. Ich gehe nicht auf Wanderschaft. Ich bin doch kein Handwerksbursche.«
»Wahrscheinlich sollen wir schreiben ›auf Reisen‹. Hören Sie, Ellmers, Herr Kufalt begibt sich auf Reisen. Wahrscheinlich wartet sein Auto morgen früh um sieben vor der Tür.«
Kufalt schielt argwöhnisch über die Schranke. »Ich kriege doch keine Abmeldung vom Gefängnis?«
»I wo, wie werden Sie! Vom Hotel Vier Jahreszeiten kriegen Sie eine!«
»Eine Abmeldung vom Kittchen nehme ich nicht an. In der Strafvollzugsordnung steht, aus der Abmeldung darf nicht ersichtlich sein, dass der Entlassene aus einer Strafanstalt kommt.«
»Das machen wir, wie es hier Vorschrift ist.«
»Ich lese es doch, da steht doch: ›Aus dem Zentralgefängnis‹. Die nehme ich nicht an. Die soll ich wohl gleich meiner Wirtin in die Hand geben? Ich verlang ’ne andere Abmeldung.«
»Diese hier kriegen Sie und keine andere. Sie haben hier lange genug ’ne Lippe riskiert, Kufalt.«
»Aber in der Strafvollzugsordnung steht …«
»Das haben wir gehört. Halten Sie jetzt den Mund, oder ich lasse Sie abführen.«
»Herr Wachtmeister, ich verlange Vorführung beim Direktor!«
»Das Maul sollen Sie halten! – Übrigens ist der Direktor verreist.«
»Das ist nicht wahr! Ich bin ja erst vor einer Stunde bei ihm gewesen.«
»Und vor einer halben ist er abgereist. Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind …«
»Batzke, Bruhn, Lehnau – lasst ihr euch das gefallen?! Ihr wisst, es steht im blauen Heft in der Zelle …«
Kufalt wird immer wilder.
Der Inspektor kommt um die Schranke herum. »Kufalt, ich warne Sie! Ich warne Sie! Was Sie da eben gemacht haben, Kufalt, war Aufwiegelei! Morgen früh, wenn Ihre Strafe rum ist, lasse ich Sie in Untersuchungshaft führen wegen Meuterei.«
»Sie …? Sie?! Untersuchungshaft kann ein Richter verhängen, aber doch nicht Sie! Das müssen Sie einem frisch Eingelieferten erzählen, Herr Inspektor, mir doch nicht!«
»Ellmers, sehen Sie sich das an! Das sind die Leute, die entlassen werden wollen!«
»Kriege ich eine Bescheinigung nach der Strafvollzugsordnung?«
»Sie kriegen die Bescheinigung, die hier Vorschrift ist.«
»Steht da drauf, dass ich aus dem Gefängnis komme?«
»Natürlich. Wo kommen Sie denn sonst her?«
»Dann verlange ich Vorführung beim Stellvertreter von Herrn Direktor.«
»Wachtmeister, führen Sie den Kufalt bei Herrn Polizeiinspektor vor. – Also jetzt Sie, Batzke. Sie legen ja wohl keinen besonderen Wert auf eine Abmeldung aus dem nächsten Hotel?«
»Wenn mein Geld stimmt, Herr Inspektor, können Sie meinetwegen schreiben, ich bin Muttermörder.«
»Hören Sie, Kufalt!« sagt der Inspektor triumphierend.
Der Polizeiinspektor ist ein milder, weißhaariger, sanfter Mann, ein fetter Mann, ein leiser Mann, ein stiller Mann, kaum zu merken eigentlich, so leise und still, so sanft. Und doch vielleicht der unbeliebteste Mann im Bau. Die Gefangenen nennen ihn den Judas.
Kufalt kann nicht vergessen, dass der Inspektor im ersten Haftmonat einen Zellenbesuch bei ihm machte, da war er teilnehmend und gut, am Schluss sagte er zu ihm: »Und wenn Sie einmal einen Wunsch haben, Kufalt, so sagen Sie ihn mir mündlich. Ich komme jeden Monat einmal auf Ihre Zelle.«
Kufalt hatte Wünsche und wartete auf den Inspektor. Nun ist es so bestimmt, dass Gefangene nur einmal im Monat an einem bestimmten Tage, zu einer bestimmten Stunde einen Wunsch äußern dürfen, ist die Stunde verstrichen, müssen sie wieder einen Monat warten.
