Buch lesen: «Hans Fallada – Gesammelte Werke», Seite 45

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65. Die Hauptverhandlung: Die Verteidiger

Der Ver­tei­di­ger Anna Quan­gels, der ver­sorg­te, graue ält­li­che Mann, der so ger­ne in selbst­ver­ges­se­nen Au­gen­bli­cken in der Nase bohr­te und der un­ver­kenn­bar jü­disch aus­sah (dem aber nichts »be­wie­sen« wer­den konn­te, denn sei­ne Pa­pie­re wa­ren »rein arisch«), die­ser Mann, der ex of­fi­cio zum Rechts­bei­stand der Frau ge­macht wor­den war, er­hob sich zu sei­nem Plä­doy­er.

Er führ­te aus, dass er es sehr be­dau­ern müs­se, ge­zwun­gen zu sein, in Ab­we­sen­heit sei­ner Man­dan­tin spre­chen zu müs­sen. Ge­wiss sei­en ihre Aus­fäl­le ge­gen so be­währ­te Ein­rich­tun­gen der Par­tei wie die SA und die SS be­kla­gens­wert …

Zwi­schen­ruf des An­klä­gers: »Ver­bre­che­risch!«

Ja­wohl, selbst­ver­ständ­lich stim­me er der An­kla­ge­be­hör­de zu, sol­che Aus­fäl­le sei­en höchst ver­bre­che­risch. Im­mer­hin sehe man an dem Fall des Bru­ders sei­ner Man­dan­tin, dass sie kaum für voll zu­rech­nungs­fä­hig an­ge­se­hen wer­den kön­ne. Der Fall Ul­rich Heff­ke, der si­cher dem ho­hen Ge­richts­hof noch leb­haft in der Erin­ne­rung sei, habe be­wie­sen, dass in der Fa­mi­lie Heff­ke der Geist re­li­gi­ösen Wahns um­ge­he. Er neh­me wohl, ohne dem Ur­teil des ärzt­li­chen Sach­ver­stän­di­gen vor­grei­fen zu wol­len, mit Recht an, dass es sich um Schi­zo­phre­nie han­de­le, und da die Schi­zo­phre­nie zu den Erb­krank­hei­ten ge­hö­re …

Hier wur­de der graue Ver­tei­di­ger zum zwei­ten Male von dem An­klä­ger un­ter­bro­chen, der den Ge­richts­hof bat, den Rechts­an­walt zu er­mah­nen, zur Sa­che zu spre­chen.

Prä­si­dent Feis­ler mahn­te den An­walt, zur Sa­che zu spre­chen.

Der An­walt wand­te ein, er spre­che zur Sa­che.

Nein, er spre­che nicht zur Sa­che. Es hand­le sich um Hoch- und Lan­des­ver­rat, nicht um Schi­zo­phre­nie und Ir­re­sein.

Wie­der wand­te der An­walt ein: Wenn der Herr An­klä­ger be­rech­tigt sei, die mo­ra­li­sche Min­der­wer­tig­keit sei­ner Man­dan­tin zu be­wei­sen, so sei er be­rech­tigt, über Schi­zo­phre­nie zu spre­chen. Er bit­te um Ge­richts­be­schluss.

Der Ge­richts­hof zog sich zur Be­schluss­fas­sung über den An­trag des Ver­tei­di­gers zu­rück. Dann ver­kün­de­te Prä­si­dent Feis­ler: »We­der in der Vor­un­ter­su­chung noch in der heu­ti­gen Ver­hand­lung ha­ben sich ir­gend­wel­che An­zei­chen für eine geis­ti­ge Stö­rung der Anna Quan­gel er­ge­ben. Der Fall ih­res Bru­ders Ul­rich Heff­ke kann nicht als be­weis­kräf­tig her­an­ge­zo­gen wer­den, da über den Zeu­gen Heff­ke noch kein ge­richt­s­ärzt­li­ches Gut­ach­ten vor­liegt. Es ist sehr wohl mög­lich, dass es sich bei dem Ul­rich Heff­ke um einen ge­fähr­li­chen Si­mu­lan­ten han­delt, der sei­ner Schwes­ter nur Hil­fe­stel­lung leis­ten wol­le. Es wird der Ver­tei­di­gung auf­ge­ge­ben, sich an die Tat­sa­chen des Hoch- und Lan­des­ver­ra­tes zu hal­ten, wie sie in der heu­ti­gen Ver­hand­lung zu­ta­ge ge­tre­ten sind …«

Tri­um­phie­ren­der Blick des An­klä­gers Pin­scher zu dem ver­sorg­ten An­walt.

