Eine Änderung in meinem Verhältnis zum Arzt trat erst ein, als er mich eines Tages zu ganz ungewohnter Stunde, nämlich am frühen Nachmittag, in meiner Zelle aufsuchte. Ich hatte gerade geraucht, was auf den Arbeitszellen verboten ist, aber, obwohl die Luft noch von Tabaksrauch erfüllt war, machte er keine Bemerkung darüber, so streng er sonst auf die Befolgung der Hausordnung sah. Er trug an diesem Tage nicht seinen hellen Ärztemantel und war auch nicht von seinem ewigen Schatten, dem Oberpfleger, begleitet.
Einen Augenblick sah Dr. Stiebing auf meine Arbeit und fragte dann etwas zerstreut: »Nun, wie kommen Sie mit der Bürstenmacherei zurecht, Sommer?«
»Ganz gut, Herr Medizinalrat«, antwortete ich. »Ich glaube, der Arbeitsinspektor ist zufrieden mit mir.«
Er nickte, wieder recht zerstreut, meine guten Arbeitsleistungen schienen ihn nicht weiter zu interessieren. Er griff in seine Tasche, nahm eine silberne Zigarettendose heraus und tat nun etwas, was mich völlig überraschte, ja beinahe umwarf: Er bot mir die Dose an. »Bitte schön, Herr Sommer!«
Ich sah ihn ungläubig an, ein feines, dünnes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sagte: »Sie dürfen sich ruhig eine nehmen, Sommer, wenn Ihr Arzt sie Ihnen anbietet.« Er gab mir sogar zuerst Feuer und stand dann einen Augenblick behaglich rauchend unter dem hoch angebrachten Zellenfenster, schweigend. Dann sagte er: »Ich habe gestern einmal ausführlich mit Ihrer Frau über Sie gesprochen, Herr Sommer. Ich hatte sie gebeten, einmal bei mir vorbeizukommen, und gestern war sie bei mir.«
Ich antwortete ihm nicht, ich sah ihn nur an, mein Herz klopfte stark. Dass dieser Mann gestern erst mit Magda zusammen gewesen war, das bewegte mich, das erschütterte mich sehr. Ich konnte nicht reden, ich glaube, ich zitterte am ganzen Leibe.
»Ja«, sagte der Arzt nachdenklich. »Ich habe mir von Ihrer Frau noch einmal alles im Zusammenhang erzählen lassen, vom ersten Anfang Ihrer Ehe an bis zu jenem unseligen Abend. Ein Psychiater hört ja vieles aus den Worten von Angehörigen heraus, was sie selbst nicht ahnen.«
Eine Welle zornigen Unmuts wollte sich wieder in mir erheben. ›Also auch Magda hast du überlisten wollen und wahrscheinlich überlistet‹, dachte ich. ›Magda ist ja so harmlos, die hat keine Ahnung, was für ein Mann du bist!‹ Aber die Welle verebbte wieder.
Er sagte: »Ich habe im Ganzen keinen ungünstigen Eindruck nach diesem Bericht Ihrer Frau. Ich halte es wirklich für möglich, dass wir es mit Ihnen noch schaffen, Sommer. Sie haben eine sehr tapfere und tüchtige Frau …«
Wieder ein Gefühl der Abwehr in mir: Es wäre mir lieber gewesen, wenn der Medizinalrat nicht gerade das Wort »tüchtig« im Zusammenhang mit Magda gebraucht hätte.
