Einem Ton wie dem eben ist der Barkhausen einfach nicht gewachsen. Wenn er so angeschnauzt wird, kriecht er ganz in sich zusammen, hat bloß Angst. Er flüstert demütig: »Entschuldigen Sie bloß, Herr Persicke! Wollte mir nur mal ’nen kleinen Spaß mit der ollen Jüdschen machen!«
Der Baldur legt vor angestrengtem Nachdenken die Stirne in Falten. Nach einer Weile sagt er: »Klauen wolltste, du Aas, das ist dein Spaß mit der ollen Jüdschen. Na, geh voran!«
So grob die Worte auch waren, so klangen sie doch zweifelsfrei wohlwollender; für so was hatte Barkhausen ein feines Ohr. So sagt er denn mit einem für den Witz um Entschuldigung bittenden Lächeln: »Ick klau doch nicht, Herr Persicke, ick organisier bloß manchmal ein bisschen!«
Baldur Persicke erwidert das Lächeln nicht. Mit solchen Leuten macht er sich nicht gemein, wenn sie auch manchmal nützlich sein können. Er klettert nur vorsichtig hinter Barkhausen die Treppe hinunter.
Beide Männer sind so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie darauf nicht achthaben, dass die Flurtür bei den Quangels jetzt nur angelehnt ist. Und sie wird sofort wieder geöffnet, als die beiden Männer vorüber sind. Anna Quangel huscht ans Treppengeländer und lauscht hinunter.
Vor der Flurtür der Persickes hebt Barkhausen stramm die Hand zum deutschen Gruß: »Heil Hitler, Herr Persicke! Und ich danke Ihnen auch schön!«
Wofür er eigentlich dankt, weiß er selbst nicht so genau. Vielleicht, weil er nicht mit dem Fuß in den Hintern getreten und die Treppe hinuntergeworfen ist. Er hätte sich das ja auch gefallen lassen müssen, solch kleiner Pinscher wie er ist.
Baldur Persicke erwidert den Gruß nicht. Er starrt den anderen mit seinen glasigen Augen an und erreicht, dass der nach kurzem zu blinzeln anfängt und den Blick zur Erde senkt. Baldur fragt: »Du wolltest dir also einen Spaß mit der alten Rosenthal machen?«
»Ja«, antwortet Barkhausen leise mit gesenktem Blick.
»Was denn für ’nen Spaß?«, wird er weiter gefragt. »Bloß so Firma Klau und Lange?«
Barkhausen riskiert einen raschen Blick in das Gesicht seines Gegenübers. »Och!«, sagt er. »Ich hätte ihr auch schon die Fresse lackiert!«
»So!«, antwortet der Baldur nur. »So!«
Eine Weile stehen sie schweigend. Der Barkhausen überlegt, ob er jetzt gehen darf, aber eigentlich hat er noch nicht den Befehl zum Abtreten bekommen. So wartet er stumm, mit wieder gesenktem Blick, weiter.
»Geh da mal rein!«, sagt Persicke plötzlich mit sehr mühsamer Zunge. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf die offene Flurtür der Persickes. »Vielleicht habe ich dir noch was zu sagen. Mal sehen!«
Barkhausen marschiert, wie vom weisenden Zeigefinger befohlen, schweigend in die Wohnung der Persickes. Baldur Persicke folgt ein wenig schwankend, aber in soldatischer Haltung. Die Tür schlägt hinter beiden zu.
