Während der neunzehn Tage, die Otto Quangel im Bunker der Gestapo zubringen musste, ehe er dem Untersuchungsrichter beim Volksgerichtshof ausgeliefert wurde, waren für ihn nicht die Verhöre durch den Kommissar Laub das am schwersten zu Ertragende, trotzdem dieser Mann alle seine nicht geringen Kräfte aufwandte, um den Widerstand Quangels zu brechen, wie er es nannte. Das hieß nichts anderes, als dass er mit all seinen schlimmen Kräften bemüht war, aus dem Häftling ein schreiendes, angstvolles Garnichts zu machen.
Es war auch nicht die ständig wachsende, sehr quälende Sorge um seine Frau Anna, die Otto Quangel so zermürbte. Er sah seine Frau nicht, er hörte nie direkt etwas von ihr. Aber als Laub bei den Vernehmungen den Namen Trudel Baumanns, nein, jetzt Trudel Hergesells nannte, wusste er, seine Frau hatte sich verängstigen lassen, sie war überlistet worden, ein Name war ihr entschlüpft, den sie nie hätte zu nennen brauchen.
Später, als immer klarer wurde, auch Trudel Baumann und ihr Mann waren verhaftet worden, sie hatten ausgesagt, sie waren mit in diesen Strudel gezogen, da haderte er in Gedanken viele Stunden mit seiner Frau. Es war immer sein Stolz gewesen in diesem seinem Leben, ein Mensch ganz für sich allein zu sein, die anderen nicht zu brauchen, ihnen nie lästig zu fallen, und nun waren durch sein Verschulden (denn er fühlte sich voll verantwortlich für Anna) zwei junge Menschen in seine Sachen hereingezogen worden.
Aber der Hader hielt nicht lange an, die Trauer und die Sorge um seine Lebensgefährtin überwogen. Allein mit sich, presste er oft die Nägel in die Handteller, er schloss die Augen, er sammelte alle seine Stärke in sich – und dann dachte er an Anna, er suchte sie sich vorzustellen in ihrer Zelle, und er schickte Kraftströme aus, um ihr neuen Mut zu geben, damit sie nur nicht ihre Würde vergäße, sich nicht demütige vor diesem Elenden, der kaum noch etwas Menschliches hatte.
Diese Sorge um Anna war schwer zu ertragen, aber sie war bei weitem das Schwerste nicht.
Das Schwerste waren auch nicht die fast alltäglichen Einbrüche in die Zelle von betrunkenen SS-Männern und ihren Führern, die ihre Wut und Quälereien an dem Wehrlosen ausließen. Fast alltäglich rissen sie die Zellentür auf, stürzten herein, wild vom Alkohol, nur von der Gier besessen, Blut zu sehen, Menschen verzucken, vergehen zu sehen, sich an der Schwäche des Fleisches zu erbauen. Auch dies war sehr schwer zu ertragen, aber das Schwerste war es noch nicht.
Sondern das Schwerste war, dass er nicht allein in seiner Zelle war, dass er einen Zellengefährten hatte, einen Mitleidenden, einen, der ebenso schuldig sein sollte, einen Mitmenschen. Denn das war ein Mensch, vor dem Quangel ein Grausen ankam, ein wildes, unflätiges Tier, herzlos und feige, zitternd und roh, ein Mensch, den Quangel nicht ansehen konnte, ohne einen tiefen Ekel vor ihm zu empfinden, und dem er doch willfährig sein musste, denn der Mann besaß viel mehr Kräfte als der alte Werkmeister.
Karl Ziemke, von den Wachen Karlchen genannt, war ein etwa dreißigjähriger Mann von herkulischem Körperbau, mit einem runden, bullenbeißerhaften Kopf, in dem sehr kleine Augen saßen, und mit langen, dichtbehaarten Armen und Händen. Seine niedrige, bucklige Stirn, in die stets ein Wisch filziger Haare hing, war von vielen Längsfalten gefurcht. Er sprach nur wenig, und das wenige, was er sprach, war nur Zeterei und Mord. Wie Quangel bald aus den Reden der Wachen erfuhr, war Karlchen Ziemke früher selbst ein prominentes Mitglied der SS gewesen, er hatte eine außerordentliche Henkersmission zu erfüllen gehabt, und wie viele Menschen diese behaarten Tatzen umgebracht hatten, das würde nie zu erfahren sein, denn Karlchen wusste es selbst nicht.