»Ja, Sommer, ich kann heute natürlich noch nichts Endgültiges sagen, ich möchte Sie hier noch ein paar Wochen weiter beobachten. Aber wenn Sie sich weiter ruhig und fleißig verhalten und wenn nichts Besonderes vorkommt …«
»Es wird nichts Besonderes vorkommen, Herr Medizinalrat!«, rief ich erregt aus. »Ich will hier weiter ganz still und fleißig leben …«
Der Arzt lächelte wieder, selbst in dieser Minute, da er sehr gütig zu mir war, mochte ich dieses überlegene Lächeln nicht. »Nun«, meinte er, »hier halten wir Ihnen ja auch alle Versuchungen fern, Sommer! Hier sich zu bewähren, bedeutet nicht viel. Sie müssen sicher sein, dass Sie auch draußen allen Versuchungen widerstehen können, besonders dem Alkohol …«
»Ich werde nie wieder Alkohol trinken«, versicherte ich. »Das habe ich mir schon lange vorgenommen. Nicht einmal ein Glas Bier. Ich werde ganz abstinent leben, das kann ich Ihnen fest versprechen, Herr Medizinalrat.«
»Ach, Sommer«, sagte der trübe, »versprechen Sie mir besser nichts! Was, glauben Sie, bekomme ich für Versprechungen zu hören, wenn die Leute aus diesem Bau heraus wollen?! Und ein Vierteljahr draußen, vier Wochen erst draußen, sind die Versprechungen vergessen, und der eine stiehlt wieder, und der andere trinkt. Nein, auf Versprechungen gebe ich nichts – da bin ich schon zu oft hereingefallen.«
»Aber ich habe mich wirklich geändert«, sagte ich und konnte zum ersten Mal frei mit dem Arzt sprechen. »Ich habe doch früher nie geglaubt, dass mir das passieren könnte. Ich habe geglaubt, ich könnte mir fast alles erlauben, und Magda hat mich auch verwöhnt. Aber nun habe ich gesehen, was aus meiner Trinkerei geworden ist, und das wird mir für ewige Zeiten eine Lehre sein. Wenn ich in der Versuchung an die Wochen und Monate in diesem Hause zurückdenke …« Ich schauderte.
Der Medizinalrat sah mich aufmerksam an. »Das war einmal ehrlich gesprochen, Sommer«, sagte er dann. »Wenn dieses Erlebnis einen solchen Schock in Ihnen hervorgebracht hat, dass er Sie ganz vom Alkohol abgebracht hat, dann könnte man es wohl wirklich wagen. Aber Sie müssen nun auch sehen, innerlich Ihr Verhältnis zu Ihrer Frau in Ordnung zu bringen. Sie sind ein sehr leicht gekränkter Mensch, Herr Sommer, aber ich muss Ihnen doch einmal ganz offen sagen, dass Ihre Frau in Ihrer Ehe die Führende und Überlegene ist. Sie ist Ihr guter Geist gewesen; als Sie von Ihrer Frau abfielen, fielen Sie selbst. Gewöhnen Sie sich doch an den Gedanken, dass Ihre Frau nur das Beste von Ihnen will, ordnen Sie sich ihr ein bisschen unter … Das hat gar nichts Verächtliches an sich, deswegen sind Sie noch lange kein Pantoffelheld. Es ist nur gut, wenn sich der Schwächere vom Stärkeren beschirmen und führen lässt …«
So redete der Medizinalrat noch lange auf mich ein. Es war mir nicht ganz leicht, ihm ohne allen Widerspruch zuzuhören. Denn ganz so, wie er es schilderte, war es ja doch nicht. Gewiss war Magda tüchtig, aber ich hatte doch, seit wir das Haus besaßen, das Geschäft ganz gut alleine, ohne sie führen können. Gewiss war es in der letzten Zeit nicht mehr so gut wie früher gegangen, aber das hatte an anderem gelegen, an ein paar unglücklichen Zufällen, nicht an meiner Leitung. Aber immerhin, wenn ich dadurch aus diesem verfluchten Hause kam, wollte ich mich auch dareinfinden. Mochte Magda also die Führende sein, ich wollte ihr schon keine Schwierigkeiten machen. So schwieg ich, und es söhnte mich mit meiner neuen Stellung zu Magda ja auch der Gedanke aus, dass sie so gut zum Arzt von mir geredet hatte. Sie liebte mich eben doch!
»Also«, schloss schließlich der Arzt, »ich habe Ihnen noch nichts Festes versprochen, das kann ich ja auch gar nicht. Ich werde in – sagen wir – drei oder vier Wochen mein Gutachten erstatten, dann wird das Gericht den Termin ansetzen, Sie werden eine kleine Strafe erhalten, vielleicht vier Wochen, vielleicht nur vierzehn Tage …«
»So wenig?«, rief ich erstaunt aus.