Oben löst sich Frau Anna Quangel vom Treppengeländer und schleicht in die eigene Wohnung zurück, deren Tür sie sachte ins Schloss gleiten lässt. Warum sie die beiden eigentlich bei ihrem Gespräch, erst oben vor der Wohnung der Frau Rosenthal, dann unten vor Persickes Tür, belauscht hat, sie weiß es nicht. Sie folgt sonst ganz der Gewohnheit ihres Mannes: die Mitbewohner können tun und lassen, was sie wollen. Frau Annas Gesicht ist noch immer krankhaft weiß, und in ihren Augenlidern ist ein irritiertes Zucken. Ein paarmal schon hätte sie sich gerne hingesetzt und geweint, aber sie kann es nicht. Ihr gehen Redensarten durch den Kopf wie: »Es drückt mir das Herz ab«, oder: »Es hat mich vor den Kopf geschlagen«, oder: »Es steht mir vor dem Magen«. Von all dem empfindet sie etwas, aber auch noch dies: »Die sollen mir nicht ungestraft meinen Jungen umgebracht haben. Ich kann auch anders sein …«
Wieder weiß sie nicht, was sie mit dem Anderssein meint, aber dies Lauschen eben war vielleicht schon ein Anfang davon. Otto wird nicht mehr alles allein bestimmen können, denkt sie auch noch. Ich will auch mal tun können, was ich will, auch wenn es ihm nicht passt.
Sie macht sich eifrig an die Fertigstellung des Essens. Die meisten Lebensmittel, die sie beide auf Karten zugeteilt erhalten, bekommt er. Er ist nicht mehr jung und muss ständig über seine Kraft arbeiten; sie kann viel sitzen und Näharbeit tun, also versteht sich solche Teilung von selbst.
Während sie noch mit ihren Kochtöpfen hantiert, verlässt Barkhausen wieder die Wohnung der Persickes. Sobald er die Treppe hinuntersteigt, verliert seine Haltung all das Kriecherische, das sie vor denen hatte. Er geht aufrecht über den Hof, sein Magen ist angenehm von zwei Schnäpsen erwärmt, und in der Tasche hat er zwei Zehnmarkscheine, einer von ihnen wird Ottis üble Laune besänftigen.
Aber als er die Stube im Souterrain betritt, ist Otti keiner üblen Laune. Auf dem Tisch liegt eine weiße Decke, und Otti sitzt mit einem Barkhausen nicht bekannten Manne auf dem Sofa. Der Fremde, der gar nicht schlecht angezogen ist, zieht hastig seinen Arm, der um Ottis Schulter lag, zurück. Aber das hätte er gar nicht zu tun brauchen, in so was war Barkhausen nie heikel.
Er denkt: Kiek mal, das alte Aas, solche fängt sie sich auch ein! Der ist mindestens Bankangestellter oder Lehrer …
In der Küche heulen und jaulen die Kinder. Barkhausen bringt jedem eine dicke Scheibe von dem Brot, das auf dem Tisch steht. Dann fängt er selber zu frühstücken an, es ist sowohl Brot wie Wurst wie Schnaps da. Für was so ein Freier alles gut ist! Er streift den Mann auf dem Sofa mit einem zufriedenen Blick. Der Mann scheint sich nicht so wohl wie Barkhausen zu fühlen.
Darum geht Barkhausen auch schnell, sobald er ein bisschen gegessen hat. Er will den Freier um Gottes willen nicht vergraulen! Das Gute ist, dass er nun die ganzen zwanzig Mark für sich behalten kann. Barkhausen richtet seine Schritte nach der Rollerstraße; er hat von einer Kneipe dort gehört, wo die Leute besonders leichtsinnig reden sollen. Vielleicht lässt sich da was machen. Man kann jetzt in Berlin überall Fische fangen. Und wenn nicht bei Tage, dann bei Nacht.
Wenn Barkhausen an die Nacht denkt, zuckt es immer wie Lachen hinter seinem lose herabhängenden Schnurrbart. Dieser Baldur Persicke, alle diese Persickes, was für ’ne Bande! Aber ihn sollen sie nicht für dumm verkaufen, ihn nicht! Sie sollen bloß nicht glauben, bei ihm ist es mit zwanzig Mark und zwei Schnäpsen getan. Vielleicht kommt noch mal die Zeit, wo er alle diese Persickes in die Tasche steckt. Er muss nur jetzt demütig und schlau sein.