Und trüber Ge­gen­blick des An­walts.

»Da es mir vom Ho­hen Ge­richts­hof un­ter­sagt ist«, be­gann der An­walt Anna Quan­gels von Neu­em, »auf den Geis­tes­zu­stand mei­ner Man­dan­tin ein­zu­ge­hen, so über­sprin­ge ich alle die Punk­te, die für eine ver­min­der­te Zu­rech­nungs­fä­hig­keit spre­chen: ihre Be­schimp­fung des ei­ge­nen Gat­ten nach dem Tode des Soh­nes, ihr selt­sa­mes, fast geis­tes­ge­stört an­mu­ten­des Ver­hal­ten bei der Frau des Ober­sturm­bann­füh­rers …«

Der Pin­scher kläfft los: »Ich er­he­be schrei­en­den Pro­test da­ge­gen, wie der Ver­tei­di­ger der An­ge­klag­ten das Ver­bot des Ge­rich­tes um­geht. Er über­springt die Punk­te und hebt sie umso nach­drück­li­cher her­vor. Ich be­an­tra­ge Ge­richts­be­schluss!«

Wie­de­r­um zieht sich der Ge­richts­hof zu­rück, und bei sei­nem Wie­de­rer­schei­nen ver­kün­det der Prä­si­dent Feis­ler bit­ter­bö­se, dass der An­walt we­gen Über­tre­tung ei­nes Ge­richts­be­schlus­ses zu ei­ner Geld­stra­fe von fünf­hun­dert Mark ver­ur­teilt sei. Für den Fall ei­ner Wie­der­ho­lung wird der Wort­ent­zug an­ge­droht.

Der graue An­walt ver­beugt sich. Er sieht sor­gen­voll aus, als pla­ge ihn der Ge­dan­ke, wie er die­se fünf­hun­dert Mark zu­sam­men­brin­gen sol­le. Er be­ginnt zum drit­ten Mal sei­ne Rede. Er be­müht sich, die Ju­gend Anna Quan­gels zu schil­dern, die Dienst­mäd­chen­jah­re, dann die Ehe an der Sei­te ei­nes Man­nes, der ein kal­ter Fa­na­ti­ker sei, ein gan­zes Frau­en­le­ben: »Nur Ar­beit, Sor­ge, Ver­zicht, Sich­fü­gen in einen har­ten Mann. Und die­ser Mann be­ginnt plötz­lich, Kar­ten hoch­ver­rä­te­rischen In­halts zu schrei­ben. Es ist aus der Ver­hand­lung klar er­wie­sen, dass es der Mann war, der auf die­sen Ge­dan­ken kam, nicht die Frau. Alle ge­gen­tei­li­gen Be­haup­tun­gen mei­ner Man­dan­tin in der Vor­un­ter­su­chung sind als fehl­ge­lei­te­ter Op­fer­wil­le auf­zu­fas­sen …«

Der An­walt ruft: »Was soll­te Frau Anna Quan­gel ge­gen den ver­bre­che­ri­schen Wil­len ih­res Gat­ten tun? Was konn­te sie tun? Ein Le­ben vol­ler Dienst­bar­keit lag hin­ter ihr, sie hat­te nur Ge­hor­chen ge­lernt, nie Wi­der­stand ge­leis­tet. Sie war ein Ge­schöpf ih­res Man­nes, sie war ihm hö­rig …«

Der An­klä­ger sitzt mit ge­spitz­ten Ohren da.

