Buch lesen: «Hans Fallada – Gesammelte Werke», Seite 52

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»Rede nicht, El­sa­be«, sag­te ich prah­le­risch-wei­ner­lich. »Nie wür­de ich so et­was tun! Was ist Geld …?!«

»Leh­re du mich die Män­ner ken­nen! Wenn ihr voll und geil seid, schreit ihr: ›Was ist Geld?‹ Und am nächs­ten Mor­gen kommt ihr mit dem Gen­darmen und schreit von Nepp. Der Korn und der Sekt und mei­ne Zi­ga­ret­ten – das macht zu­sam­men …« Sie nann­te eine Sum­me.

»Wenn es nicht mehr ist!«, rief ich wie­der prah­le­risch und riss mei­ne Brief­ta­sche her­vor. »Hier hast du …!« Ich leg­te ihr das Geld hin. »Und hier …«, ich nahm einen Hun­dert­mark­schein und leg­te ihn da­ne­ben, »der ist für dich. Weil ich dich has­se und weil du mich ver­ach­test. Nimm ihn, nimm ihn schon. Ich will nichts von dir, gar nichts! Geh. Ich habe dich schon so im Blut, ich kann dich nie mehr be­sit­zen, als ich dich in mir habe. Wahr­schein­lich bist du öde und lang­wei­lig, du bist nicht von hier, na­tür­lich aus ir­gend­ei­ner Groß­stadt, wo du al­les ge­las­sen hast – das sind ja nur Res­te!«

Wir stan­den uns ge­gen­über, das Geld lag auf dem Tisch, das Licht war düs­ter. Ich schwank­te lei­se über mei­nen Fü­ßen, die fast halb ge­leer­te Korn­fla­sche hielt ich am Hal­se in mei­ner Hand.

Sie sah mich an. »Steck dein Geld ein!«, sag­te sie flüs­ternd. »Nimm dein Geld vom Tisch … Ich will dein Geld nicht … Geh …«

»Du kannst mich nicht zwin­gen, das Geld wie­der zu neh­men, ich las­se es lie­gen … Ich be­schen­ke dich, Kö­ni­gin des kla­ren Korns, El­sa­be ge­nannt, ich gehe …«

Ich ging müh­sam auf die Tür zu, der Schlüs­sel steck­te von in­nen, ich müh­te mich, ihn im Schloss zu dre­hen …

»Du«, sprach sie dicht hin­ter mir, »du …«

Ich dreh­te mich um. Ihre Stim­me war lei­se ge­we­sen, aber voll und sanft, al­les Sprö­de war aus ihr ge­wi­chen. »Du …«, wie­der­hol­te sie, und in ih­ren Au­gen war jetzt Far­be und Licht, »du – willst du?«

Jetzt war ich es, der sie nur schwei­gend an­sah.

»Zieh dei­ne Schu­he aus, sei lei­se auf der Trep­pe, die Wirts­leu­te dür­fen dich nicht hö­ren. Komm, mach schnell …«

Schwei­gend tat ich, wie sie mir ge­hei­ßen. Ich wuss­te nicht, warum ich es tat. Ich be­gehr­te sie jetzt nicht, so be­gehr­te ich sie nicht.

»Gib mir die Hand!« Sie knips­te das Licht aus und führ­te mich an der einen Hand, in der an­de­ren hielt ich noch im­mer die Korn­fla­sche.

In der Schank­stu­be war es völ­lig dun­kel, ich schlich ihr nach. Durch ein klei­nes stau­bi­ges Fens­ter fiel auf die ver­win­kel­te enge Stie­ge Licht vom Mond.

Ich schwank­te, ich war sehr müde. Ich dach­te an mein Bett da­heim, an El­sa­be vol­ler Wün­sche, an den wei­ten Weg nach Haus – es war al­les zu viel. Der ein­zi­ge Trost war die Fla­sche Korn in mei­ner Hand, sie wür­de mir Kraft spen­den. Am liebs­ten wäre ich ste­hen ge­blie­ben und hät­te schon jetzt einen Schluck aus der Fla­sche ge­nom­men, so müde war ich.

Die Stu­fen knarr­ten, die Tür zur Kam­mer ächz­te lei­se, als sie ge­öff­net wur­de. Auch in der Kam­mer war Mond­schein. Ein Bett, das zer­wühlt war, ein ei­ser­ner Wasch­stän­der, ein Stuhl, ein Klei­der­re­chen an der Wand …

»Zieh dich aus«, sag­te ich lei­se, »ich kom­me dann gleich.« Und mehr zu mir: »Gibt es hier Ster­ne?« Ich trat ans Fens­ter, das den Blick in einen Obst­gar­ten frei­gab. Ich öff­ne­te einen Flü­gel; lau wie eine zar­te Lieb­ko­sung kam die Früh­lings­luft her­ein, voll von Düf­ten und sanf­tem Wind. Un­ter dem Fens­ter lag das schrä­ge Te­er­dach ei­nes Schup­pens. »Das ist gut«, sag­te ich wie­der lei­se, »die­ses schrä­ge Dach ist sehr gut …« Ich konn­te den Mond nicht se­hen, er stand hin­ter dem Haus­dach mir zu Häup­ten. Aber sein Licht er­füll­te mit ei­nem weiß­li­chen Schein den Him­mel, nur die stärks­ten Ster­ne wa­ren zu se­hen und auch sie nur matt. Ich war un­zu­frie­den und ge­reizt.