Dabei fällt Barkhausen ein, dass er noch vor der Nacht einen gewissen Enno finden muss, Enno ist vielleicht der richtige Mann für so was. Aber keine Angst, den Enno findet er schon. Der macht täglich seine Runde durch nur drei oder vier Lokale, wo die kleinen Rennwetter verkehren. Wie dieser Enno wirklich heißt, das weiß Barkhausen nicht. Er kennt ihn nur aus den paar Lokalen, wo ihn alle Enno rufen. Er wird ihn schon finden, und er wird vielleicht sogar der richtige Mann sein.
1 Winterhilfswerk des Deutschen Volkes; organisierte Sammelaktionen zur Unterstützung Bedürftiger <<<
2 Die Hitlerjugend oder Hitler-Jugend war die Jugend- und Nachwuchsorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. <<<
So leicht Otto Quangel auch in die Fabrik gekommen war, so schwer war es zu erreichen, dass die Trudel Baumann zu ihm herausgerufen wurde. Sie arbeiteten hier nämlich – übrigens genau wie in Quangels Fabrik – nicht nur im Akkord, sondern jede Arbeitsstube musste auch ein bestimmtes Pensum schaffen, da kam es oft auf jede Minute an.
Aber schließlich erreicht Quangel doch sein Ziel, schließlich ist der andere genauso ein Werkmeister wie er selbst. Man kann einem Kollegen so was schlecht abschlagen, besonders wenn grade der Sohn gefallen ist. Das hat Quangel nun doch sagen müssen, bloß um die Trudel zu sehen zu kriegen. Daraus folgt, dass er’s ihr auch selber sagen muss, gegen die Bitte der Frau, sonst würde es ihr der Werkmeister erzählen. Hoffentlich gibt’s kein Geschrei und vor allem keine Umfallerei. Eigentlich ein Wunder, wie die Anna sich gehalten hat – nun, die Trudel steht auch auf festen Beinen.
Da kommt sie endlich, und Quangel, der nie ein anderes Verhältnis als das zu seiner Frau gehabt hat, muss sich gestehen, dass sie reizend aussieht mit ihrem Wuschelkopf dunkler, plustriger Haare, dem runden Gesicht, dem keine Fabrikarbeit die frischen Farben hat nehmen können, mit den lachenden Augen und der hohen Brust. Selbst jetzt, wo sie wegen der Arbeit lange blaue Hosen trägt und einen alten, vielfach gestopften Jumper, der voll von Garnresten hängt, selbst jetzt sieht sie reizend aus. Das Schönste an ihr ist aber vielleicht ihre Art, sich zu bewegen, alles sprüht von Leben, jeden Schritt scheint sie gerne zu tun: sie quillt über vor Lebensfreude.
Ein Wunder eigentlich, denkt Otto Quangel flüchtig, dass solch eine Trantute wie der Otto, so ein von der Mutter verpimpeltes Söhnchen, sich solch ein Prachtmädel einhandeln konnte. Aber, verbessert er sich gleich, was weiß ich denn vom Otto? Ich habe ihn ja eigentlich nie richtig gesehen. Er muss ganz anders gewesen sein, wie ich gedacht habe. Und mit den Radios hat er wirklich was losgehabt, die Meister haben sich doch alle um ihn gerissen.
»Tag, Trudel«, sagt er und gibt ihr seine Hand, in die rasch und kräftig ihre warme, mollige schlüpft.
»Tag, Vater«, antwortet sie. »Nun, was ist los bei euch zu Haus? Hat Muttchen mal wieder Sehnsucht nach mir, oder hat Otto geschrieben? Ich will sehen, dass ich möglichst bald mal bei euch reinschaue.«
»Es muss schon heute Abend sein, Trudel«, sagte Otto Quangel. »Die Sache ist nämlich die …«
Aber er spricht seinen Satz nicht zu Ende. Trudel ist in ihrer raschen Art schon in die Tasche der blauen Hose gefahren und hat einen Taschenkalender hervorgeholt, in dem sie jetzt blättert. Sie hört nur mit halbem Ohr zu, nicht der richtige Augenblick, um ihr so was zu sagen. So wartet denn Quangel geduldig, bis sie gefunden hat, was sie sucht.