»Nun, darüber fragen Sie lieber einen Juristen, ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, ich bin nur Arzt. Und wenn Sie dann in der Freiheit sind …«
»Werde ich immer an dieses Haus denken, Herr Medizinalrat, das verspreche ich Ihnen!«, schloss ich.
Dieser Besuch veränderte auf einen Schlag mein Fühlen, mein Denken, mein ganzes Leben. Plötzlich sah ich diese jüngst vergangene Zeit mit ganz anderen Augen an: Nicht in einer fast behaglichen Wunschlosigkeit und Selbstgenügsamkeit hatte ich gelebt, sondern in einer Lähmung meines Willens, in einer fast völligen Hoffnungslosigkeit, in Apathie. Jetzt erst begriff ich, wie gering meine Hoffnung gewesen war, diesem grauenhaften Hause zu entrinnen, wie ich fast schon mit dem Leben abgeschlossen hatte. Holzens Freude an den kleinen Dingen dieser Erde schien mir nun billig und dumm, und ich elendete abends den Geduldigen mit langen Tiraden über all das, was ich nach meiner Entlassung tun würde. Denn ich hatte die Absicht, sehr tätig zu sein.
Wohl hatte mich der Arzt wegen seiner Offenheit um Entschuldigung gebeten, aber die Bemerkung von der überlegenen Tüchtigkeit Magdas konnte ich ihm nicht verzeihen. Je länger ich darüber nachdachte, um so falscher schien sie mir. Wenn ich erst wieder draußen war, würde ich ihm und Magda und aller Welt beweisen, wie tüchtig ich erst sein konnte. Und ich plagte den guten Holz mit langen Schilderungen über die Möglichkeiten des Landesproduktenhandels, Möglichkeiten, die ich natürlich alle blitzschnell erfassen und ausnutzen würde.
Umsonst warnte mich der durch langes Dulden Erfahrene. »Sommer, du bist noch nicht draußen! Mach nicht zu viel Pläne! Wer weiß, was nicht noch alles passieren kann!?«
Ich rief: »Was soll denn noch passieren? Von mir hängt jetzt alles ab, und meiner selbst bin ich sicher.«
Auch in meinem Arbeiten an den Bürsten hatte ich mich sehr geändert. Nicht, dass ich schlechter gearbeitet hätte, das konnten meine Hände schon nicht mehr, sie konnten schon den leitenden Verstand entbehren, und meine Ablieferung wurde auch kaum geringer. Aber ich arbeitete ganz stoßweise.
Einen halben Tag stand ich am Zellenfenster, sah stundenlang die rasch ziehenden Wolken am Himmel an, freute mich an Wiese, Vieh und Wald und sah lächelnd den auf ihren Rädern vorüberflitzenden Mädels nach. Bald würde ich wieder zu alledem gehören, ein Teil der Welt sein, nicht mehr herausgelöst aus ihr und bei lebendigem Leibe schon tot!
Dann wieder dachte ich an die Worte des Medizinalrates und stürzte mich mit Feuereifer in die Bürstenmacherei. Die Arbeit flog mir nur so durch die Hände. Jeder Griff saß, in zwei Stunden war die feinste Nagelbürste fertig. Manchmal dachte ich dabei mit Sehnsucht an Magda und empfand den lebhaften Wunsch, sie möchte mir bei meiner Arbeit einmal zusehen. Auch ich konnte tüchtig sein, ungewöhnlich tüchtig!