»Komm schon«, rief sie är­ger­lich vom Bett her. »Mach ein biss­chen schnell! Denkst du, ich brauch kei­nen Schlaf?!«

Ich dreh­te mich um, ich beug­te mich über das Bett. Sie lag auf dem Rücken, bis zum Hal­se zu­ge­deckt. Ich streif­te die De­cke zu­rück und leg­te einen Au­gen­blick mein Ge­sicht ge­gen ihre nack­te Brust. Kühl und fest. Sach­te at­mend, kühl und fest. Es roch gut – nach Haar und Fleisch.

»Mach doch zu!«, flüs­ter­te sie un­ge­dul­dig. »Zieh dich aus – lass den Un­sinn! Du bist doch kein Schü­ler mehr!«

Mit ei­nem tie­fen Seuf­zer rich­te­te ich mich auf. Ich ging an das Fens­ter, nahm die Fla­sche und schwang mich hin­aus auf das Schup­pen­dach. Ich hör­te einen är­ger­li­chen zor­ni­gen Ruf hin­ter mir. Aber ich ließ mich schon hin­ab in den Gar­ten.

»Be­sof­fe­ner al­ter Trot­tel!«, rief sie oben, dann schlug das Fens­ter zu.

Ich stand zwi­schen Bü­schen, ich roch den Duft des Flie­ders. Die Früh­lings­nacht war ganz rein. Ich setz­te die Fla­sche an den Mund und trank lan­ge …

7

Ich gehe und gehe. Ich mar­schie­re und sin­ge mir ein Lied dazu, ei­nes je­ner Wan­der­lie­der, die ich frü­her bei Aus­flü­gen mit Mag­da sang. Dann hum­pe­le ich wie­der lan­ge Stre­cken auf schmer­zen­den Fü­ßen. Ich habe mir eine Zehe an ei­nem Stein ge­sto­ßen, mit mei­nen un­be­schuh­ten Fü­ßen ist es schlech­tes Wan­dern. Längst sind mei­ne St­rümp­fe zer­ris­sen. Kreu­ze ich einen Bach, klet­te­re ich die Bö­schung hin­un­ter, set­ze mich auf einen Stein und hal­te die Füße ins Was­ser, das mich zu­erst durch sei­ne Ei­ses­käl­te er­schreckt. Dann tut es gut, und, auf mei­nem Stein sit­zend, schla­fe ich ein.

Ich wa­che frie­rend, ei­sig auf, ich bin von mei­nem Sitz ge­fal­len, ich wan­de­re wei­ter. Je schnel­ler ich gehe, umso län­ger scheint der Weg zu wer­den. Die Obst­bäu­me an den Stra­ßen­rän­dern flie­gen nur so an mir vor­bei, aber ich kom­me nicht vor­wärts. Ich weiß nicht, wo ich bin, nur sehr fern von Haus. Ich weiß nicht, wie spät es ist, aber noch ist es Nacht. Zwei Hän­de breit steht der Mond noch über dem Ho­ri­zont.

Und ich wan­de­re. Ich wan­de­re durch ein schla­fen­des Dorf. Nir­gends ist mehr Licht, alle schla­fen, nur ich bin noch un­ter­wegs, ich, Er­win Som­mer, In­ha­ber ei­nes Lan­des­pro­duk­ten­ge­schäf­tes en gros. Nicht mehr, nicht mehr, das war ein­mal. Was hier wan­dert durch die mon­d­er­füll­te Nacht, was ist das noch? Es war ein­mal – lan­ge ist’s her. Ver­sun­ken, vor­bei, fast ver­ges­sen …

Ein Hund er­wacht in sei­ner Hüt­te von mei­nem Schlurf­schritt, schlägt an, fängt an zu kläf­fen, an­de­re Hun­de er­wa­chen, und nun bellt das gan­ze Dorf, und ich schlur­fe hin­durch, auf blu­ti­gen Soh­len, ein Stro­mer, und ges­tern war ich noch … O schweig stil­le …!

Und im Schat­ten des höl­zer­nen Kirch­turms blei­be ich ste­hen, wie­der ein­mal hebe ich die Fla­sche zum Mund und trin­ke. Das lullt die Fra­gen ein, das bringt die Schmer­zen zur Ruhe, das ist eine Peit­sche für die nächs­te hal­be Stun­de Weg … Aber nicht viel ist mehr in der Fla­sche, ich muss den kost­ba­ren Stoff zu­ra­te hal­ten. Den letz­ten Schluck – und er muss groß sein! – trin­ke ich auf der Schwel­le mei­nes Hau­ses, ehe ich vor Mag­da tre­te. Aber Mag­da schläft, ich wer­de ganz lei­se mich auf ein Sofa le­gen, heu­te Nacht wird es kei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mehr ge­ben. Und mor­gen?