Kufalt wartete drei Monate auf den versprochenen Besuch des Inspektors, um ihm seinen Wunsch mündlich vorzutragen. Der Polizeiinspektor kam nicht. In den fünf Jahren kam er nicht einmal wieder auf Kufalts Zelle. Er hatte das »nur so« gesagt, einfach hingesagt, um sich im Augenblick angenehm zu machen, er hatte dann nie wieder an Kufalt gedacht. Aus Neugierde war er ein einziges Mal bei dem frisch Eingelieferten gewesen.
Kufalt hat ihm das nicht verziehen. Er hat es nie über sich gebracht, an den Mann noch eine Bitte zu richten, und so sagt er denn jetzt auch nur: »Herr Inspektor, es gibt eine Bestimmung in der Vollzugsordnung, dass aus dem Abmeldeschein nicht hervorgehen darf, dass der Entlassene aus einer Strafanstalt kommt. Die wollen mir aber einen Schein aus dem Zentralgefängnis mit dem Stempel ›Zentralgefängnis‹ geben.«
Der Polizeiinspektor sieht den Gefangenen lange an. Dabei wiegt er den weißen, runden Kopf hin und her und schaut in eine Ecke, wo nichts ist wie ein Schrank mit Akten. »Wieder«, sagt er bedauernd. »Wieder.« Er wiegt den Kopf hin und her. »Ein Jammer ist das.«
Kufalt steht vor ihm und wartet, worauf das Theater hinaus soll. Denn dass der Polizeiinspektor über irgendetwas, was einen Gefangenen angeht, Bedauern empfinden könnte, übersteigt seine Glaubenskraft.
Hinter Kufalt steht in dienstlicher Haltung der vorführende Wachtmeister. Eine Uhr an der Wand, geschmückt mit Eichenlaub, Schwertern und Adler, tickt sehr vernehmlich die Zeit fort.
Der Polizeiinspektor lenkt seinen Blick auf den Gefangenen zurück. »Und was sollen wir tun?«
»Mir eine vorschriftsmäßige Bescheinigung geben.«
»Ja, natürlich!« sagt der Inspektor freudig. »Ja, natürlich!« Er verfällt erneut in Bedauern. »Nur …«, ganz leise und vertraulich, »… es gibt Hindernisse.«
Er lehnt sich in seinen Schreibtischsessel zurück und sagt: »Es gibt Bestimmungen zweierlei: durchführbare – undurchführbare. Ich will nichts gegen diese Bestimmung sagen, im Gegenteil, sie ist sozial, sie ist human, sie entspricht dem Geiste heutiger Volksvertretung, nur – durchführbar ist sie nicht. Überlegen Sie sich, Kufalt, ich spreche jetzt nicht zu Ihnen als zu einem Gefangenen, ich spreche zu Ihnen als zu einem Menschen von Verstand und Bildung.«
Der Inspektor hält inne. Er sieht Kufalt milde an. Er sagt langsam und sanft: »Das Zentralgefängnis liegt in einer Stadt. Diese Stadt hat ein Meldebüro. Dieses Meldebüro hat eine Einwohnerkartei. Wir lassen uns, nach dem Buchstaben ihrer Bestimmung, eine Anzahl Meldeformulare geben. Wir füllen sie aus, wir wollen sie den Entlassenen geben und – und …«
Wieder schaut der Polizeiinspektor in die Ecke. Kufalt wartet geduldig, er hat sich beruhigt, sein Plan ist fertig. Lass den reden, er kriegt seine Abmeldung schon.
»… Und«, sagt der Polizeiinspektor, »der Gefangene weist die Abmeldung zurück. Sie lächeln, Kufalt« (der denkt nicht daran), »Sie glauben mir nicht. Und doch weist der Gefangene die Abmeldung zurück. Sie sind mir nicht gefolgt. Was fehlt der Abmeldung? Der Stempel fehlt! Denn was können wir tun? Entweder drücken wir den Stempel vom Zentralgefängnis darauf, dann ist der Bestimmung nicht Genüge getan, oder wir lassen sie ungestempelt, dann ist die Abmeldung ungültig.«
»Und als drittes besorgen Sie sich einen Stempel des städtischen Meldeamts.«
»Kufalt! Kufalt! Sie, ein Mann von Verstand und Bildung! Wir sind ein Zentralgefängnis, wie können wir einen Meldeamtsstempel führen? Nein«, ganz traurig, »diese Bestimmung ist nicht durchführbar, so ideal und sozial sie scheint. – Sie sehen es ein?«
»Ich bitte um eine Abmeldung nach Vorschrift der Strafvollzugsordnung.«
»Ich täte es gerne, Kufalt, so gerne! Es ist un – mög – lich! Wachtmeister, führen Sie den Mann nach erteilter Belehrung …«
»Wenn ich eine Abmeldung mit dem Stempel des Zentralgefängnisses bekomme, so schicke ich sie an meinem Entlassungstage an den Rechtsausschuss beim Landtage unter Wiederholung der mir erteilten Belehrung …«
Stille.