Selbst das Verhältnis zu meinen Arbeitskameraden war seit dieser Unterredung wesentlich verändert. War ich ihnen bisher still aus dem Wege gegangen, hatte mich nie in ihre Streitereien gemischt und jedem seine Art gelassen, sie mochte noch so abstoßend sein, so befähigte mich meine jetzige gute Laune, lebhaft in die Unterhaltung einzugreifen und auch einmal einem unangenehmen Menschen zuzurufen: »Thiede, leck doch nicht den Tisch mit der Zunge ab! Ist Sauce verkleckert, so nimm deinen Löffel!«
Ich kann nicht behaupten, dass meine Leidensgenossen diese Veränderung meines Wesens ins Lebhafte günstig aufnahmen. Meine witzigen Bemerkungen wurden meist mit tiefem, ablehnendem Stillschweigen aufgenommen, und meine Ermahnungen zu guter Sitte lenkten wüste Beschimpfungen auf mein Haupt. Das focht mich aber in meiner guten Stimmung fast gar nicht an. Ich dachte nur bei mir: ›Ihr armen Irren! In ein paar Wochen werde ich draußen sein, während ihr euer ganzes Leben in diesen Mauern hinbringen werdet. Was geht mich da euer Schimpfen an?! Ihr existiert einfach nicht für mich!‹
Die Veränderung meiner Denkart zeigte sich aber nicht nur in meinem Benehmen innerhalb der Heilanstalt, sie sollte auch nach außen wirken. Nachdem ich ein paar Nächte mit mir gerungen, auch den Fall gründlich mit Holz besprochen hatte, der mir entschieden abriet, ließ ich den alten Justizrat Holsten kommen, einen schon etwas altmodisch gewordenen Herrn, der aber bei den angesehenen Bürgern der Stadt größtes Ansehen genoss und der auch meiner Firma bei gelegentlich auftauchenden Rechtsfragen mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte.
Ich setzte mit ihm eine Generalvollmacht für Magda auf und verfasste ein Testament, in dem ich Magda zu meiner Alleinerbin einsetzte. Ich beauftragte den alten Herrn, die Vollmacht schon am nächsten Tage in die Hände meiner Frau, das Testament aber an Gerichtsstelle zu hinterlegen. Dies war mein Dank an Magda für die schöne Art, in der sie über mich mit dem Medizinalrat geredet hatte, ich freute mich, dass ich ihr so wirkungsvoll danken konnte.
Holz freilich, der in dieser Zeit gar nicht mit mir gehen wollte, stöhnte: »Wenn du das nur nicht eines Tages bereust, Sommer! Man soll sich nie einem Menschen ganz in die Hände geben, das verbietet doch die einfachste Vorsicht. Und wozu auch? Es hat keiner von dir verlangt, warum tust du es also.«
»Ich bin immer ein großzügiger Mensch gewesen, Holz«, antwortete ich ihm. »Ich habe immer eine Leidenschaft für Schenken gehabt.«
Ich muss übrigens noch bemerken, dass der Justizrat ganz und gar nicht damit zufrieden war, diese beiden Urkunden für mich abzufassen und mit seinem Notariatssiegel zu versehen. Nicht, als ob er mit ihrem Inhalt nicht einverstanden gewesen wäre, im Gegenteil. »Es ist immer gut, wenn man sein Haus bestellt, Herr Sommer«, sagte er. »Und Ihre Frau ist natürlich die Nächste. Sie sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Haben Sie schon einen Verteidiger für Ihren Termin gewählt, oder wünschen Sie, dass ich Ihre Verteidigung übernehme?«
»Danke, danke!«, sagte ich leichthin. »Ich beabsichtige, mich selbst zu verteidigen. Im Übrigen ist die ganze Geschichte nur eine Kleinigkeit, die meine lieben Mitbürger viel zu sehr aufgebauscht haben.«
Der Justizrat war entsetzt über meine »Leichtfertigkeit«, wie er es nannte. »Es ist nie eine Kleinigkeit«, rief der alte Mann fast empört, »wenn ein angesehener Bürger ins Gefängnis gehen muss, nicht nur seinetwegen, sondern vor allem auch um des bösen Beispiels willen! Lassen Sie mich Ihre Verteidigung übernehmen, Herr Sommer, vielleicht, beinahe sicher kann ich Bewährungsfrist für Sie erwirken. Dann vermeiden Sie wenigstens die entehrende Gefängnishaft.«
»Meine Ehre liegt allein bei mir«, sagte ich stolz. »Die können mir andere nicht nehmen.«
Der alte Mann schüttelte mit einem trüben Lächeln verneinend den Kopf.
»Im Übrigen handelt es sich um ein im Affekt begangenes Vergehen, und die Folgen eines solchen Vergehens können nie entehrend sein.«
Wieder schüttelte der alte Mann traurig den Kopf. »Das ist eine Sprache«, sagte er, »die ich in solchen Mauern häufig genug gehört habe, aus Ihrem Munde hätte ich sie lieber nicht gehört. Wie steht es denn mit dem Gutachten des Kreisphysikus? Wissen Sie etwas davon?«
Ich versicherte, dass alles äußerst günstig stehe und dass der Medizinalrat meine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt nicht für notwendig halte.
