Der Überfall Hitlers auf Russland hatte Quangels Zorn auf diesen Tyrannen neue Nahrung verliehen. Dieses Mal hatte Quangel das Werden eines solchen Überfalls in allen Einzelheiten verfolgt. Nichts war ihm überraschend gekommen, von den ersten Truppenansammlungen an »unsern Grenzen« bis zu dem Einmarsch. Er hatte von vornherein gewusst, dass sie logen, diese Hitler, Goebbels, Fritzsche,1 jedes Wort war erstunken und erlogen. Niemanden konnten sie in Frieden lassen, und in zorniger Entrüstung hatte er auf eine der Karten geschrieben: »Was haben denn die russischen Soldaten getan, als Hitler sie überfiel? Karten haben sie gespielt, keiner hat in Russland an Krieg gedacht!«
Wenn er jetzt in der Werkstatt an eine Gruppe Schwatzender herantrat, so wünschte er manchmal, wenn sie von Politik sprachen, sie möchten nicht so schnell auseinandergehen. Er hörte jetzt gerne, was andere über den Krieg sagten.
Aber sie versanken sofort in mürrisches Schweigen, es war sehr gefährlich geworden, zu schwatzen. Der vergleichsweise harmlose Tischler Dollfuß war längst abgelöst worden; wer sein Nachfolger war, konnte Quangel nur mutmaßen. Elf seiner Leute, darunter zwei Männer, die schon über zwanzig Jahre in der Möbelfabrik gearbeitet hatten, waren spurlos verschwunden, mitten aus der Arbeit heraus, oder sie kamen eines Morgens nicht mehr. Nie wurde gesagt, wo sie geblieben waren, und das war ein Beweis mehr dafür, dass sie irgendwann einmal ein Wort zu viel gesprochen hatten und darum ins KZ gewandert waren.
Statt dieser elf Mann waren neue Gesichter aufgetaucht, und oft fragte sich der alte Werkmeister, ob nicht alle diese elf Spitzel waren, ob nicht überhaupt die eine Hälfte der Belegschaft die andere belauerte und umgekehrt. Die Luft stank nach Verrat. Keiner konnte dem anderen noch trauen, und in dieser schrecklichen Atmosphäre schienen die Leute immer mehr gegen alles abzustumpfen, wurden nur noch zu Teilen der Maschinen, die sie bedienten.
Aber manchmal flammte dann aus dieser Dumpfheit ein schrecklicher Zorn hoch, so wie damals, als ein Arbeiter den Arm gegen die Säge gepresst und dabei geschrien hatte: »Verrecken soll der Hitler! Und er wird verrecken! So wahr ich mir meinen Arm absäge!«
Sie hatten diesen Wahnsinnigen nur schwer aus der Maschine reißen können, und natürlich hatten sie nie wieder etwas von ihm gehört. Wahrscheinlich war er längst tot, hoffentlich war er das! Ja, man musste verflucht vorsichtig sein, nicht jeder stand so unbeargwohnt da wie dieses alte, stumpf gewordene Arbeitstier Otto Quangel, den nur noch zu interessieren schien, ob sie auch ihr Tagesquantum Särge schafften. Ja, Särge! Von den Bombenkisten waren sie zu Särgen hinabgesunken, elenden Dingern aus billigstem, dünnstem Ausschussholz, braunschwarz angeschmiert. Sie stellten Tausende und Zehntausende von diesen Särgen her, Güterzüge, einen Bahnhof voll von Güterzügen, viele Bahnhöfe voll!
Quangel, seinen Kopf achtsam nach jeder Maschine gereckt, dachte oft an all die vielen Leben, die in diesen Särgen zu Grabe getragen werden würden, hingemordetes Leben, nutzlos hingemordetes Leben, sei es nun, dass diese Särge für die Opfer der Bombenangriffe bestimmt waren, also hauptsächlich für alte Leute, für Mütter und Kinder …, oder sei es wahr, dass diese Särge in die KZs wanderten, jede Woche ein paar tausend Stück, für Männer, die ihre Überzeugung nicht hatten verbergen können oder sie nicht verbergen wollten, jede Woche ein paar tausend Särge in ein einziges KZ. Oder vielleicht traten diese Güterzüge mit Särgen wirklich den weiten Weg an die Fronten an – obwohl Otto Quangel das eigentlich nicht glauben wollte, denn was kümmerten die sich um tote Soldaten! Ein toter Soldat war ihnen nicht mehr wert als ein toter Maulwurf.