Doch für den Berufsmörder Karlchen Ziemke hatte es selbst in diesen mordlustigen Zeiten oft nicht genug zu morden gegeben, und da war er in solchen beschäftigungslosen Zeiten dazu übergegangen, auch dann Morde zu begehen, wenn sie nicht von seinen Vorgesetzten angeordnet worden waren. Wenn er es dabei auch nicht verschmähte, seinen Opfern Geld und Wertsachen abzunehmen, so war doch nie das Rauben der Grund zu seinen Übeltaten gewesen, sondern stets nur die reine Mordlust. Und schließlich war man ihm darauf gekommen, und da er so ungeschickt gewesen war, nicht nur Juden, Volksfeinde und ähnliches Freiwild umzubringen, sondern auch einwandfreie Arier und darunter sogar einen Parteigenossen, so saß er nun erst einmal hier im Bunker, und es war noch ungewiss, was mit ihm geschehen sollte.
Karlchen Ziemke, der so viele ohne einen schnelleren Herzschlag in den Tod geschickt hatte, war es angst um das eigene kostbare Leben geworden, und in seinem Kopf, der nicht viel mehr Gedanken, als ein fünfjähriges Kind hat, in sich trug, aber sehr viel bösere, war der Gedanke aufgetaucht, dass er sich vor den Folgen seiner Taten retten konnte, wenn er den Wahnsinnigen spielte. Er hatte sich dafür die Rolle eines Hundes ausgedacht. Oder sie war ihm auch von irgendwelchen Kameraden angeraten worden, was das Wahrscheinlichere war, und er führte diese Rolle mit Konsequenz durch, das zeigte, dass sie ihm lag.
Meist lief er völlig nackt auf allen vieren in der Zelle herum, bellte hündisch, fraß aus seiner Schüssel wie ein Hund und legte es immer wieder darauf an, Quangel in die Beine zu beißen. Oder er verlangte von dem alten Werkmeister, dass er ihm stundenlang eine Bürste zuwarf, die Karlchen dann apportierte, wofür er gestreichelt und belobt werden wollte. Oder Quangel musste die Hosen Karlchens wie ein Sprungseil schwingen, worüber dann Karlchen ununterbrochen sprang.
Zeigte sich der Werkmeister nicht willig genug, so überfiel ihn der »Hund«, warf ihn zu Boden und fasste seine Kehle wie ein Hund mit den Zähnen, und nie war es sicher, dass aus dem Spiel nicht Ernst wurde. Die Wachen hatten eine tiefe Freude an den Ergötzungen Karlchens. Oft standen sie lange in der Zellentür und hetzten den Hund, sie machten ihn scharf, und Quangel musste alles über sich ergehen lassen. Kamen sie aber in ihrer betrunkenen Wut, sie an den Gefangenen auszulassen, so warfen sie Karlchen auf die Erde, er breitete seine Arme auf der Erde aus und flehte sie an, ihm die Gedärme aus dem nackten Leib zu treten.
Mit diesem Manne war Quangel verurteilt, Tag für Tag, Stunde um Stunde, Minute nach Minute zusammenzuleben. Er, der stets für sich allein gelebt hatte, konnte nun nicht mehr eine Viertelstunde für sich allein sein. Selbst nachts, wenn er den Tröster Schlaf suchte, war er vor seinem Quäler nicht sicher. Plötzlich hockte er an seinem Bett, hatte die Pranke auf Quangels Brust gelegt und verlangte Wasser oder auch einen Platz auf Quangels Lager. Der musste beiseiterücken, er schüttelte sich vor Ekel vor diesem Körper, der nie gewaschen wurde, der haarig war wie der eines Tieres, der aber nichts von der Reinheit und Unschuld der Tiere hatte. Und dann bellte Karlchen leise und fing an, das Gesicht Otto Quangels abzulecken und nach dem Gesicht den ganzen Körper.