Diese Zusammenkunft der beiden findet in einem langen, zugigen Gange statt, dessen getünchte Wände ganz vollgepflastert mit Plakaten sind. Unwillkürlich fällt Quangels Blick auf ein Plakat, das schräg hinter Trudel hängt. Er liest ein paar Worte, die fettgedruckte Überschrift: »Im Namen des deutschen Volkes«, dann drei Namen und: »wurden wegen Landes- und Hochverrates zum Tode durch den Strang verurteilt. Die Hinrichtung wurde heute Morgen in der Strafanstalt Plötzensee vollzogen.«
Ganz unwillkürlich hat er mit beiden Händen die Trudel gefasst und sie so weit zur Seite gezogen, dass sie nicht mehr vor dem Plakat steht. »Wieso?«, hat sie erst überrascht gefragt, dann sind ihre Augen dem Blick der seinen gefolgt, und sie liest auch das Plakat. Sie gibt einen Laut von sich, der alles bedeuten kann: Protest gegen das Gelesene, Ablehnung von Quangels Tun, Gleichgültigkeit, aber jedenfalls kehrt sie nicht an den alten Platz zurück. Sie sagt und steckt den Kalender wieder in die Tasche: »Heute Abend geht’s unmöglich, Vater, aber morgen werde ich gegen acht bei euch sein.«
»Es muss aber heute Abend gehen, Trudel!«, widerspricht Otto Quangel. »Es ist nämlich Nachricht gekommen über Otto.« Sein Blick ist noch schärfer geworden, er sieht, wie das Lachen aus ihrem Blick schwindet. »Der Otto ist nämlich gefallen, Trudel.«
Es ist seltsam, derselbe Laut, den Otto Quangel bei dieser Nachricht von sich gegeben hat, kommt jetzt aus Trudels Brust, ein tiefes »Oh …!«. Einen Augenblick sieht sie den Mann mit schwimmenden Augen an, ihre Lippen zittern; dann wendet sie das Gesicht zur Wand, sie lehnt ihre Stirn gegen sie. Sie weint, aber sie weint lautlos. Quangel sieht wohl ihre Schultern beben, aber er hört keinen Laut.
Tapferes Mädel!, denkt er. Wie sie doch am Otto gehangen hat! In seiner Art ist er auch tapfer gewesen, hat nie mit diesen Scheißkerlen mitgemacht, hat sich nicht von der HJ1 gegen seine Eltern aufhetzen lassen, war immer gegen das Soldatenspielen und gegen den Krieg. Dieser verdammte Krieg!
Er hält inne, erschrocken über das, was er da eben gedacht hat. Verändert er sich nun auch schon? Das war ja eben beinahe so etwas wie Annas ›Du und dein Hitler!‹.