»Ho­her Ge­richts­hof! Die Tat, nein, die Bei­hil­fe zur Tat durch eine sol­che Frau kann nicht voll be­wer­tet wer­den. Wie man einen Hund nicht be­stra­fen kann, der auf Be­fehl sei­nes Herrn in ei­nem frem­den Re­vier Ha­sen fängt, so ist die­se Frau nicht voll für ihre Bei­hil­fe ver­ant­wort­lich zu ma­chen. Sie hat – auch aus die­sem Grun­de – den Schutz des Pa­ra­gra­fen 51 Ab­satz 2 hin­ter sich …«

Der An­klä­ger un­ter­bricht wie­der. Er kläfft los, der An­walt habe wie­der­um das Ver­bot des Ge­richts­ho­fes über­tre­ten.

Der Ver­tei­di­ger wi­der­spricht.

Der An­klä­ger liest ab, von ei­nem Block: »Nach dem Ste­no­gramm hat die Ver­tei­di­gung Fol­gen­des ge­sagt: Sie hat – auch aus die­sem Grun­de – den Schutz des Pa­ra­gra­fen 51 Ab­satz 2. Die Wor­te ›Auch aus die­sem Grun­de‹ be­zie­hen sich ganz klar auf die von der Ver­tei­di­gung be­haup­te­te Geis­tes­krank­heit der Fa­mi­lie Heff­ke. Ich be­an­tra­ge Ge­richts­be­schluss!«

Prä­si­dent Feis­ler be­fragt den Ver­tei­di­ger, wor­auf er die Wor­te »Auch aus die­sem Grun­de« be­zo­gen habe?

Der An­walt er­klärt, die­se Wor­te hät­ten sich auf im wei­te­ren Ver­lauf sei­ner Ver­tei­di­gung zu ent­wi­ckeln­de Grün­de be­zo­gen.

Der An­klä­ger schreit, nie­mand be­zie­he sich in sei­ner Rede auf et­was, das noch nicht ge­sagt wor­den sei. Eine Be­zug­nah­me kön­ne nur auf Be­kann­tes, nie auf Un­be­kann­tes er­fol­gen. Die Wor­te des Herrn Ver­tei­di­gers stell­ten nichts als eine fau­le Aus­re­de dar.

Der Ver­tei­di­ger pro­tes­tier­te ge­gen den An­wurf, eine fau­le Aus­re­de ge­braucht zu ha­ben. Im Üb­ri­gen kön­ne man sich in ei­ner Rede sehr wohl auf et­was noch Vor­zu­tra­gen­des be­zie­hen, dies sei eine be­kann­te Re­de­kunst, Span­nung auf et­was noch Vor­zu­tra­gen­des zu er­zeu­gen. So habe zum Bei­spiel Mar­cus Tul­li­us Ci­ce­ro in sei­ner be­rühm­ten drit­ten Phil­ip­pi­ka ge­sagt …

Anna Quan­gel war ver­ges­sen; jetzt sah Otto Quan­gel mit vor Stau­nen ge­öff­ne­tem Mun­de von ei­nem zum an­de­ren.

Ein hit­zi­ger Dis­put war im Gan­ge. Es reg­ne­te Zi­ta­te in La­tein und Alt­grie­chisch.

Schließ­lich zog sich der Ge­richts­hof wie­der­um zu­rück, und Prä­si­dent Feis­ler ver­kün­de­te bei sei­nem Wie­de­rer­schei­nen zur all­ge­mei­nen Über­ra­schung (denn die meis­ten hat­ten über dem ge­lehr­ten Dis­put den An­lass dazu völ­lig ver­ges­sen), dass dem An­walt der An­ge­klag­ten we­gen noch­ma­li­ger Über­tre­tung ei­nes Ge­richts­be­schlus­ses das Wort ent­zo­gen sei. Die Of­fi­zi­al­ver­tei­di­gung der Anna Quan­gel sei dem zu­fäl­lig an­we­sen­den As­ses­sor Lü­de­cke über­tra­gen.