Ja, dies war schwer zu ertragen, und oft fragte sich Otto Quangel, warum er es denn eigentlich ertrug, da das Ende doch gewiss war, das nahe Ende. Aber da war ein Widerstand in ihm, sich selbst auszulöschen, Anna zu verlassen, die er doch nicht mehr sah. Da war ein Widerstand in ihm, es denen so leicht zu machen, das Urteil vorwegzunehmen. Sie sollten ihm das Leben absprechen, es ihm nehmen, mit Strick oder Fallbeil, gleichviel. Sie sollten nicht glauben, dass er sich schuldig fühlte. Nein, er wollte ihnen nichts ersparen, und so ersparte er sich Karlchen Ziemke nicht.
Und es war seltsam: je weiter diese neunzehn Tage vorrückten, umso ergebener schien ihm der »Hund« zu werden. Er biss ihn nicht mehr, er warf ihn nicht mehr und fasste ihn an der Kehle. Hatten ihm seine SS-Kameraden einmal einen besseren Bissen zugeteilt, so musste er durchaus geteilt werden, und oft lag der Hund stundenlang mit seinem riesigen Rundschädel im Schoße des alten Mannes, die Augen geschlossen, leise vor sich hin blaffend, während die Finger Otto Quangels durch seine Haare fuhren.
Dann fragte sich der Werkmeister oft, ob dieses Tier über dem Vortäuschen eines Wahnsinns nicht wirklich wahnsinnig geworden war. Aber wenn er’s wirklich war, so waren es seine »freien« Kameraden auf den Gängen des Bunkers auch. Dann änderte es auch nichts, dann waren sie samt ihrem wahnsinnigen Führer und ihrem ständig blöde grinsenden Himmler ein Geschlecht, das ausgelöscht werden musste von dem Antlitz der Erde, damit die Vernünftigen leben konnten.
Als es dann hieß, Otto Quangel käme auf Transport, war Karlchen sehr unglücklich. Er jaulte und wimmerte, er zwang Quangel sein ganzes Brot auf, und als der Werkmeister auf den Gang heraustreten und mit hoch erhobenen Armen das Gesicht gegen die Wand pressen musste, schlüpfte der nackte Mann auf allen vieren aus der Zelle, hockte sich neben ihn und jaulte leise und jammervoll. Dies hatte das Gute, dass die rohen SS-Männer nicht ganz so roh mit Quangel umsprangen wie mit den anderen Transportgefangenen; ein Mann, der die Ergebenheit eines solchen Hundes gewonnen hatte, dieser Mann mit dem kalten, bösen Vogelgesicht machte sogar auf die Henkersknechte Eindruck.
Und als es dann »Abrücken!« hieß, als der Hund Karlchen in seine Zelle zurückgejagt wurde, da war das Gesicht Quangels nicht mehr nur kalt und böse, da empfand er in seinem Herzen einen leichten Druck, etwas wie Bedauern. Der Mann, der in seinem ganzen Leben sein Herz nur an einen Menschen, nämlich an seine Frau, gehängt hatte, sah den vielfachen Mörder, dieses Vieh von einem Menschen, nur ungern aus seinem Leben scheiden.
Vielleicht war es nur Schlamperei, dass Anna Quangel als Zellengefährtin nach Bertas Tode Trudel Hergesell bekam. Vielleicht aber war es auch so, dass die dem Herrn Kommissar Laub im Grunde ganz unwichtig waren. Man quetschte aus ihnen heraus, was sie wussten, was sie von ihren Kerlen erfahren hatten, und dann waren sie erledigt. Die wirklichen Verbrecher waren immer die Männer, die Weiber liefen nur so mit, was freilich nicht hinderte, dass sie mit ihren Männern hingerichtet wurden.