Mor­gen ist sehr weit, bis mor­gen wer­de ich tief, tief schla­fen, ich wer­de al­les ver­ges­sen, was heu­te war, ich wer­de wie­der der Chef der Fir­ma sein, der wohl einen klei­nen Feh­ler be­gan­gen hat, aber der auch die Fä­hig­keit be­sitzt, die Schar­te wie­der aus­zu­wet­zen …

Ich habe die lee­re Fla­sche in ei­nem Ge­büsch des Gar­tens ver­bor­gen, nun stei­ge ich auf mei­nen nack­ten Fü­ßen ganz lei­se die Stu­fen zur Haus­tür em­por. Auch das lei­se Öff­nen des Schlos­ses ge­lingt mir leicht. Ich bin jetzt nicht mehr die Spur be­trun­ken, ob­gleich ich eben erst nicht nur einen, nein, so­gar zwei sehr große Schlu­cke Korn ge­nom­men habe – der Rest in der Fla­sche war grö­ßer ge­we­sen, als ich er­war­tet hat­te. Aber das ist nur gut, um so kla­rer und si­che­rer bin ich jetzt. Ich wer­de kei­nen Feh­ler be­ge­hen, nie­man­den wer­de ich we­cken.

Wie lis­tig ich bin. Es zog mich ins Ba­de­zim­mer, mir die blu­ti­gen Füße zu wa­schen, aber mein kla­rer Kopf er­in­ner­te mich, dass das Rau­schen der Häh­ne dort Mag­da we­cken wür­de, und jetzt schlei­che ich in die Kü­che. In der Kü­che darf ich mich wa­schen, ne­ben der Kü­che schläft nur die klei­ne Else, sie meint es gut mit mir. Sie hat mich ge­trös­tet, sie ist nicht tüch­tig und hart wie Mag­da.

Ich ma­che Licht, ich sehe mich in der Kü­che um. Ich wäh­le eine große Email­le­schüs­sel, und ich den­ke dar­an, im Boi­ler am Herd nach­zu­se­hen, ob dort noch et­was war­mes Was­ser ist. Das Was­ser ist wirk­lich noch lau, ich bin stolz auf mei­ne Tüch­tig­keit, ich hole Wasch­sei­fe, das Kü­chen­hand­tuch, die Ge­schirr­tü­cher und eine Bürs­te. Dann set­ze ich mich auf einen Stuhl und ste­cke die Füße ins Was­ser.

Ach, wie gut das tut, wie sanft die­ses laue Strei­cheln ist! Ich leh­ne mich zu­rück, ich schlie­ße die Au­gen – wenn ich jetzt noch et­was zu trin­ken hät­te, wür­de ich ganz glück­lich sein. Ir­gen­det­was fehlt im­mer am mensch­li­chen Glück, ganz zu­frie­den wer­den wir nie. Ich habe den Rot­wein aus­ge­trun­ken, sonst gibt es nichts zu trin­ken in die­sem Haus. Ich muss mir gleich mor­gen einen Wein­kel­ler zu­le­gen, und ein paar Fla­schen Schnaps müs­sen auch in ihm sein. Schnaps ist et­was sehr Gu­tes – wie scha­de, dass ich so vie­le Jah­re ver­säumt habe, in de­nen ich hät­te Schnaps trin­ken kön­nen – in al­ler Mä­ßig­keit na­tür­lich.

Ich leh­ne mich noch wei­ter zu­rück, ge­nie­ße das Bad, füh­le die bren­nen­den Schmer­zen nach­las­sen … und sprin­ge plötz­lich auf! Das Was­ser schwappt aus der Scha­le und über­schwemmt den Flie­sen­bo­den. Aber das ist jetzt ganz egal! Eine Er­leuch­tung ist über mich ge­kom­men! Na­tür­lich ha­ben wir noch et­was zu trin­ken im Haus! Hat denn nicht Mag­da Ma­dei­ra für man­che Sup­pen, zum Bei­spiel für die Och­sen­schwanz­sup­pe? Und be­sitzt sie nicht Rum zum Ste­ri­li­sie­ren ih­rer Ge­lees? Ich weiß das doch aus den Haus­halts­bü­chern!

Und ich lau­fe mit mei­nen nack­ten Fü­ßen in die Spei­se­kam­mer, ich su­che, ich rie­che an Fla­schen, ich rie­che Es­sig und Öl – und hier, da steht es ja: »Fine old Sher­ry«, und hier so­gar Port­wein, drei­vier­tel voll die Fla­sche, und Rum, halb voll – oh, wie schön ist das Le­ben. Rausch, Ver­ges­sen, auf dem Stro­me des Ver­ges­sens da­hin­trei­ben, in die Däm­me­rung hin­ein, tiefer in die Schwär­ze hin­ab, dort­hin, wo es we­der Ver­sa­gen noch Reue gibt … gu­ter Al­ko­hol, sei ge­grüßt, la rei­ne1 El­sa­be, an dei­ner nack­ten Brust habe ich ge­ruht, den Ruch von Haar und Fleisch ge­at­met!

Ich habe die Schüs­sel wie­der ge­füllt, ich habe die drei Fla­schen auf­ge­korkt vor mir auf­ge­baut, ich habe einen tie­fen Zug aus der Rum­fla­sche ge­tan. Zu­erst wi­der­stand er mir nach dem sanf­te­ren und rei­ne­ren Ge­schmack des Korns, die­ser Rum schmeck­te schär­fer, bren­nen­der, er ist zu­sam­men­ge­setz­ter, aber auch feu­ri­ger. Wie dun­kel­ro­te Wol­ken füh­le ich ihn in mei­nem Blu­te trei­ben, er be­schwingt mei­ne Fan­ta­sie, er macht mich noch wa­cher, acht­sa­mer, lis­ti­ger …