Das kalte Vogelauge blinkt im elektrischen Licht hart und böse, ruckweise bewegt sich der Kopf, der schmallippige Mund ist fest zusammengepresst. Von dem Aufruhr, dem Abscheu, die in dieses Mannes Brust leben, ahnt niemand etwas, aber er weiß, er hat noch viel zu tun, er weiß, dass er zu einer großen Aufgabe berufen ist, und er schreibt nun nicht mehr nur am Sonntag. Er schreibt auch wochentags vor dem Arbeitsbeginn. Seit dem Überfall auf Russland schreibt er auch dann und wann Briefe, die ihn zwei Tage Arbeit kosten, aber sein Zorn muss sich Luft machen.
Quangel gesteht es sich ein, er arbeitet nicht mehr mit der alten Vorsicht. Er ist denen nun schon zwei Jahre glücklich entgangen, nie ist der geringste Verdacht auf ihn gefallen, er fühlt sich ganz sicher.
Eine erste Warnung ist ihm da die Begegnung mit Trudel Hergesell. Statt ihrer hätte auch jemand anders auf der Treppe stehen und ihn beobachten können, und dann war es um ihn und Anna geschehen. Nein, es kam weder auf ihn noch auf Anna an; es kam allein darauf an, dass diese Arbeit getan wurde, heute und alle Tage weiter. Im Interesse dieser Arbeit musste er hier vorsichtiger werden. Dass ihn die Trudel da auf der Treppe beim Ablegen der Karte beobachtet hatte, das war bösester Leichtsinn von ihm gewesen.
Und dabei ahnte Otto Quangel nicht, dass der Kommissar Escherich zu diesem Zeitpunkt bereits von zwei Seiten eine Beschreibung seiner Person bekommen hatte. Schon zweimal vorher war Otto Quangel beim Ablegen der Karten beobachtet worden, beide Male von Frauen, die dann neugierig die Karten aufgenommen hatten, aber nicht schnell genug Alarm riefen, um den Täter noch im Hause zu fassen.
Ja, Kommissar Escherich besaß jetzt bereits zwei Personalbeschreibungen des Kartenablegers. Es war nur zu bedauern, dass diese Beschreibungen fast in allen Punkten voneinander abwichen. Nur in einem Punkt waren sich beide Beobachterinnen einig, dass das Gesicht des Täters ganz ungewöhnlich ausgesehen habe, gar nicht wie bei anderen Menschen. Aber als Escherich dieses ungewöhnliche Gesicht näher geschildert wissen wollte, stellte sich heraus, dass die beiden Frauen entweder nicht beobachten konnten oder ihre Beobachtungen nicht in Worte zu kleiden wussten. Sie konnten beide nichts weiter sagen, als dass der Täter wie ein richtiger Verbrecher ausgesehen habe. Befragt, wie ein richtiger Verbrecher ihrer Ansicht nach aussähe, zuckten sie die Achseln und meinten, das müssten doch die Herren am besten wissen.
Quangel hatte lange geschwankt, ob er diese Begegnung mit Trudel der Anna erzählen sollte oder nicht. Aber er entschloss sich dann doch dazu: er wollte nicht das kleinste Geheimnis vor ihr haben.
Und sie hatte auch ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, wenn auch die Gefahr, dass durch Trudel etwas verraten wurde, ganz gering war, auch von einer ganz geringen Gefahr musste Anna wissen. Er erzählte es ihr also, genau wie es geschehen war, ohne seinen Leichtsinn zu beschönigen.