»Natürlich«, sagt der Polizeiinspektor, aber nicht mehr sanft, sondern mit einer scharfen, kratzigen Stimme. »Na – tür – lich! Mit dem Kopf durch die Wand. Ich habe es nie anders von Ihnen erwartet. Es ist unklug, Kufalt. Sie denken jetzt nur daran, dass Sie entlassen werden. Sie denken nicht daran, dass Sie auch einmal wieder …«
Er bricht ab. Und Kufalt fragt: »Was einmal wieder? Bitte, Herr Inspektor?«
»Es ist schon gut. Wachtmeister, führen Sie den Mann ab. Sagen Sie, dass eine Abmeldebescheinigung für ihn vom Einwohnermeldeamt geholt werden muss.«
»Ich danke auch schön, Herr Polizeiinspektor.«
Herr Polizeiinspektor hustet gerade, er kann nicht antworten.
Kufalt steht wieder auf der Abfertigung. Der Wachtmeister hat seine Meldung gemacht. Die anderen Abgänge sind schon fort, erledigt.
Nun sagt der Inspektor: »Ihre Strafzeit ist um dreizehn Uhr zwanzig vorbei.«
Worauf Kufalt antwortet: »Ich bitte, wie üblich morgens entlassen zu werden.«
Der Inspektor sagt grob: »Was heißt wie üblich? Sie kennen doch die Strafvollzugsordnung so gut! Die Gefangenen sind so zu entlassen, dass sie noch am Entlassungstage ihren Bestimmungsort erreichen. Sie wollen nach Hamburg entlassen werden. Sie haben also am Nachmittag überreichlich Zeit, Ihren Bestimmungsort zu erreichen.«
Kufalt sagt: »Aber sämtliche Gefangenen werden morgens um sieben Uhr entlassen.«
»Das überlassen Sie uns. Wir riskieren womöglich noch eine Beschwerde, wenn wir Ihnen was von Ihrer Haftzeit rauben.«
Kufalt steht und schweigt. Nun, natürlich, er kann froh sein, wenn es damit noch abgeht. Es gibt viele Möglichkeiten, einem Gefangenen vierundzwanzig Stunden zur Hölle zu machen.
Der Inspektor fängt neu an: »Ihre Arbeitsbelohnung beträgt dreihundertfünfzehn Mark siebenundachtzig Pfennig.«
Kufalt sagt: »Darf ich einmal die Abrechnung sehen?«
»Ellmers, geben Sie dem Herrn Kufalt seine Abrechnung zur Prüfung und Genehmigung.«
Kufalt sieht die Abrechnung an. Ihn interessiert nur die letzte Pensumzahl, und siehe, es sind doch nur sechzehn Pensen angeschrieben, nicht siebzehn!
Er überlegt, ob er wieder meckern soll, aber er besinnt sich und schweigt.
»Ich bitte, dass ich mir heute noch von meiner Arbeitsbelohnung ein Paar Schuhe kaufen darf. Meine alten Zivilschuhe sind mir durch das Pantoffellaufen zu eng geworden.«
»Abgelehnt«, sagt der Inspektor. »Ich werde den Hausvater anweisen, dass er Ihnen ein Paar alte Arbeitsstiefel von den Außenarbeitern gibt. Die tun vollkommen Dienst für Sie.«
»Aber ich kann nicht …«
»Sie werden können müssen, Kufalt … Für Reisegeld bis Hamburg brauchen Sie fünf Mark, für die erste Woche zu leben zehn Mark. Ihnen werden also bei der Entlassung fünfzehn Mark siebenundachtzig ausbezahlt, der Rest wird an das Wohlfahrtsamt überwiesen.«
»Herr Direktor hat aber …« Kufalt überlegt.
»Nun, was hat Herr Direktor …? Quatschen Sie sich rein aus, Kufalt. Ich habe heute nichts weiter mehr vor, als Sie abzufertigen.«
»Herr Direktor hat verfügt, dass mir meine Arbeitsbelohnung bei der Entlassung voll ausbezahlt wird.«
»Ach nee? Und warum weiß ich nichts von der Verfügung?«
»Herr Direktor hat es heute früh genehmigt«, beharrt Kufalt.