Ich weiß, ich muss die Kü­che gut auf­räu­men, auf­wi­schen muss ich die Über­schwem­mung auf dem Flie­sen­bo­den, die Fla­schen gut ver­korkt wie­der weg­set­zen. Nie­mand darf et­was mer­ken, auch Else nicht. Die gute Else, sie schläft fest, sie ist noch jung, sie hat den Schlaf der Ju­gend, aber ich, ihr Bro­therr, ich sit­ze hier in der Kü­che und be­wa­che ih­ren Schlaf. Wenn jetzt ein Ein­bre­cher käme …

Aber wo habe ich bloß die Kor­ken ge­las­sen? Ich sehe sie nir­gends, ich habe sie auch nicht in den Ta­schen – ob sie wohl in der Spei­se­kam­mer lie­gen? Ich müss­te dort nach­se­hen, ich muss die Fla­schen gut ver­korkt fort­set­zen, aber das Was­ser ist so lin­de an den Fü­ßen, und jetzt wer­de ich müde. So möch­te ich schla­fen, noch einen Schluck, dann wer­de ich so schla­fen, nur einen kur­z­en Au­gen­blick, und ich wer­de al­les hier ord­nen, ta­del­los wer­de ich al­les in Ord­nung brin­gen, und auch die Kor­ken wer­de ich fin­den …

Wer kommt? Wer stört mich schon wie­der? Ach, es ist nur Mag­da, die tüch­ti­ge Mag­da, mit­ten in der Nacht, nein, mehr dem Mor­gen zu, steht sie da ge­wis­ser­ma­ßen ge­stie­felt und ge­spornt, je­den­falls völ­lig an­ge­zo­gen in der Kü­chen­tür und sieht stumm mit ei­nem sehr blas­sen, er­schro­cke­nen Ge­sicht auf mich!

Ich rich­te mich halb auf, ma­che eine be­grü­ßen­de Ges­te mit dem Arm, ni­cke ihr zu und sage fröh­lich: »Da bin ich wie­der, Mag­da! Ich habe einen Aus­flug ge­macht, eine klei­ne Land­par­tie in das Früh­lings­grün hin­aus. Hast du in die­sem Jahr über­haupt schon die Ler­chen sin­gen hö­ren? Mor­gen wer­den wir ge­mein­sam ge­hen. Du sollst die Bir­ken se­hen, wie sanft grün sie sind, und du sollst die Kö­ni­gin des Schnap­ses ken­nen­ler­nen, la rei­ne d’al­cool, ich habe sie El­sa­be ge­tauft …

Du bist so tüch­tig, Mag­da, ich sah dich im Ge­schäft mit Hinz­pe­ter über den Bü­chern. Du hast Bilanz ge­macht, du hast Klar­heit ge­won­nen, ich habe mich im­mer vor die­ser Klar­heit ge­fürch­tet! Die­sen Schluck dir, mei­ne Mag­da, und noch einen und noch einen! Ich weiß, es ist dein Rum, aber ich wer­de ihn dir er­set­zen, ich wer­de dir al­les er­set­zen; wir ha­ben noch Geld, ich kann das Ge­schäft ver­kau­fen. Es ge­hört mir, ich bin der Chef, ich kann tun, was ich will! Oder sagst du et­was da­ge­gen?«

Sie sag­te nichts. Sie sah stumm auf mich, dann auf mei­ne blu­ti­gen Füße. Sie war sehr bleich. Aus ih­ren Au­gen lös­ten sich zwei Trä­nen, sie ran­nen lang­sam über ihre blas­sen Wan­gen, sie wisch­te sie nicht fort, ich ver­folg­te ge­spannt ih­ren Weg mit den Au­gen, bis sie auf das Kleid tropf­ten. Die­se Trä­nen rühr­ten mich nicht, im Ge­gen­teil, es tat mir nur gut, dass sie wein­te, es war ein sü­ßes Ge­fühl in mir, dass sie noch Schmerz emp­fin­den konn­te mei­net­we­gen. Ich trank wie­der.

»Du bist so mit­leids­los tüch­tig, ja, ich habe die Lie­fe­rung für das Ge­fäng­nis nicht be­kom­men, aber du wirst das schon wie­der aus­glei­chen. Ich habe im­mer in dei­nem Schat­ten ge­lebt, du hast mich dei­ne Über­le­gen­heit nie füh­len las­sen, aber ich kam nie hoch, und nun bin ich un­ten an­ge­langt. Auch un­ten lässt es sich le­ben, ich habe ein selt­sa­mes Mäd­chen ken­nen­ge­lernt, auch sie ist ganz un­ten, aber auch sie emp­fin­det Schmerz und Freu­de. Auch un­ten emp­fin­det man Lust und Leid, Mag­da, es ist ge­nau wie oben, es ist gleich, ob man oben oder un­ten lebt. Es ist viel­leicht das Schöns­te, sich fal­len zu las­sen, mit ge­schlos­se­nen Au­gen ins Nichts zu stür­zen, im­mer tiefer in das Nichts. Man kann un­end­lich fal­len, Mag­da, ich bin noch nicht un­ten an­ge­langt, ich bin noch nicht auf­ge­prallt, alle mei­ne Glie­der sind noch heil …«

»Er­win«, sag­te sie bit­tend, »Er­win, rede nicht mehr. Höre auf zu trin­ken. Du bist krank, Er­win. Komm, lege dich ins Bett, ich will dei­ne Füße ver­bin­den. Dei­ne Füße se­hen schreck­lich aus, ich will dei­ne Füße ver­bin­den …«