»Ich will es hoffen, hoffen will ich es von Herzen«, rief der Justizrat Holsten. »Nun, Herr Sommer, jetzt muss ich mich verabschieden. Und wenn Sie mich gegen Ihr jetziges Erwarten doch brauchen sollten, Sie können mich jederzeit rufen. Ich scheue trotz meiner Jahre den weiten Weg aus der Stadt in diese Anstalt nicht, wenn ich Ihnen nur helfen kann.«
Ich dankte ihm fast gerührt, war aber überzeugt, dass ich seinen Rat nie brauchen würde und dass ich mich in einem wirklichen Notfalle unbedingt an einen jüngeren und geschickteren Anwalt als an ihn wenden würde.
So vergingen mir die nächsten Wochen in verhältnismäßigem Frieden und Behagen, einem anderen Frieden, als ich vor dieser Unterredung mit dem Arzt empfunden hatte, einem aktiveren, mit Plänen und Hoffnungen ausgefüllten Frieden. Ich schlief wieder schlechter, aber das konnte meine gute Stimmung nicht mehr beeinträchtigen: Ich war nur noch zu Gast in diesem Totenhaus.
Ich erwartete täglich die Anklageschrift und die Ansetzung des Termins, und wenn sie doch wieder nicht gekommen waren, so hoffte ich auf den nächsten Tag. Das Hoffen im Menschen ist wohl unverwüstbar, ich glaube, was als Letztes im Hirn eines Sterbenden vergeht, ist eine Hoffnung. Der Arzt ließ mich nicht mehr zu sich kommen, ich sah ihn nach dieser Unterredung nicht mehr, ein Zeichen, dass er sein Gutachten abgeschlossen und der Staatsanwaltschaft eingereicht hatte.
Umsonst versuchten meine Kameraden, mich ängstlich zu machen. »Trau du dem falschen Hund! Ins Gesicht sagt er es dir so, und auf dem Papier macht er es ganz anders.«
Ich lächelte überlegen. So etwas machte der Arzt vielleicht mit ihresgleichen, mir gegenüber hatte er sich so positiv ausgesprochen, dass an einem günstigen Ergebnis überhaupt nicht zu zweifeln war. Überhaupt wurde der Mann ganz falsch beurteilt – auch ich war ihm in der ersten Zeit nicht gerecht geworden. Das lag an seinem manchmal überheblichen, höhnischen Wesen, das einen abstieß. Aber er war ein Mann von Kenntnissen und Einsicht, wo er konnte, gab er jedem eine Chance. Wo es freilich ganz unmöglich war …
Eine einzige Sache nur wirkte sich störend in dieser Zeit aus: Die Folgen der Unterernährung machten sich auch bei mir bemerkbar, ich wurde ebenfalls von einer recht störenden Furunkulose befallen. Solange die meist unter der Epidermis sitzenden »Schweinsbeulen« nur an den Armen und Beinen auftauchten, ging es noch einigermaßen, als sie aber auch im Nacken und auf dem Rücken auftauchten, litt ich doch recht unter ihnen. Namentlich, dass ich nachts nun auf dem Bauch liegen musste, eine Stellung, in der ich nie habe schlafen können, war sehr unangenehm.
Nun gehörte auch ich zu der langen Reihe derer, die jeden Morgen vor dem Arztzimmer antraten und von dem Oberpfleger gesalbt oder geschnitten und schließlich verpflastert wurden. Ich bin überzeugt, eine etwas vernünftigere Ernährung mit frischem Gemüse und Obst hätte die Ursache dieser als ganz selbstverständlich angesehenen Pest eher beseitigt als dieses ewige Herumdoktern an den Folgen. Aber daran dachte niemand. Uns wurde unser Pflaster gegeben und damit fertig! Im Ganzen konnte auch diese Plage mir freilich in meiner jetzigen hochgemuten Stimmung wenig anhaben.