Ja, Berta war gestorben, diese Berta, die der Anna ganz harmlos die Anwesenheit ihrer Schwägerin verraten und dadurch den Zorn des Kommissars Laub auf ihr Haupt herabgezogen hatte. Sie war ausgelöscht wie ein Licht, in Anna Quangels Armen war sie, schwächer und schwächer werdend, gestorben, und mit stets leiserer Stimme hatte sie ihre Zellengefährtin nur angefleht, niemanden zu rufen. Berta, wie sie nun weiter heißen und was für ein Verbrechen sie auch begangen haben mochte, war plötzlich still geworden. Ein paarmal hatte es in ihrer Kehle noch gerasselt, sie hatte um Luft gekämpft, und dann war ein Blutstrom gekommen, Blut über Blut; die um die Schultern Annas geklammerten Arme hatten sich gelöst …
Da hatte sie gelegen, sehr weiß und sehr still – und Anna hatte sich voll Kummer gefragt, ob sie nicht mit Schuld an diesem Ende trug. Hätte sie zu dem Kommissar Laub nicht ihre Schwägerin erwähnt! Und dann dachte sie an Trudel Baumann, Trudel Hergesell, sie fing an zu zittern – die hatte sie wirklich verraten! Gewiss, gewiss, Entschuldigungen genug. Wie hatte sie ahnen können, welch Unheil aus der bloßen Erwähnung von Ottochens Braut entstehen würde! Aber dann war es weitergegangen, Schritt um Schritt, und schließlich war der Verrat offensichtlich gewesen, und sie hatte einen Menschen, an dem ihr Herz hing, unglücklich gemacht, und vielleicht nicht nur einen Menschen.
Wenn Anna Quangel daran dachte, sie müsse Trudel Hergesell Auge in Auge entgegentreten, sie werde ihr ins Gesicht ihre verräterischen Worte wiederholen müssen, so zitterte sie. Wenn sie aber an ihren Mann dachte, so war sie verzweifelt. Dann war sie überzeugt, dass dieser gewissenhafte, rechtliche Mann ihr diesen Verrat nie verzeihen würde und dass sie noch vor ihrem nahen Lebensende den einzigen Kameraden verlieren würde.
Wie habe ich nur so schwach sein können, klagte sich Anna Quangel an, und wenn sie zu einem Verhör zu Laub geholt wurde, bat sie bei sich nicht darum, dass er sie nicht quälen möge, sondern sie bat um Stärke, trotz aller Quälereien nichts auszusagen, was andere belasten konnte. Und diese kleine, schmächtige Frau beharrte darauf, ihren Teil der Last zu tragen und mehr als ihren Teil: sie, nur sie allein hatte – bis auf einen oder zwei Fälle – die Postkarten ausgetragen, und nur sie allein hatte sich ihren Inhalt ausgedacht und ihn dem Manne diktiert. Sie allein war die Erfinderin dieser Karten; weil ihr Sohn gefallen war, hatte sie diese Idee gefasst.
Der Kommissar Laub, der wohl merkte, dass ihre Aussagen erlogen waren, dass diese Frau gar nicht fähig zu den Dingen war, die getan zu haben sie behauptete – Kommissar Laub mochte schreien, drohen, quälen, so viel er wollte: sie unterschrieb kein anderes Protokoll, sie nahm nichts von diesen Aussagen zurück, und wenn er ihr zehn Mal bewies, dass sie nicht stimmen konnten. Laub hatte die Schraube überdreht, er war machtlos. Und wenn Anna von einem solchen Verhör wieder in den Keller gebracht wurde, hatte sie ein Gefühl der Erleichterung, als habe sie einen Teil ihrer Schuld abgebüßt, als könne Otto ein wenig zufrieden mit ihr sein. Und der Gedanke wurde stärker in ihr, dass sie vielleicht Ottos Leben retten könnte, wenn sie nur alle Schuld auf sich nahm …
Nach den Gewohnheiten des Gestapogefängnisses hatte man sich keineswegs beeilt, die tote Berta aus Annas Zelle zu entfernen. Es konnte wiederum nur Schlamperei, es konnte aber auch beabsichtigte Quälerei sein – jedenfalls lag die Tote schon den dritten Tag in der widerlich süßlich riechenden Zelle, als die Tür aufgeschlossen und gerade jene hineingestoßen wurde, deren Blicken zu begegnen Anna so große Angst hatte.