Dann sieht er, dass Trudel mit der Stirne nun grade gegen jenes Plakat lehnt, von dem er sie eben erst fortgezogen hat. Über ihrem Kopf steht in Fettschrift zu lesen: »Im Namen des deutschen Volkes«, ihre Stirn verdeckt die Namen der drei Gehängten …
Und wie eine Vision steigt es vor ihm auf, dass eines Tages solch ein Plakat mit den Namen von ihm und Anna und Trudel an den Wänden kleben könnte. Er schüttelt unmutig den Kopf. Er ist ein einfacher Handarbeiter, der nur seine Ruhe haben und nichts von Politik wissen will, Anna kümmert sich nur um ihren Haushalt, und solch ein bildhübsches Mädel wie die Trudel dort wird bald einen neuen Freund gefunden haben …
Aber die Vision ist hartnäckig, sie bleibt. Unsere Namen an der Wand, denkt er, nun völlig verwirrt. Und warum eigentlich nicht? Am Galgen hängen ist auch nicht schlimmer, als von einer Granate zerrissen zu werden oder am Bauchschuss krepieren! Das alles ist nicht wichtig. Was allein wichtig ist, das ist: Ich muss rauskriegen, was das mit dem Hitler ist. Erst schien doch alles gut zu sein, und nun plötzlich ist alles schlimm. Plötzlich sehe ich nur Unterdrückung und Hass und Zwang und Leid, so viel Leid … Ein paar Tausend, hat dieser feige Spitzel, der Barkhausen, gesagt. Als wenn es auf die Zahl ankäme! Wenn nur ein einziger Mensch ungerecht leidet, und ich kann es ändern, und ich tue es nicht, bloß weil ich feige bin und meine Ruhe zu sehr liebe, dann …
Hier wagt er nicht weiterzudenken. Er hat Angst, richtig Angst davor, wohin ihn ein solcher zu Ende gedachter Gedanke führen kann. Sein ganzes Leben müsste er dann vielleicht ändern!
Stattdessen starrt er wieder auf das Mädchen, über dessen Kopf »Im Namen des deutschen Volkes« zu lesen ist. Nicht grade gegen dieses Plakat gelehnt, sollte sie weinen. Er kann der Versuchung nicht widerstehen, er dreht ihre Schulter von der Wand fort und sagt, so sanft er kann: »Komm, Trudel, nicht gegen dieses Plakat …«
Einen Augenblick starrt sie die gedruckten Worte verständnislos an. Ihr Auge ist schon wieder trocken, ihre Schultern beben nicht mehr. Dann kommt wieder Leben in ihren Blick, nicht das alte, frohe Leuchten, mit dem sie diesen Gang betreten, sondern etwas dunkel Glühendes. Sie legt ihre Hand fest und doch zärtlich an die Stelle, wo das Wort »gehängt« steht. »Ich werd nie vergessen, Vater«, sagt sie, »dass ich grade vor so einem Plakat wegen Otto geheult habe. Vielleicht – ich möcht’s nicht –, aber vielleicht wird auch mal mein Name auf so einem Wisch stehen.«
Sie starrt ihn an. Er hat das Gefühl, sie weiß nicht genau, was sie spricht. »Mädel!«, ruft er erschrocken. »Besinn dich! Wie sollst du und solch ein Plakat … Du bist jung, das ganze Leben liegt vor dir. Du wirst wieder lachen, du wirst Kinder haben …«
Sie schüttelt trotzig den Kopf. »Ich krieg keine Kinder, solange ich nicht bestimmt weiß, sie werden mir nicht totgeschossen. Solange irgend so ein General sagen kann: Marschier und krepier! Vater«, fährt sie fort und fasst jetzt seine Hand fest in die ihre, »Vater, kannst du denn wirklich wie bisher weiterleben, jetzt, wo sie dir deinen Otto totgeschossen haben?«
Sie sieht ihn eindringlich an, und wieder wehrt er sich gegen das Fremde, das in ihn eindringt. »Die Franzosen«, murmelt er.