»Siehst du«, rief ich und trank noch ein­mal, »du gönnst mir nicht ein­mal die paar Schlu­cke. Ge­wiss, es sind dei­ne Fla­schen, aber ich be­zah­le sie dir. Ich be­zah­le sie dir bar oder gebe sie dir in na­tu­ra wie­der, das ist ein glat­tes Ge­schäft, da­ge­gen kannst du nichts sa­gen. Du fragst mich nach mei­nen Fü­ßen? Ich habe eine Land­par­tie ge­macht, wenn die tüch­ti­ge Che­fin ar­bei­tet, kann der Chef sich wohl ein­mal eine Auss­pan­nung gön­nen! Ich bin bar­fuß ge­gan­gen, Bar­fuß­ge­hen soll ge­sund sein …«

Sie ließ mich wei­ter­re­den. Sie hat­te schnell die Kü­che ver­las­sen und kam mit dem großen Ba­de­schwamm, ei­ner Sal­ben­do­se und Bin­den wie­der. Sie knie­te ne­ben mir, und wäh­rend ich im­mer ab­ge­ris­se­ner und lal­len­der über ihr fort­re­de­te, wusch sie mei­ne Füße, wusch den Stra­ßen­schmutz aus den Wun­den, trock­ne­te sie ge­lin­de ab, salb­te sie und wi­ckel­te sie ein.

»Gut, gut«, sag­te ich und trank, »du bist wirk­lich gut, Mag­da; wenn du nur nicht so ver­dammt tüch­tig wärst!«

1 die Kö­ni­gin <<<

8

Ich er­wa­che. Ich lie­ge in mei­nem Bett, die Fens­ter ste­hen of­fen, die Vor­hän­ge be­we­gen sich lei­se im Wind, drau­ßen scheint die Son­ne. Es muss schon spät sein, das Bett ne­ben mir ist be­reits ge­macht, das Schlaf­zim­mer ist leer, ich bin al­lein dar­in. Mir ist sehr schlecht, mein Ma­gen hat ein tro­ckenes Bren­nen, nur lang­sam ent­schließt sich mein Kopf, zu den­ken. Nur lang­sam kom­men mir die Erin­ne­run­gen an die ver­gan­ge­ne Nacht zu­rück, dann füh­le ich die Schmer­zen in den Fü­ßen.

Ich strei­fe die De­cke zu­rück und sehe die Ver­bän­de. Und mit ei­nem Schla­ge steht al­les wie­der vor mir: das Lau­ern vor mei­nem ei­ge­nen Ge­schäft nach den Schat­ten auf der Glas­schei­be, die ge­mei­ne Trin­ke­rei in der Schank­stu­be, die scham­lo­se Sze­ne in der Kam­mer des ge­mei­nen Mäd­chens, mein schuh­lo­ser be­trun­ke­ner Heim­weg und, als Schlimms­tes von al­lem, die Sze­ne in der Kü­che mit Mag­da! Wie ich mich be­schmutzt habe, ach, wie ich mich be­schmutzt habe.

Eine bren­nen­de Reue über­fällt mich. Scham, pei­ni­gen­de, schmer­zen­de Scham, ich ver­ber­ge mein Ge­sicht mit den Hän­den, ich pres­se die Au­gen fest zu … Ich will nichts mehr se­hen, ich will nichts mehr hö­ren, nichts mehr den­ken! Ich stöh­ne, ich bei­ße die Kie­fer zu­sam­men, ich knir­sche mit den Zäh­nen. Ich stöh­ne: »Es kann nicht wahr sein! Es ist nicht wahr! Das bin ich nicht ge­we­sen! Ich habe al­les nur ge­träumt! Ich muss al­les ver­ges­sen, auf der Stel­le muss ich al­les ver­ges­sen! Es darf nichts wahr sein!«

Das schüt­telt mich wie ein Krampf, und dann kom­men die Trä­nen, Trä­nen über all das, was ich so mut­wil­lig ver­lor. End­lo­se, bit­te­re, ban­ge, schließ­lich doch lö­sen­de Trä­nen.

Und als ich mich aus­ge­weint habe, ist im­mer noch die Son­ne vor mei­nen Fens­tern, we­hen die fri­schen duf­ti­gen Vor­hän­ge im leich­ten Win­de. Im­mer noch ist das Le­ben da, jung und lä­chelnd, du kannst es in je­der Stun­de noch ein­mal be­gin­nen, es kommt nur auf dich an.

Ne­ben mei­nem Bett steht ein Tisch­chen mit ei­nem Früh­stück­sta­blett, der Kaf­fee ist sorg­sam mit ei­ner Hau­be ver­deckt, und nun be­gin­ne ich, zu früh­stücken. Die ers­ten Bis­sen der Sem­mel kaue ich noch zäh und trä­ge im Mun­de, aber der Kaf­fee ist ex­tra stark zu­be­rei­tet; all­mäh­lich kommt der Ap­pe­tit wie­der, und ich ge­nie­ße mit dank­ba­rer Freu­de all das, was mir Mag­das Sorg­sam­keit an Ex­tra­bis­sen auf das Ta­blett ge­stellt hat: schar­fe An­cho­vis, eine schö­ne fet­te Le­ber­wurst und wun­der­ba­ren Che­s­ter­kä­se.