Trudel Hergesell tat einen Schritt in die Zelle. Ihre Augen sahen noch fast nichts, sie war zu Tode erschöpft, und die Angst um den nicht wieder zum Leben erwachten Karli, von dem man sie eben roh getrennt hatte, machte sie fast besinnungslos. Sie stieß einen leisen Schreckensruf aus, als sie den widerlichen Verwesungsgestank in der Zelle roch, als sie die Tote sah, die da jetzt fleckig und gedunsen auf der Holzpritsche lag.
Sie stöhnte: »Ich kann nicht mehr«, und Anna Quangel bewahrte das Opfer ihres Verrats vor dem Hinstürzen.
»Trudel!«, flüsterte sie an dem Ohr der halb Ohnmächtigen. »Trudel, kannst du mir verzeihen? Ich habe zuerst deinen Namen genannt, weil du doch Ottochens Braut warst. Und dann hat er mit seinen Quälereien alles aus mir herausgeholt. Ich verstehe es selbst nicht mehr. Trudel, sieh mich nicht so an, ich bitte dich! Trudel, solltest du nicht ein Kind bekommen? Habe ich auch das zerstört?«
Während Frau Anna Quangel so sprach, hatte sich Trudel Hergesell aus ihren Armen gelöst und war zum Eingang der Zelle zurückgegangen. Jetzt lehnte sie an der eisenbeschlagenen Tür und sah mit bleichem Gesicht zu der alten Frau hinüber, die sie, durch die Länge der Zelle getrennt, von der anderen Wand her ansah.
»Du warst es, Mutter?«, fragte sie. »Du hast das getan?«
Und mit einem plötzlichen Ausbruch: »Ach, es ist mir wahrhaftig nicht um mich! Aber sie haben mir den Karli ganz zerschlagen, und ich weiß nicht, ob er wieder zur Besinnung kommen wird. Vielleicht ist er jetzt schon tot.«
Die Tränen stürzten aus ihren Augen, als sie rief: »Und ich kann nicht zu ihm! Ich weiß nichts, und vielleicht werde ich Tage und Tage hier sitzen und nichts hören. Er ist dann schon tot und verscharrt, aber in mir lebt er noch immer. Und ein Kind werde ich auch nicht von ihm haben – wie arm ich plötzlich geworden bin! Noch vor ein paar Wochen, ehe ich den Vater traf, hatte ich alles, um glücklich zu sein, und ich war auch glücklich! Und jetzt habe ich nichts mehr. Nichts! Ach, Mutter …«
Und sie setzte plötzlich hinzu: »Aber an der Fehlgeburt bist du nicht schuld, Mutter. Die war schon, als noch nichts geschehen war.«
Plötzlich eilte Trudel Hergesell schwankend durch die Zelle, sie hing ihren Kopf an Annas Brust und klagte: »Ach, Mutter, wie unglücklich bin ich doch geworden! Sage doch du mir, dass Karli es lebend überstehen wird!«
Und Anna Quangel küsste sie – und flüsterte: »Er wird leben, Trudel, und auch du wirst leben! Ihr habt doch nichts Böses getan!«
Eine Weile hielten sie sich umfasst und waren ganz still. Eines ruhte in der Liebe des anderen, ein wenig Hoffnung rührte sich wieder.
Dann schüttelte die Trudel den Kopf, und sie sagte: »Nein, auch wir werden nicht heil davonkommen. Sie haben zu viel herausgefunden. Es ist wahr, was du sagst: eigentlich haben wir nichts Böses getan. Der Karli hat für einen anderen einen Koffer aufbewahrt, ohne zu wissen, was darin ist, und ich habe für den Vater eine Postkarte abgelegt. Aber sie sagen, das ist Hochverrat und kostet den Kopf.«
»Das hat sicher der Laub gesagt, dieser schreckliche Kerl!«
»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber das ist mir auch ganz egal. So sind sie doch alle! Auch die auf der Aufnahme hier, alle sind sie sich gleich. Aber es ist vielleicht ganz gut, dass es so viel ist: Jahre und Jahre in einem Zuchthaus sitzen …«
»Die Herrschaft von denen wird nicht mehr Jahre und Jahre dauern, Trudel!«
»Wer weiß? Und was haben sie alles den Juden und den anderen Völkern antun dürfen – ohne Strafe! Glaubst du wirklich, dass es Gott gibt, Mutter?«
»Ja, Trudel, das glaube ich. Otto wollte es ja immer nicht erlauben, aber das ist mein einziges Geheimnis vor ihm: ich glaube noch an Gott.«
»Ich habe nie so recht an ihn glauben können. Aber es wäre schön, wenn es Gott gäbe, denn dann wüsste ich doch, Karli und ich würden nach dem Tode zusammen sein!«
»Das werdet ihr, Trudel. Sieh einmal, auch Otto glaubt nicht an Gott. Er sagt, er weiß, mit diesem Leben ist alles zu Ende. Aber ich weiß, ich werde mit ihm zusammen sein nach unserm Tode, immer und ewig. Das weiß ich, Trudel!«
Trudel sah zu der Pritsche hinüber mit der stillen Gestalt, sie ängstigte sich.