Es war bezeichnend für Anna, wie sie reagierte. Die Trudel und ihre Verheiratung und das erwartete Kind interessierten sie gar nicht, aber sie flüsterte, sehr erschrocken: »Aber denke doch, Otto, wenn da ein anderer gestanden hätte, einer von der SA!«
Er lächelte verächtlich: »Es hat aber kein anderer da gestanden! Und von jetzt an bin ich wieder vorsichtig!«
Aber diese Versicherung konnte sie nicht beruhigen. »Nein, nein«, sagte sie heftig. »Von nun an werde ich allein die Karten austragen. Auf eine alte Frau achtet niemand. Du fällst allen Leuten gleich auf, Otto!«
»Ich bin in zwei Jahren keinem aufgefallen, Mutter. Das kommt gar nicht in Frage, dass du das gefährlichste Geschäft allein besorgst! Das wär so was, wenn ich mich hinter deiner Schürze versteckte!«
»Ja«, erwiderte sie ärgerlich. »Nun komm mir auch noch mit solchen dummen Männerredensarten! Was für ein Unsinn: dich hinter meiner Schürze verstecken! Dass du Mut hast, das weiß ich auch so, aber dass du unvorsichtig bist, das habe ich nun erfahren, und danach richte ich mich. Da kannst du reden, was du willst!«
»Anna«, sagte er und fasste ihre Hand, »du darfst mir nun auch nicht, wie es andere Frauen tun, stets denselben Fehler vorwerfen! Ich habe dir gesagt, ich werde vorsichtiger sein, und das musst du mir glauben. Ich hab’s ja zwei Jahre lang nicht schlecht gemacht – warum soll es da in Zukunft schlecht gehn?«
»Ich sehe nicht ein«, sagte sie hartnäckig, »warum ich nicht die Karten verteilen soll. Ich hab’s doch bisher dann und wann tun dürfen.«
»Das sollst du auch weiter. Wenn’s zu viele sind oder wenn mich das Reißen plagt.«
»Aber ich habe mehr Zeit als du. Und ich falle wirklich nicht so auf. Und ich habe jüngere Beine. Und ich will hier nicht vor Angst umkommen, alle Tage, wenn ich dich unterwegs weiß.«
»Und was denkst du über mich? Meinst du, ich sitze hier zufrieden im Haus, wenn ich weiß, die Anna läuft draußen herum? Verstehst du nicht, dass ich mich schämen müsste, wenn du die meiste Gefahr trügest? Nein, Anna, das kannst du nicht von mir verlangen!«
»So lass uns gemeinsam gehen. Vier Augen sehen mehr als zwei, Otto.«
»Zu zweien würden wir mehr auffallen, einer allein schiebt sich leicht unter die anderen. Und ich glaube auch nicht, dass in so ’ner Sache vier Augen mehr sehn als zwei. Da verlässt sich schließlich das eine immer auf das andere. Und überhaupt, Anna, sei nicht bös, es würde mich nervös machen, wenn ich dich neben mir weiß, und ich glaube, dir würde es nicht anders gehen.«
»Ach, Otto«, sagte sie. »Ich weiß ja, wenn du etwas willst, setzt du es auch durch. Ich kann mich nicht gegen dich behaupten. Aber ich werde vor Angst umkommen, jetzt, wo ich dich so in Gefahr weiß.«
»Die Gefahr ist nicht größer als früher, nicht größer als damals, als ich die erste Karte in der Neuen Königstraße ablegte. Gefahr ist immer, Anna, für jeden, der das tut, was wir tun. Oder möchtest du, dass wir ganz damit aufhören?«
»Nein!«, rief sie laut. »Nein, ich hielte es keine zwei Wochen ohne diese Karten aus! Wozu leben wir dann noch? Das ist ja unser Leben, diese Karten!«
Er lächelte düster, mit einem düsteren Stolz sah er sie an.
»Siehst du, Anna«, sagte er dann. »So mag ich dich. Wir haben keine Angst. Wir wissen, was uns droht, und wir sind bereit, zu jeder Stunde sind wir bereit – aber hoffentlich geschieht es zu einer möglichst späten Stunde.«
»Nein«, sagte sie. »Nein. Ich denke immer, es geschieht nie. Wir überleben den Krieg, wir überleben die Nazis, und dann …«
»Dann?«, fragte auch er, denn plötzlich sahen sie – nach dem endlich errungenen Sieg – ein völlig leeres Leben vor sich.
»Nun«, sagte sie, »ich denke, wir werden auch dann noch etwas finden, für das es sich lohnt zu kämpfen. Vielleicht ganz offen, ohne so viel Gefahren.«
»Gefahr«, sagte er, »Gefahr ist immer, Anna, sonst ist es ja kein Kampf. Manchmal weiß ich, dass sie mich so nicht kriegen werden, und dann liege ich Stunden und Stunden und grüble, wo sonst Gefahr ist, was ich vielleicht übersehen habe. Ich grüble, ich finde nichts. Und doch ist irgendwo Gefahr, ich fühle das. Was können wir vergessen haben, Anna?«
»Nichts«, sagte sie. »Nichts. Wenn du mit dem Kartenverteilen vorsichtig bist …«
Er schüttelte unmutig den Kopf. »Nein, Anna«, sagte er, »so meine ich es nicht. Die Gefahr steht nicht auf der Treppe und nicht beim Schreiben. Die Gefahr steht ganz woanders, wo ich nicht hinsehen kann. Plötzlich werden wir aufwachen und wissen, da hat sie immer gestanden, aber wir haben sie nicht gesehen. Und dann wird es zu spät sein.«
Sie verstand ihn noch immer nicht. »Ich weiß nicht, warum du dir plötzlich Sorgen machst, Otto«, sagte sie. »Wir haben doch alles hundertmal überlegt und erprobt. Wenn wir nur vorsichtig sind …«
»Vorsichtig!«, rief er, unmutig über ihr fehlendes Verständnis, aus. »Wie kann man sich vor etwas vorsehen, das man nicht sieht! Ach, Anna, du verstehst mich nicht! Man kann nicht alles ausrechnen im Leben!«
»Nein, ich versteh dich nicht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich glaube, du machst dir unnötige Sorge, Vater. Ich glaube, du solltest mehr schlafen in der Nacht, Otto. Du schläfst zu wenig.«
Er schwieg.