Der graue Ver­tei­di­ger ver­beug­te sich und ver­ließ den Sit­zungs­saal, ver­sorg­ter denn je aus­se­hend.

Der »zu­fäl­lig an­we­sen­de« As­ses­sor Lü­de­cke er­hob sich und sprach. Er hat­te noch nicht viel Er­fah­rung, er hat­te auch nicht recht zu­ge­hört, er war vom Ge­richts­hof ein­ge­schüch­tert, au­ßer­dem war er zur­zeit stark ver­liebt und kei­nes ver­nünf­ti­gen Ge­dan­kens fä­hig. Er sprach drei Mi­nu­ten, bat um mil­dern­de Um­stän­de (falls der Hohe Ge­richts­hof nicht an­de­rer Mei­nung sein soll­te, in wel­chem Fal­le er bat, sei­ne Bit­te als un­ge­spro­chen an­zu­se­hen) und setz­te sich wie­der, sehr rot und ver­le­gen aus­se­hend.

Dem Ver­tei­di­ger Otto Quan­gels wur­de das Wort er­teilt.

Er er­hob sich, sehr blond und sehr hoch­mü­tig. In die Ver­hand­lung hat­te er bis­her in kei­nem Fall ein­ge­grif­fen, er hat­te sich nicht eine No­tiz ge­macht, der Tisch vor ihm war leer. Wäh­rend der stun­den­lan­gen Ver­hand­lung hat­te er sich ei­gent­lich nur da­mit be­schäf­tigt, sei­ne ro­si­gen, sehr ge­pfleg­ten Fin­ger­nä­gel sanft ge­gen­ein­an­der zu rei­ben und im­mer wie­der ge­nau zu be­trach­ten.

Jetzt aber sprach er, der Talar war halb ge­öff­net, eine Hand hat­te er in der Ho­sen­ta­sche, die an­de­re mach­te spar­sa­me Ges­ten. Die­ser Ver­tei­di­ger konn­te sei­nen Man­dan­ten nicht aus­ste­hen, er fand ihn wi­der­lich, be­schränkt, un­glaub­haft häss­lich und gra­de­zu ab­sto­ßend. Und Quan­gel hat­te lei­der al­les ge­tan, die­se Ab­nei­gung sei­nes Ver­tei­di­gers noch zu ver­stär­ken, in­dem er trotz des drin­gen­den Abra­tens Dr. Reich­hardts dem An­walt jede Aus­kunft ver­wei­gert hat­te: er brauch­te kei­nen An­walt.

Jetzt also sprach Rechts­an­walt Dr. Stark. Sei­ne na­sa­le, schlep­pen­de Re­de­wei­se stand in star­kem Ge­gen­satz zu den kras­sen Wor­ten, die er ge­brauch­te.

Er sag­te: »Sel­ten ha­ben wohl wir alle, die wir hier zur Stun­de in die­sem Saa­le ver­sam­melt sind, ein sol­ches Bild ab­grund­tiefer mensch­li­cher Ver­wor­fen­heit vor­ge­führt be­kom­men, wie es hier heu­te ge­sche­hen ist. Lan­des­ver­rat, Hoch­ver­rat, Hu­re­rei, Kup­pe­lei, Ab­trei­bung, Geiz – ja, gibt es denn ein mensch­li­ches Ver­bre­chen, das mein Man­dant nicht auf sich ge­la­den, an dem er nicht teil­ge­nom­men hat? Ho­her Ge­richts­hof, mei­ne Her­ren, Sie se­hen mich au­ßer­stan­de, einen sol­chen Ver­bre­cher zu ver­tei­di­gen. In ei­nem sol­chen Fal­le lege ich die Robe des Ver­tei­di­gers ab, ich selbst, der Ver­tei­di­ger, muss zum An­klä­ger wer­den, und mah­nend er­he­be ich mei­ne Stim­me: die Ge­rech­tig­keit neh­me in ih­rer äu­ßers­ten Stren­ge den Lauf. In Ab­än­de­rung ei­nes be­kann­ten Sat­zes kann ich nur sa­gen: Fiat jus­ti­tia, per­eat mun­dus!1 Kei­ne Mil­de­rungs­grün­de für die­sen Ver­bre­cher, der den Na­men Mensch nicht ver­dient!«