Sie sagte: »Sie sieht nicht gut aus, diese Frau da! Ich habe Angst, wenn ich sie ansehe, mit ihren Totenflecken und so aufgetrieben! Ich möchte nicht so daliegen, Mutter!«
»Sie liegt schon den dritten Tag so, Trudel, sie holen sie ja nicht weg. Sie sah sehr schön aus, als sie gestorben war, so still und feierlich. Aber jetzt ist die Seele aus ihr entflohen, jetzt liegt sie da wie ein Stück verdorbenes Fleisch.«
»Sie sollen sie fortholen! Ich kann sie nicht ansehen! Ich will diesen Gestank nicht mehr atmen!«
Und ehe Anna Quangel es noch hatte hindern können, war Trudel zur Tür geeilt. Mit den Händen trommelte sie gegen das Eisenblech und schrie: »Aufmachen! Sofort aufmachen! Hört doch!«
Das war verboten, jedes Lärmen war verboten, eigentlich war sogar jedes Sprechen verboten.
Anna Quangel eilte zu Trudel, sie hielt ihre Hände fest, zog sie von der Tür fort und flüsterte angstvoll: »Das darfst du nicht tun, Trudel! Das ist verboten! Sie werden hereinkommen und dich schlagen!«
Aber es war schon zu spät. Das Schloss knackte, und herein stürzte ein riesenlanger SS-Mann mit erhobenem Gummiknüttel. »Was habt ihr hier zu schreien, ihr Nutten?«, brüllte er. »Habt ihr etwa Befehle zu geben, ihr Hurengesindel?«
Die beiden Frauen sahen ihn aus einem Winkel angstvoll an.
Er ging nicht zu ihnen, sie zu schlagen. Er ließ den Totschläger sinken und murmelte:
»Das stinkt ja hier wie ein ganzer Leichenkeller! Wie lange liegt die denn schon hier?«
Er war ein blutjunger Bursche, sein Gesicht war blass geworden.
»Schon den dritten Tag«, sagte Frau Anna. »Ach, seien Sie doch so gut und sehen Sie, dass die Tote aus der Zelle kommt! Man kann hier wirklich nicht mehr atmen!«
Der SS-Mann murmelte etwas und ging aus der Zelle. Aber er verschloss die Tür nicht wieder, er lehnte sie nur an.
Leise schlichen die beiden an die Tür, stießen sie ein wenig weiter auf, nur ein wenig weiter, und atmeten durch den Spalt die aus Desinfektions- und Abortgerüchen gemischte Luft des Ganges wie ein Labsal.
Dann zogen sie sich wieder zurück, denn der junge SS-Mann kam den Gang herauf.
»So!«, sagte er und hatte einen Zettel in der Hand. »Dann fasst man fix an! Du, Alte, nimm sie bei den Beinen, und du, Junge, nimm sie beim Kopf. Los mit euch – ihr werdet doch solch ein Gerippe tragen können?!«
Sein Ton war bei all seiner Rauheit fast gutmütig, er half auch beim Tragen.
Sie gingen einen langen Gang hinauf, dann wurde eine eiserne Gittertür geschlossen, ihr Begleiter wies einem Posten seinen Zettel, und nun ging es viele steinerne Treppen hinab. Es wurde feucht, das elektrische Licht brannte düster.