Sel­ten habe ich mit sol­chem Ge­nuss ge­ges­sen, ich füh­le mich wie ein Ge­ne­sen­der. Dank­bar be­grü­ße ich die säu­ber­li­chen Din­ge der be­kann­ten Um­welt, grü­ße sie wie alte ver­trau­te Freun­de, die man lan­ge ent­behrt hat­te.

Nun fin­de ich auch auf dem Nacht­tisch einen Zet­tel von Mag­da. Sie teilt mir mit, dass sie nur auf we­ni­ge Stun­den ins Ge­schäft ge­gan­gen sei, sie bit­tet mich, bis zu ih­rer Rück­kunft im Bett oder doch im Hau­se zu blei­ben; das Bad sei für mich ge­heizt.

Eine hal­be Stun­de spä­ter ver­las­se ich das Haus. Zwar macht mir das Ge­hen mit mei­nen wun­den Fü­ßen arge Schmer­zen, aber ich bin nicht ge­son­nen, wei­ter ta­ten­los zu ver­har­ren. Ich habe mich ge­säu­bert von oben bis un­ten, ich zog fri­sche Wä­sche an, mei­nen bes­ten An­zug – und nun will ich mei­nen al­ten Platz in der Welt wie­der ein­neh­men. Wenn ich auch nicht so tat­kräf­tig wie Mag­da bin, möch­te ich doch wie­der die Brem­se am ei­lig vor­ge­trie­be­nen Wa­gen sein: die Fahrt re­gelnd und si­chernd!

Ich zö­ge­re nicht, ich schie­le nicht von Tor­we­gen her nach Schat­ten; ich tre­te ohne Wei­te­res ein. Ich grü­ße die An­ge­stell­ten in mei­nen bei­den vor­de­ren Bü­ros freund­lich und tre­te in mein Chef­bü­ro ein. Mag­da springt von mei­nem Schreib­tisch­ses­sel auf; frü­her hat sie dort nie ge­ses­sen, auch wenn ich nicht an­we­send war; sie hat­te einen Platz an ei­nem Ne­ben­tisch. Ein we­nig schmerzt es mich, dass sie mich so ganz schon von der Lis­te der Mit­tä­ti­gen aus­ge­stri­chen hat; sie wird auch sehr rot.

»Er­win, du?«, ruft sie. »Ich dach­te …« Und sie schaut erst mich, dann Herrn Hinz­pe­ter an.

»Gu­ten Mor­gen, gu­ten Mor­gen, Herr Hinz­pe­ter«, sage ich freund­lich und las­se mir nichts an­mer­ken. »Ja, du dach­test … Aber ich fand, dass es mir heu­te früh doch schon recht er­träg­lich ging, bis auf die Füße … die Füße na­tür­lich … Aber las­sen wir das. Nun er­zäh­le mir, was ihr fest­ge­stellt und was ihr viel­leicht so­gar schon be­schlos­sen habt. Wer­den wir den Ver­lust der Ge­fäng­nis­lie­fe­run­gen ver­schmer­zen kön­nen?«

Ich hat­te mich in den Ses­sel an mei­nen Schreib­tisch ge­setzt. Ich sah sie freund­lich an, ganz der Chef, der be­reit war, die Vor­schlä­ge sei­ner An­ge­stell­ten wohl­wol­lend an­zu­hö­ren, ehe er sei­ne Ent­schei­dung traf. Ich hat­te – kaum eine Stun­de war es her – in ei­nem Krampf ge­schri­en, dass ich ver­ges­sen woll­te, dass ich ver­ges­sen muss­te … Und nun saß ich hier, ich, ich konn­te nicht ver­ges­sen, schon Mag­das Bläs­se, schon mei­ne in den en­gen Schu­hen schmer­zen­den Füße er­in­ner­ten mich stets, aber sie mach­te ich ver­ges­sen. Kei­ne fünf Mi­nu­ten, und es muss­te Mag­da wie ein bö­ser Traum vor­kom­men, dass sie mich vor noch nicht zwölf Stun­den am Kü­chen­tisch hat­te sit­zen se­hen, drei Fla­schen vor mir, die ver­schmutz­ten Füße in ei­ner Schüs­sel, der Flie­sen­bo­den über­schwemmt – nichts wie ein bö­ser Traum! Ver­ges­sen! Ver­ges­sen!! (Auch dies, es war mir klar, war Scham­lo­sig­keit; wort­los ging ich über das Ge­sche­he­ne fort, wisch­te es aus, dul­de­te kei­ne An­spie­lung, kei­nen nach­denk­lich for­schen­den Blick … Scham­los auch das!)

Im Üb­ri­gen zeig­te es sich, dass ich nicht um­sonst auf Mag­das Tat­kraft ge­rech­net hat­te. Schon am frü­hen Mor­gen hat­te sie be­reits einen Be­such bei ih­rem Freund, dem Obe­rin­spek­tor, ge­macht, um fest­zu­stel­len, ob nicht viel­leicht doch noch et­was zu ret­ten war. Und sie­he, die­ser bra­ve Mann hat­te ihr wirk­lich einen Tipp ge­ge­ben, einen sehr wert­vol­len Tipp.