Da­mit ver­beug­te sich der Ver­tei­di­ger zur all­ge­mei­nen Über­ra­schung und setz­te sich wie­der, sorg­fäl­tig die Ho­sen über den Kni­en hoch­zie­hend. Er warf einen prü­fen­den Blick auf sei­ne Nä­gel und be­gann, sie sach­te ge­gen­ein­an­der zu rei­ben.

Nach ei­nem kur­z­en Stut­zen frag­te der Prä­si­dent den An­ge­klag­ten, ob er noch et­was zu sei­nen Guns­ten vor­zu­tra­gen habe. Er möge sich aber ge­fäl­ligst kurz fas­sen.

Otto Quan­gel sag­te, sei­ne Ho­sen fest­hal­tend: »Ich habe nichts zu mei­nen Guns­ten zu sa­gen: Aber ich möch­te mei­nem An­walt auf­rich­tig für sei­ne Ver­tei­di­gung dan­ken. End­lich habe ich er­fasst, was ein Links­an­walt ist.«

Und Quan­gel setz­te sich un­ter stür­mi­scher Be­we­gung der an­de­ren. Der An­walt un­ter­brach sein Na­gel­po­lie­ren, er­hob sich und ver­kün­de­te nach­läs­sig, dass er auf einen An­trag ge­gen sei­nen Man­dan­ten ver­zich­te, die­ser habe nur wie­der be­wie­sen, dass er ein un­ver­bes­ser­li­cher Ver­bre­cher sei.

Dies war der Au­gen­blick, da Quan­gel lach­te, zum ers­ten Mal seit sei­ner Ver­haf­tung, nein, seit un­denk­li­chen Zei­ten, hei­ter und un­be­küm­mert lach­te. Die Ko­mik, dass die­ses Ver­bre­cher­ge­sin­del ihn ernst­haft zum Ver­bre­cher stem­peln woll­te, über­wäl­tig­te ihn plötz­lich.

Der Prä­si­dent ließ den An­ge­klag­ten we­gen sei­ner un­ziem­li­chen Hei­ter­keit scharf an. Er er­wog, mit noch schär­fe­ren Stra­fen ge­gen Quan­gel vor­zu­ge­hen, aber dann fiel ihm ein, dass er ei­gent­lich alle nur mög­li­chen Stra­fen be­reits über den An­ge­klag­ten ver­hängt hat­te, dass ihm nur noch die Aus­schlie­ßung aus dem Ver­hand­lungs­zim­mer blieb, und er be­dach­te, wie we­nig es wir­ken wür­de, wenn er das Ur­teil in Ab­we­sen­heit bei­der An­ge­klag­ten ver­kün­den wür­de. So be­schied er sich zur Mil­de.

Der Ge­richts­hof zog sich zur Ur­teils­fäl­lung zu­rück.

Gro­ße Pau­se.

Die meis­ten gin­gen, wie im Thea­ter, um eine Zi­ga­ret­te zu rau­chen.

1 Es soll Ge­rech­tig­keit ge­sche­hen, und gehe die Welt dar­über zu­grun­de. Be­deu­tung hat der Satz auch als Wahl­spruch des Kai­sers Fer­di­nand I. (1503–1564). <<<

66. Die Hauptverhandlung: Das Urteil

Be­stim­mungs­ge­mäß hät­ten die bei­den Schutz­po­li­zis­ten, die jetzt Otto Quan­gel be­wach­ten, wäh­rend der Ver­hand­lungs­pau­se ih­ren Ge­fan­ge­nen in die klei­ne War­te­zel­le ab­füh­ren müs­sen, die für sol­che Pau­sen vor­ge­se­hen war. Da aber der Saal sich fast völ­lig ge­leert hat­te und der Trans­port des Ge­fan­ge­nen mit den ewig rut­schen­den Ho­sen über die vie­len Gän­ge und Trep­pen ziem­lich um­ständ­lich war, so glaub­ten sie sich über die­se Vor­schrift hin­weg­set­zen zu kön­nen und blie­ben plau­dernd in ei­ni­ger Ent­fer­nung von Quan­gel ste­hen.