»Sie lügen, Kufalt. Herr Direktor kann das gar nicht verfügt haben, das widerspricht allen Anordnungen des Strafvollzugsamtes. Damit das Geld in einer Woche alle ist, und wir Steuerzahler dürfen Sie ernähren? Das möchten Sie!«
»Herr Direktor hat es verfügt.«
»Dann müsste es in Ihren Akten stehen. Da steht nichts.«
»Ich verlange mein Geld voll ausbezahlt!«
»Jawohl. Fünfzehn Mark siebenundachtzig. Unterschreiben Sie jetzt, dass Sie die Abrechnung anerkennen.«
»Ich bitte um Vorführung bei …«
»Nun, bei wem wohl?« grinst höhnisch der Inspektor.
Kufalt hat eine Erleuchtung: »Bei Herrn Pastor!«
»Beim Pastor …?«
»Jawohl, bei Herrn Pastor!«
»Wachtmeister – aber es ist das letzte Mal, dass ich Sie vorführen lasse, Kufalt! Ihre Stänkereien habe ich satt! – Wachtmeister, führen Sie den Mann zum Pastor!«
»Was machen Sie für Sachen, Kufalt«, sagt der Wachtmeister missbilligend auf dem Gang. »Sie machen sich ja ganz zunichte. Wie an die Wand gespuckt sehen Sie aus.«
»Die sollen tun, was uns zusteht!« sagt Kufalt.
»Dumm sind Sie«, sagt der Wachtmeister. »Wären Sie dem Inspektor ein bisschen hinten reingekrochen wie der Batzke, hätten Sie Ihr ganzes Geld ausbezahlt gekriegt. Aber wenn Sie ihn immerzu ärgern!«
»Ich verlang mein Recht«, beharrt Kufalt.
»Deswegen sind Sie eben dumm«, stellt der Wachtmeister fest.
»Herr Pastor«, sagt Kufalt zu dem Geistlichen, der ihn ärgerlich betrachtet, »ich habe es mir überlegt, ich will die Anmeldung für Friedensheim doch unterschreiben.«
»So? Wollen Sie das nun? Und wenn ich nun nicht glaube, dass Sie dessen würdig sind? Es ist ein gemeinnütziges Institut.«
»Herr Direktor hat gesagt, ich soll dorthin.«
»Herr Direktor hat sich eben in Ihnen getäuscht. – Nun, meinetwegen, unterschreiben Sie.«
Kufalt schreibt.
Und sagt stolz zum Inspektor: »Meine Arbeitsbelohnung ist nach Friedensheim zu überweisen. Herr Pastor hat eben meine Aufnahme genehmigt.«
»Sie gehen nach Friedensheim? Mensch, Kufalt, Sie gehen nach Friedensheim?! Oh, Manning, Manning, und so was riskiert ’ne Lippe!« Der Inspektor schüttelt sich vor Vergnügen.
Kufalt ist wütend.
»Kriecht zu Kreuz, der liebe kleine Kufalt! Na, Sie werden noch an mich denken, wie ich hier gelacht habe!«
Kufalt wird ängstlich, ihm ist sehr ungemütlich. »Fehlt was in Friedensheim?«
»I wo! Was soll da fehlen?! Gar nichts fehlt da. Im Gegenteil. – Aber dann brauchen Sie natürlich keine fünfzehn Mark. Fünf Mark Reisegeld sind voll genug. Schreiben Sie, Ellmers, fünf Mark siebenundachtzig zur Auszahlung, dreihundertzehn Mark an Friedensheim.«
Kufalt denkt an seinen Hunderter im Strumpf und protestiert gar nicht erst.
»Na, Gott sei Dank, da steht ja nun der Name ›Kufalt‹. Wir sind fertig mit dem Mann, Wachtmeister. Führen Sie den Mann auf seine Zelle. Gott sei’s getrommelt und gepfiffen. Drei solche wie Sie, Kufalt …«
Als Kufalt am Glaskasten vorbeikommt, hebt der Hauptwachtmeister wieder den Kopf und sieht Kufalt wieder scharf an. Sagt aber wieder nichts.
Die Luft ist nicht sauber, findet Kufalt, und in der Zelle bindet er sofort Brief und Einschreibezettel zu einem Röhrchen zusammen, klettert ans Fenster und bindet das Röhrchen seitlich so an einen der Gitterstäbe, dass es weder von außen noch von innen zu sehen ist.
Dann holt er den Hunderter aus dem Strumpf und macht aus ihm ein Röllchen, das er fest zwischen die Gesäßbacken drückt.
Irgendwas ist nicht im Lote. Rusch glotzt so.
Nun aber ist er alle, er klappt sein Bett runter und wirft sich darauf, vollkommen erledigt.