Ein Teil der Ge­fan­ge­nen wur­de im An­fang der Straf­zeit in Ein­zel­zel­len mit Wer­g­zup­fen be­schäf­tigt. Al­tes, ver­brauch­tes oder zer­ris­se­nes Tau­werk wur­de wie­der in sei­ne Grund­be­stand­tei­le zer­legt, zer­rupft. Aus dem ge­won­ne­nen Werg konn­ten wie­der neue Sei­le ge­macht wer­den. Der Be­darf an sol­chem Tau­werk war im­mer recht groß, und ge­ra­de im Au­gen­blick wa­ren die Vor­rä­te der Ge­fäng­nis­ver­wal­tung dar­in ziem­lich am Ende. Der Obe­rin­spek­tor hat­te Mag­da vor­ge­schla­gen, nach Ham­burg zu fah­ren und dort al­tes Seil­werk auf­zu­kau­fen, zwei oder auch drei Wag­g­ons. Sei­nen An­ga­ben nach war da­bei ein recht gu­tes Ge­schäft zu ma­chen, wenn man nur die rech­ten Quel­len kann­te, und er hat­te es so­gar nicht an Hin­wei­sen auf die­se gu­ten Quel­len feh­len las­sen.

Wie ge­sagt, ich hör­te mir das al­les wohl­wol­lend an. Es war na­tür­lich nur ein klei­nes Ge­le­gen­heits­ge­schäft, das auch bei güns­tigs­tem Ein­kauf nicht an­nä­hernd eine drei­jäh­ri­ge Le­bens­mit­tel­lie­fe­rung für an­nä­hernd fünf­zehn­hun­dert Men­schen er­set­zen konn­te, aber es war mit­zu­neh­men, wenn es ei­gent­lich auch nicht in den Rah­men mei­nes Ge­schäf­tes pass­te.

»Und wer, dach­test du, soll fah­ren, Mag­da?«, frag­te ich. »Du selbst etwa …?«

»Nein, so gern ich möch­te«, ant­wor­te­te sie zö­gernd. »Ich glau­be, ich kann im Au­gen­blick schlecht fort. Gera­de jetzt …« Sie brach ab und sah mich et­was hilf­los und doch mit Be­deu­tung an.

Dies war ei­ner je­ner Bli­cke, die ich un­ter kei­nen Um­stän­den dul­den woll­te.

»Du hast ganz recht, Mag­da«, ant­wor­te­te ich dar­um, »du bist hier im Au­gen­blick wirk­lich schlecht ab­kömm­lich. Und dann ist da dein Haus­halt. Else ist doch noch sehr jung …« (Gute, trös­ten­de Else …!) »Es ist schon das Bes­te, ich fah­re selbst. Ich füh­le mich wie­der ganz frisch, und mit mei­nen Fü­ßen, das wer­de ich mir schon so ein­rich­ten … Ich kann ja Ta­xen neh­men …«

Has­tig un­ter­brach mich Mag­da: »Du kannst kei­nes­falls fah­ren, Er­win. Du weißt, du bist noch nicht ganz in Ord­nung.« Sie sah mich fest an, nicht böse, son­dern eher trau­rig-lie­be­voll, aber un­aus­weich­lich und fest. Dies­mal senk­te ich den Blick. »Nein«, fuhr sie fort, »das Bes­te ist, wir schi­cken Herrn Hinz­pe­ter. Er könn­te heu­te Abend noch fah­ren und wäre dann viel­leicht schon über­mor­gen früh …«

»Ei­nen Au­gen­blick bit­te, Mag­da«, un­ter­brach ich sie. »Bes­ten Dank, Herr Hinz­pe­ter, ich rufe Sie dann gleich wie­der …« Ich war­te­te, bis sich die Tür hin­ter dem Buch­hal­ter ge­schlos­sen hat­te. Dann sah ich Mag­da fest an. »Mag­da«, sag­te ich, »wir wol­len das Ver­gan­ge­ne ru­hen las­sen, wir wol­len nie mehr da­von spre­chen. Es soll für im­mer ver­ges­sen sein.«

Sie mach­te eine Be­we­gung, als woll­te sie re­den, die­ser viel­leicht et­was zu ein­fa­chen Lö­sung wi­der­spre­chen.

»Nein, nein, Mag­da«, sag­te ich dar­um ei­lig, »lass mich erst aus­re­den. – Ich bit­te dich herz­lich, lass du mich nach Ham­burg fah­ren, es liegt mir sehr viel dar­an, und mit den Fü­ßen, das rich­te ich schon …«

Wie­der mach­te sie eine hef­ti­ge Be­we­gung, als sei­en mei­ne Füße im Mo­ment ganz be­lang­los.

Die­se In­ter­es­se­lo­sig­keit an mei­nem Wohl­er­ge­hen kränk­te mich sehr, aber ohne mir et­was an­mer­ken zu las­sen, fuhr ich fort: »Es wird für mei­ne Stim­mung sehr gut sein, wenn ich für ein oder zwei Tage hier her­aus­kom­me.« Lei­ser setz­te ich hin­zu: »Die­ser Mis­ser­folg mit den Le­bens­mit­tel­lie­fe­run­gen hat mich doch recht mit­ge­nom­men, ich kom­me mir doch sehr bla­miert vor.«