Der alte Werk­meis­ter stütz­te den Kopf in die Hän­de und ver­sank für we­ni­ge Mi­nu­ten in eine Art Halb­schlaf. Die sie­ben­stün­di­ge Ver­hand­lung, wäh­rend der er sei­ner Auf­merk­sam­keit nicht ein­mal er­laubt hat­te ab­zuir­ren, hat­te ihn er­schöpft. Bil­der zo­gen schat­ten­haft an ihm vor­über: die kral­len­fing­ri­ge Hand des Prä­si­den­ten Feis­ler, die sich öff­ne­te und schloss, der Ver­tei­di­ger von Anna mit dem Fin­ger in der Nase, der klei­ne Bu­ckel Heff­ke, wie er flie­gen ler­nen woll­te, Anna, die mit ro­ten Ba­cken »Sie­ben­un­dacht­zig« sag­te und de­ren Au­gen da­bei eine so hei­te­re Über­le­gen­heit be­zeigt hat­ten, wie er sie nie an ihr ge­se­hen, und vie­le an­de­re Bil­der noch, vie­le – an­de­re – Bil­der – noch –

Sein Kopf press­te sich fes­ter ge­gen sei­ne Hän­de, er war so müde, er muss­te schla­fen, nur fünf Mi­nu­ten …

So leg­te er einen Arm auf den Tisch und den Kopf dar­auf. Er at­me­te be­hag­lich. Nur fünf Mi­nu­ten fes­ter Schlaf, eine klei­ne Span­ne Ver­ges­sen.

Aber er schreck­te wie­der hoch. Es war da et­was in die­sem Saa­le, das ihm die er­sehn­te Ruhe zer­stör­te. Er sah mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen um­her, und sein Blick fiel auf den Kam­mer­ge­richts­rat a.D. Fromm, der am Ge­län­der des Zu­hö­rer­raums stand und ihm Zei­chen zu ma­chen schi­en. Quan­gel hat­te den al­ten Herrn schon vor­her ge­se­hen, wie über­haupt nichts sei­ner re­gen Auf­merk­sam­keit ent­gan­gen zu sein schi­en, aber bei den vie­len er­re­gen­den Ein­drücken die­ses Ta­ges hat­te er nicht viel No­tiz von dem frü­he­ren Haus­ge­nos­sen aus der Ja­blons­ki­stra­ße ge­nom­men.

Jetzt also stand der Rat an der Bar­rie­re und mach­te ihm Zei­chen.

Quan­gel warf einen Blick auf die bei­den Schu­pos. Sie stan­den etwa drei Schrit­te von ihm ent­fernt, kei­ner sah ihn di­rekt an, und sie wa­ren in ein sehr leb­haf­tes Ge­spräch ver­tieft. Quan­gel hör­te ge­ra­de die Wor­te: »Und da fass ick den Bru­der ins Je­nick …«

Der Werk­meis­ter war auf­ge­stan­den, hat­te die Ho­sen fest mit bei­den Hän­den ge­packt und ging nun Schritt um Schritt durch die gan­ze Län­ge des Saa­l­es auf den Kam­mer­ge­richts­rat zu.

Der stand an der Bar­re, den Blick hielt er jetzt ge­senkt, als wol­le er den her­an­na­hen­den Ge­fan­ge­nen nicht se­hen. Dann – Quan­gel war nur noch ein paar Schrit­te von ihm ent­fernt – dreh­te sich der Kam­mer­ge­richts­rat rasch um, ging zwi­schen den Stuhl­rei­hen hin­durch und auf die Aus­gangs­tür zu. Aber von ihm zu­rück­ge­las­sen, lag ein klei­nes wei­ßes Päck­chen, nicht ein­mal so groß wie ein Garn­röll­chen, auf dem Ge­län­der.