»Da!«, sagte der SS-Mann und schloss eine Tür auf. »Das ist der Leichenkeller. Legt sie hierher auf die Pritsche. Aber zieht sie aus. Kleider sind knapp. Es wird alles gebraucht!«
Er lachte, aber sein Lachen klang gezwungen.
Die Frauen stießen einen Schrei des Entsetzens aus. Denn in diesem wahrhaften Leichenkeller lagen tote Männer und Frauen, und alle nackt, wie sie auf die Welt gekommen waren. Da lagen sie, mit zerschlagenen Gesichtern, mit blutigen Striemen, mit verdrehten Gliedern, krustig von Blut und Schmutz. Niemand hatte sich die Mühe genommen, ihnen die Augen zuzudrücken, sie starrten tot, und manche schienen auch tückisch zu blinzeln, als seien sie neugierig und freuten sich über den Zuwachs, der ihnen da zugetragen wurde.
Und während Anna und Trudel sich mit zitternden Händen mühten, die tote Berta möglichst rasch ihrer Kleider zu entledigen, konnten sie es doch nicht lassen, immer wieder neu einen Blick hinter sich auf die Versammlung der Toten zu werfen, auf diese Mutter, deren lang herabhängende Brust für immer versiegt war, auf einen alten Mann, der so sicher gehofft hatte, nach einem arbeitsreichen Leben ruhig in seinem Bett zu sterben, nach jenem jungen, weißlippigen Mädchen, das erschaffen war, Liebe zu geben und zu empfangen, nach dem Burschen mit der zerschmetterten Nase und einem ebenmäßigen Körper, der wie gelb gewordenes Elfenbein aussah.
Es war still in diesem Raum, ganz leise raschelten unter den Händen der beiden Frauen die Kleider der toten Berta. Dann summte eine Fliege, und alles war wieder still.
Der SS-Mann sah, die Hände in den Taschen, den beiden Frauen bei ihrer Arbeit zu. Er gähnte, er brannte sich eine Zigarette an und sagte: »Ja, ja, so ist das Leben!« Und wieder war alles still.
Dann, als Anna Quangel die Kleider zu einem Bündel verschnürt hatte, sagte er: »Also gehen wir!«
Aber Trudel Hergesell legte ihm die Hand auf den schwarzen Ärmel und bat: »Oh, bitte, bitte! Erlauben Sie mir doch, dass ich einmal hier nachsehe! Mein Mann – vielleicht liegt er auch hier unten …«
Er sah einen Augenblick auf sie herunter. Plötzlich sagte er: »Mädel! Mädel! Was machst du hier?« Er bewegte langsam den Kopf hin und her. »Ich hab ’ne Schwester auf unserm Dorf, sie muss so alt sein wie du.« Er sah noch einmal auf sie. »Also, sieh nach. Aber mach schnell!«
Sie ging leise zwischen den Toten umher. Sie sah in all diese Gesichter, die ausgelöscht waren. Manche waren durch Wunden so entstellt, dass sie nicht zu erkennen waren, aber die Haarfarbe, ein Mal am Körper verriet ihr, dass es nicht Karl Hergesell sein konnte.
Sie kam zurück, sehr bleich.
»Nein, er ist nicht hier. Noch nicht.«
Der Posten vermied ihren Blick. »Also denn los!«, sagte er und ließ sie vorangehen.
Aber solange er an diesem Tage Wache hatte auf ihrem Zellengang, öffnete er immer wieder mal die Tür, damit sie bessere Luft in die Zelle bekämen. Er brachte ihnen auch frische Wäsche für das Bett der Toten – und das war in dieser erbarmungslosen Hölle ein sehr großes Erbarmen.
An diesem Tage hatte Kommissar Laub nicht viel Erfolg mit der Vernehmung der beiden Frauen. Sie hatten einander getröstet, und sie hatten ein bisschen Sympathie zu fühlen bekommen, sogar von einem SS-Mann, sie waren stark.
Aber es kamen noch so viele Tage, und dieser SS-Mann tat nie wieder Dienst auf ihrem Flur. Er war wohl als ungeeignet abgelöst, er war noch zu sehr Mensch, um hier Dienst zu tun.