›Wenn ich erst draußen bin …‹, das war der Gedanke, den ich jeden Tag hundertmal hatte. Es war auch ganz selbstverständlich, dass ich mich jetzt wieder mehr mit meinem Äußeren zu beschäftigen anfing, da ich nun in vielleicht schon kurzer Zeit entlassen werden würde. Ich fing wieder an, meine Hände, besonders meine Nägel, zu pflegen, die unter der Arbeit gelitten hatten. Ich ließ mir die Haare schneiden und wusch zwei-, dreimal wöchentlich meine Füße. Vor allem aber beschäftigte ich mich mit meinem Gesicht. Zu jener Zeit war der Verband gefallen und meine Nase längst verheilt. Ich hatte mich immer gescheut, mein Gesicht zu besehen, und das war mir leicht gemacht, da es keinen offiziellen Spiegel in der Anstalt gab und das Rasieren von Lexer mit dem »Clipper« besorgt wurde. Nun aber wurde das anders. Ich wusste, der Kalfaktor Herbst besaß einen kleinen Spiegel, den er beim Haarscheiteln ständig zurate zog. Ich borgte ihn mir jetzt manchmal von ihm aus.
Natürlich spottete er: »Wozu brauchst du denn einen Spiegel? Willst dir wohl deine Gurke betrachten? Das lass man, die ist auch ohne Ansehen schön genug!« Er hatte genau das Richtige mit seiner Vermutung getroffen, aber das brauchte er nicht zu wissen. Ich murmelte etwas von meinen Schweinsbeulen.
Als ich meine Nase zuerst im Spiegel sah, erschrak ich sehr. Sie war durch den Biss völlig deformiert, kurz vor der Nasenspitze hatte sich ein tiefer Sattel gebildet, aus dem sich die Spitze schief und mit brandroten Narben bedeckt erhob. Sie sah wirklich abscheulich aus, ich war völlig entstellt. (Dieser verdammte Polakowski! An meinem ganzen Unglück ist eigentlich dieser Polakowski schuld!)
Auch die weitere Prüfung meines Gesichtes befriedigte mich nicht, die Folgen des Hungers prägten sich bereits deutlich in ihm aus. Es war fast aschfarben, die Augen tief in die Höhlen gesunken. Ein fünf Tage alter spitzstoppliger Bart bedeckte den unteren Teil des Gesichtes. Der Spiegel verriet nur, dass ich auch in diesem Sinne in dieses Totenhaus eingereiht war: Ich sah wahrhaftig nicht besser aus als seine schlimmsten Gespenster! Nicht besser? Vielleicht schlimmer!
Und ich war einmal ein leidlich gut aussehender Mann gewesen, gewohnt, einen guten Anzug unseres besten Schneiders mit Chic zu tragen. »Was haben sie aus dir gemacht?!«, sagte ich traurig zu meinem Spiegelbild. Mit einem tiefen Seufzer gab ich den Spiegel an Herbst zurück.
»Na, nicht schön genug?«, fragte er mit gespieltem Erstaunen.
»Diese verdammten Schweinebeulen!«, schimpfte ich. »Wenn wir wenigstens anständig zu fressen kriegten! Aber die Mohrrüben heute Mittag waren wieder das reine Wasser! Dabei kann kein Mensch gesund bleiben!«
Damit hatte ich ihn bei dem unerschöpflichen Thema des Hauses: dem Fraß, und von meinem persönlichen Aussehen wurde nicht mehr gesprochen.
In der Folge borgte ich mir noch öfter den Spiegel des Kalfaktors aus, von nun an aber in seiner Abwesenheit und ohne ihn zu fragen. Ich fand schon beim dritten oder vierten Mal heraus, dass ich mein Aussehen zu ungünstig beurteilt hatte. Als ich mich erst ein paarmal im Spiegel betrachtet hatte, fand ich, dass ich eigentlich ganz erträglich aussah. Jedenfalls gewöhnte man sich rasch an diese kleine Entstellung, ich hatte mich dran gewöhnt, Magda würde sich daran gewöhnen wie meine Mitbürger, wie jedermann. Es gab Teilnehmer des Weltkrieges, die viel schlimmer entstellt waren, und doch hatten sie hübsche junge Frauen heiraten können und lebten glücklich mit ihnen. Ich war völlig davon überzeugt, dass diese zernarbte Nase meinem Glück mit Magda keinen Eintrag tun würde.