Quan­gel mach­te die letz­ten Schrit­te, fass­te zu und barg das Röll­chen zu­erst in der hoh­len Hand, dann in der Ho­sen­ta­sche. Es hat­te sich fest an­ge­fühlt. Er dreh­te sich um und sah, dass sei­ne bei­den Be­wa­cher noch im­mer nicht sei­ne Ab­we­sen­heit be­merkt hat­ten. Dann klapp­te eine Tür im Zuschau­er­raum, und der Kam­mer­ge­richts­rat war fort.

Quan­gel be­gann wie­der sei­ne Wan­de­rung zu­rück zu sei­nem Platz. Er war ziem­lich er­regt, sein Herz klopf­te, es schi­en so un­wahr­schein­lich, dass die­ses Aben­teu­er gut aus­ge­hen soll­te. Und was war dem al­ten Rat so wich­tig er­schie­nen, es ihm zu­zu­ste­cken, dass er dar­um so viel ge­wagt hat­te?

Quan­gel war nur noch ei­ni­ge Schrit­te vom Platz ent­fernt, als der eine Wacht­meis­ter ihn plötz­lich sah. Er fuhr er­schro­cken zu­sam­men, warf einen ver­wirr­ten Blick auf den lee­ren Sitz Quan­gels, als wol­le er sich über­zeu­gen, dass der An­ge­klag­te wirk­lich nicht mehr dort saß, und schrie dann fast in sei­nem Schreck: »Wat ma­chen Sie denn da?«

Auch der an­de­re Schu­po fuhr her­um und starr­te Quan­gel an. In ih­rer ers­ten Ver­wir­rung stan­den bei­de wie an­ge­wur­zelt, dach­ten gar nicht dar­an, den Ge­fan­ge­nen zu­rück­zu­füh­ren.

»Ich möch­te mal aus­tre­ten, Herr Wacht­meis­ter!«, sag­te Quan­gel.

Aber wäh­rend der rasch be­ru­hig­te Po­li­zist noch knurr­te: »Da lat­schen Se je­fäl­lichst nich al­lee­ne los! Da mel­den Se sich je­fäl­lichst, Sie!« – wäh­rend der Po­li­zist noch so sprach, dach­te Quan­gel plötz­lich, dass er es nicht an­ders ha­ben woll­te als Anna. Soll­ten die ru­hig ihr Ur­teil ohne die bei­den An­ge­klag­ten ver­kün­den, es wür­de ih­nen viel von ih­rem Spaß neh­men. Er, Quan­gel, war nicht neu­gie­rig dar­auf, weil er es näm­lich schon kann­te. Au­ßer­dem sehn­te er sich da­nach, zu er­fah­ren, was für eine Wich­tig­keit ihm der alte Rat da zu­ge­steckt hat­te.

Die bei­den Po­li­zis­ten wa­ren bei Quan­gel an­ge­langt und fass­ten ihn bei den Ar­men, die doch die Ho­sen hiel­ten.

Quan­gel sah sie kalt an und sag­te: »Hit­ler, ver­re­cke!«

»Was?« Sie wa­ren ver­blüfft, trau­ten ih­ren Ohren nicht.

Und Quan­gel sehr schnell und sehr laut: »Hit­ler, ver­re­cke! Gö­ring, ver­re­cke! Go­eb­bels, du Aas, ver­re­cke! Strei­cher,1 ver­re­cke!«

Eine ihn un­ter dem Kinn tref­fen­de Faust mach­te das wei­te­re Ablei­ern die­ses Ro­sen­kran­zes un­mög­lich. Die bei­den Schu­pos schlepp­ten den be­wusst­lo­sen Quan­gel aus dem Saal.