Sie sah mich sehr fest an. »Er­win«, sag­te sie, »du hast selbst ge­sagt, wir wol­len das Ver­gan­ge­ne ru­hen las­sen, und ich will da­mit ein­ver­stan­den sein, ob­wohl …« Sie brach ab. »Aber nun fan­ge nicht du selbst wie­der da­von an. – Was aber dei­ne Rei­se nach Ham­burg an­geht, so bin ich fest da­von über­zeugt, dass sie dir jetzt nicht gut ist. Nicht Ablen­kung brauchst du, son­dern Ruhe und Kon­zen­tra­ti­on. Ich habe uns üb­ri­gens bei­de für heu­te Nach­mit­tag bei Dr. Mans­feld an­ge­mel­det …«

»Das ist wie­der so eine von dei­nen Ei­gen­mäch­tig­kei­ten, Mag­da!«, rief ich är­ger­lich. »Was soll ich bei Dr. Mans­feld? Ich bin völ­lig ge­sund. Das biss­chen Füße …«

»Ach, dei­ne Füße!«, rief sie, nun auch är­ger­lich. »Das biss­chen zer­schun­de­ne Haut wird schon hei­len. Nein, du bist wirk­lich krank, Er­win; ich habe es schon seit Mo­na­ten ge­merkt, wie du dich ver­än­derst, der Dok­tor muss dich ein­mal ganz gründ­lich un­ter­su­chen.«

»Und un­ter dei­ner Auf­sicht!«, sag­te ich spöt­tisch. »Nein, da­für muss ich wirk­lich dan­ken …«

»Er­win«, sag­te sie wie­der bit­tend, »lass uns dies eine Mal nicht strei­ten. Tu mir den Ge­fal­len, geh mit mir zum Arzt. Er kann ja dann ent­schei­den, ob die­se Ham­bur­ger Rei­se für dich gut ist.«

»Oh«, sag­te ich bit­ter, »wenn er un­ter dei­ner Be­ra­tung ent­schei­den soll, dann brau­chen wir erst gar nicht hin­zu­ge­hen, dann kannst du Hinz­pe­ter gleich sa­gen, dass er nach Ham­burg zu fah­ren hat.«

Wir stan­den jetzt je­der an ei­nem Fens­ter des Kon­tors und starr­ten auf die Stra­ße, was mich an­ging, so starr­te ich nicht nur, son­dern trom­mel­te auch mit den Fin­gern ge­gen die Schei­ben. Drau­ßen schi­en noch im­mer die Früh­lings­son­ne, und was an Weib­li­chem vor­über­ging, war früh­lings­mä­ßig ge­klei­det … Noch im­mer war es nicht lan­ge her, dass ich mich wie ein Ge­ne­sen­der ge­fühlt hat­te und alte Din­ge um mich mit fri­schem In­ter­es­se be­grüßt hat­te, über­zeugt da­von, heu­te ein neu­es Le­ben zu be­gin­nen … Und nun dreh­te sich wie­der die alte knar­ren­de Müh­le der Strei­te­rei­en und zer­mahl­te mei­ne bes­ten Vor­sät­ze. Und warum? Weil Mag­da recht­ha­be­risch war und über al­les al­lein be­stim­men woll­te. Nein, dies­mal war ich nicht ge­son­nen, nach­zu­ge­ben. Wir hat­ten aus­ge­macht, dass das Ver­gan­ge­ne ver­gan­gen sein soll­te, we­gen der Vor­gän­ge in der letz­ten Nacht brauch­te ich nicht nach­gie­big zu sein.

Mag­da dreh­te sich mit ei­nem Ruck vom Fens­ter fort und mir zu. »Er­win …«, sag­te sie lei­se.

»Ja?«, frag­te ich mür­risch und trom­mel­te wei­ter, ohne sie an­zu­se­hen.

»Er­win«, wie­der­hol­te sie. »Ich möch­te mich heu­te nicht mit dir strei­ten. Ich habe das Ge­fühl, als schweb­ten wir in ei­ner schreck­li­chen Ge­fahr und müss­ten um je­den Preis zu­sam­men­hal­ten. Also, ich will dir den Wil­len tun, fah­re nach Ham­burg, aber, wenn du zu­rück­kommst, tu auch du mir den Ge­fal­len und geh mit mir zu Dr. Mans­feld.«

Ich wand­te mich ihr zu, ich lach­te ver­gnügt. »Wenn ich wie­der­kom­me, wirst du sel­ber se­hen, wie ge­sund ich bin, und von al­lein auf den Arzt­be­such ver­zich­ten. Aber im­mer­hin, ich ver­spre­che es dir. Im Üb­ri­gen dan­ke ich dir schön, Mag­da, ich wer­de dir auch et­was Schö­nes mit­brin­gen …« Und wie­der lach­te ich. Ich war ganz glück­lich über die­se Rei­se­aus­sicht.

»Ich habe es nicht um Dank ge­tan«, sag­te Mag­da ziem­lich steif. »Ich habe es so­gar ganz und gar ge­gen mei­ne Über­zeu­gung ge­tan. Ich bin über­zeugt, die­se Rei­se wird dir nicht gut­tun …«

»Aber ich wer­de sie mit dei­nem Ein­ver­ständ­nis ma­chen«, un­ter­brach ich sie wie­der. »Und hin­ter­her wol­len wir dar­über spre­chen, wer von uns bei­den recht hat. Jetzt aber sage mir, wel­che Fir­men für die­se Lie­fe­rung etwa in­fra­ge kom­men. Na­tür­lich wer­de ich mich auch auf ei­ge­ne Faust um­tun …«

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Altersbeschränkung:
18+
Umfang:
5251 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783962813598
Rechteinhaber:
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