»Die Franzosen!«, ruft sie empört. »Redest du dich auf so was raus? Wer hat denn die Franzosen überfallen? Na wer, Vater? Sag doch!«
»Aber was können wir denn tun?«, wehrt sich Otto Quangel verzweifelt gegen dieses Drängen. »Wir sind nur ein paar, und all die Millionen sind für ihn, und jetzt nach diesem Siege gegen Frankreich erst recht. Gar nichts können wir tun!«
»Viel können wir tun!«, flüstert sie eifrig. »Wir können die Maschinen in Unordnung bringen, wir können schlecht und langsam arbeiten, wir können deren Plakate abreißen und andere ankleben, in denen wir den Leuten sagen, wie sie belogen und betrogen werden.« Sie flüstert noch leiser: »Aber die Hauptsache ist, dass wir anders sind als die, dass wir uns nie dazu kriegen lassen, so zu sein, so zu denken wie die. Wir werden eben keine Nazis, und wenn die die ganze Welt besiegen!«
»Und was erreichen wir damit, Trudel?«, fragt Otto Quangel leise. »Ich sehe nicht, was wir damit erreichen.«
»Vater«, antwortet sie. »Ich hab’s im Anfang auch nicht verstanden, und ganz richtig versteh ich’s noch immer nicht. Aber, weißt du, wir haben hier so im Geheimen eine kommunistische Zelle im Betrieb gebildet, ganz klein erst, drei Männer und ich. Da ist einer bei uns, der hat’s mir zu erklären versucht. Wir sind, hat er gesagt, wie der gute Same in einem Acker voll Unkraut. Wenn der gute Same nicht wäre, stünde der ganze Acker voller Unkraut. Und der gute Same kann sich ausbreiten …«
Sie hält inne, als sei sie über etwas zutiefst erschrocken.
»Was ist, Trudel?«, fragt er. »Das mit dem guten Samen, das ist kein schlechter Gedanke. Ich werde darüber nachdenken, ich habe so viel nachzudenken in nächster Zeit.«
Aber sie sagt voll Scham und Reue: »Nun habe ich das mit der Zelle doch ausgeplappert, und ich habe doch heilig geschworen, es keinem einzigen Menschen zu verraten!«
»Darüber mach dir keine Gedanken, Trudel«, sagt Otto Quangel, und seine Ruhe überträgt sich unwillkürlich auf das gequälte Ding. »Bei dem Otto Quangel geht so was zum einen Ohr rein und zum anderen raus. Ich weiß von nichts mehr.« Mit einer grimmigen Entschlossenheit starrt er jetzt auf das Plakat. »Da könnte die ganze Gestapo kommen, ich weiß eben von nichts mehr. Und«, setzt er hinzu, »und wenn du willst, und es macht dich ruhiger, so kennst du uns eben von dieser Stunde an nicht mehr. Du brauchst auch heute Abend nicht mehr zu Anna zu kommen, ich mach’s ihr schon irgendwie mundgerecht, ohne ihr etwas zu sagen.«
»Nein«, antwortet sie darauf, sicher geworden. »Nein. Zur Mutter gehe ich heute Abend noch. Aber ich werde es den anderen sagen müssen, dass ich mich verplappert habe, und vielleicht wird dich einer vernehmen, um zu sehen, ob du auch zuverlässig bist.«
»Die sollen mir nur kommen!«, sagt Otto Quangel drohend. »Ich weiß von nichts. Ich hab mit Politik noch nie was zu tun gehabt, mein ganzes Leben lang nicht. Auf Wiedersehen, Trudel. Ich werde dich wohl heute nicht mehr sehen, vor zwölfe komme ich fast nie von der Arbeit zurück.«
Sie gibt ihm die Hand und geht dann den Gang zurück, in das Innere der Fabrik hinein. Sie steckt nicht mehr so voll von sprühendem Leben, aber sie ist immer noch voller Kraft. Gutes Mädel!, denkt Quangel. Tapferer Kerl!
Dann steht Quangel allein auf dem Gang mit seinen Plakaten, die in dem ewigen Zug leise rascheln. Er schickt sich an zu gehen. Aber vorher tut er noch etwas, das ihn selbst überrascht: Er nickt dem Plakat, an dem Trudel weinte, zu – mit einer grimmigen Entschlossenheit.
Im nächsten Augenblick schämt er sich seines Tuns. Das ist ja blöde Fatzkerei! Dann macht er, dass er nach Hause kommt. Es ist die allerhöchste Zeit, er muss sogar eine Elektrische nehmen, was seinem Sparsinn, der manchmal fast an Geiz grenzt, verhasst ist.
1 Die Hitlerjugend oder Hitler-Jugend (abgekürzt HJ) war die Jugend- und Nachwuchsorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). <<<