So kam es, dass Prä­si­dent Feis­ler das Ur­teil doch ohne die bei­den An­ge­klag­ten ver­kün­den muss­te. Um­sonst hat­te der höchs­te Rich­ter über die Be­lei­di­gung des An­walts gnä­dig hin­weg­ge­se­hen. Und Quan­gel be­hielt recht: die Ur­teils­ver­kün­dung mach­te dem Prä­si­den­ten ohne die Ge­sich­ter der bei­den An­ge­klag­ten kei­nen Spaß mehr, nicht mehr den all­er­ge­rings­ten. Er hat­te sich so schö­ne be­schimp­fen­de For­mu­lie­run­gen aus­ge­dacht.

Wäh­rend Feis­ler noch sprach, öff­ne­te Quan­gel in sei­ner War­te­zel­le die Au­gen. Sein Kinn schmerz­te, der gan­ze Kopf schmerz­te, müh­sam nur konn­te er sich an das Ge­sche­he­ne er­in­nern. Sei­ne Hand tas­te­te sich vor­sich­tig in die Ta­sche: Gott­lob, das Päck­chen war noch da.

Er hör­te den Schritt der Wa­che auf dem Gang, nun hör­te das Geräusch auf, und statt­des­sen wur­de ein lei­ser, schür­fen­der Laut von der Tür her ver­nehm­lich: das Schutz­schild wur­de vom Spi­on zu­rück­ge­scho­ben. Quan­gel hat­te die Au­gen ge­schlos­sen, er lag, als sei er noch im­mer be­wusst­los. Nach ei­ner end­los er­schei­nen­den Frist kam wie­der­um das lei­se, schür­fen­de Geräusch von der Tür her und dann end­lich von neu­em der Schritt der Wa­che …

Der Spi­on war wie­der ge­schlos­sen, die nächs­ten zwei, drei Mi­nu­ten wür­de der Pos­ten be­stimmt nicht her­ein­se­hen.

Quan­gel fass­te schnell in die Ta­sche und brach­te das Röll­chen zum Vor­schein. Er streif­te den Fa­den ab, der es um­spann­te, ent­fal­te­te den Zet­tel, der um ein Glas­röhr­chen lag, und las die Ma­schi­nen­schrift: »Blau­säu­re, tö­tet schmerz­los in we­ni­gen Se­kun­den. Im Mund ver­ste­cken. Für die Frau wird auch ge­sorgt. Zet­tel ver­nich­ten!«

Quan­gel lä­chel­te. Der gute alte Mann! Der herr­li­che alte Mann! Er kau­te das Zet­tel­chen, bis es ganz nass war, und schluck­te es dann her­un­ter.

Neu­gie­rig be­trach­te­te er die Am­pul­le, sah die was­ser­kla­re Flüs­sig­keit an. Ra­scher, schmerz­lo­ser Tod, sag­te er sich. Oh, wenn ihr das wüss­tet! Und für Anna wird auch ge­sorgt wer­den. Er denkt an al­les. Gu­ter al­ter Mann!

Er schob das Glas­röhr­chen in den Mund. Er pro­bier­te. Er fand, dass er es am bes­ten zwi­schen Zahn­fleisch und Back­zäh­nen ver­ber­gen konn­te, wie einen Stift, einen Priem, den vie­le Ar­bei­ter in der Tisch­ler­werk­statt ge­braucht hat­ten. Er tas­te­te die Ba­cke ab. Nein, er konn­te von ei­ner Er­hö­hung nichts spü­ren. Und wenn sie wirk­lich et­was merk­ten, ehe sie ihm das Ding fort­neh­men konn­ten, hat­te er zu­ge­bis­sen und es im Mun­de zer­malmt.

Wie­der lä­chel­te Quan­gel. Jetzt war er wirk­lich frei, jetzt hat­ten sie kei­ner­lei Ge­walt mehr über ihn!

1 Ju­li­us Strei­cher war ein na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Po­li­ti­ker. Er war Grün­der, Ei­gen­tü­mer und Her­aus­ge­ber des an­ti­se­mi­ti­schen Hetz­blat­tes ›Der Stür­mer‹. <<<

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Altersbeschränkung:
18+
Umfang:
5251 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783962813598
Rechteinhaber:
Bookwire
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