Nach einer Weile fragte sie: »Weißt du, wie die Trudel Baumann jetzt heißt und wo sie wohnt?«
Er schüttelte den Kopf. Er sagte: »Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen.«
»Ich möchte es aber wissen«, sagte sie hartnäckig. »Ich will es mit meinen eigenen Ohren hören, dass es mit dem Ablegen der Karte glattgegangen ist. Du hättest ihr das nicht überlassen sollen, Otto! Was weiß so ’n Kind, was sie da tut. Vielleicht hat sie die Karte ganz offen hingelegt, und die haben sie dabei gekitscht. Und wenn die erst einmal so eine junge Frau in den Fängen haben, dann wissen sie auch bald den Namen Quangel.«
Er schüttelte den Kopf: »Ich weiß, von der Trudel droht uns keine Gefahr.«
»Ich möchte es aber sicher wissen!«, rief Frau Quangel. »Ich werde in ihre Fabrik gehen und mich erkundigen.«
»Du wirst nicht gehen, Mutter! Trudel gibt es nicht mehr für uns. Nein, rede nicht, du bleibst hier. Ich will kein Wort mehr davon hören.« Dann, als er sie noch immer widerspenstig sah, sagte er: »Glaube mir schon, Anna, es ist alles richtig, wie ich es dir sage. Von der Trudel brauchen wir nicht mehr zu sprechen, das ist alles erledigt. Aber«, fuhr er leiser fort, »aber wenn ich nachts wach liege, dann denke ich oft, dass wir doch nicht heil durchkommen werden, Anna.«
Sie sah ihn mit großen Augen an.
»Und dann male ich mir alles aus, wie es werden wird. Es ist gut, sich so etwas vorher auszumalen, dann kann einen nichts mehr überraschen. Denkst du manchmal daran?«
»Ich weiß nicht genau, wovon du sprichst, Otto«, sagte Anna Quangel abweisend.
Er stand mit dem Rücken gegen das Bücherbrett Ottochens gelehnt, eine Schulter von ihm berührte das Radiobastelbuch des Jungen. Er sah sie durchdringend an.
»Sobald sie uns verhaftet haben, werden wir getrennt sein, Anna. Wir werden uns vielleicht noch zwei- oder dreimal sehen, beim Verhör, bei der Verhandlung, vielleicht später noch einmal eine halbe Stunde vor der Hinrichtung …«
»Nein! Nein! Nein!« Sie schrie es. »Ich will nicht, dass du davon sprichst! Wir werden durchkommen, Otto, wir müssen durchkommen!«
Er legte seine große, verarbeitete Hand beruhigend auf ihre kleine, warme, zitternde.
»Und wenn wir nicht durchkommen? Würdest du irgendetwas bereuen? Möchtest du etwas ungetan wissen von dem, was wir getan haben?«
»Nein, nichts! Aber wir werden unentdeckt durchkommen, Otto, ich fühle das!«
»Siehst du, Anna«, sagte er, ohne auf ihre letzte Versicherung zu achten. »Das wollte ich hören. Wir werden nie etwas bereuen. Wir werden zu dem stehen, was wir getan haben, auch wenn sie uns sehr quälen.«
Sie sah ihn an, sie versuchte, ein Zittern zu unterdrücken. Vergeblich. »Ach, Otto!«, rief sie schluchzend. »Warum musst du so reden? So ziehst du das Unglück ja nur auf uns. Nie hast du noch so geredet!«
»Ich weiß nicht, warum ich so heute mit dir reden muss«, sagte er und ging von dem Bücherbrett fort. »Ich muss es, einmal. Wahrscheinlich werde ich nie wieder mit dir darüber sprechen. Aber einmal musste ich es. Denn du musst wissen, wir werden dann sehr allein sein in unsern Zellen, ohne ein Wort zueinander, die wir viel über zwanzig Jahre nicht einen Tag ohne das andere gelebt haben. Es wird uns sehr schwerfallen. Aber wir werden voneinander wissen, dass keines je schlappmacht, dass wir uns aufeinander verlassen können, wie im ganzen Leben, so auch im Tode. Wir werden auch allein sterben müssen, Anna.«
»Otto, du sprichst, als wäre es schon so weit! Und wir sind doch ganz frei und außer Verdacht. Wir könnten jeden Tag damit aufhören, wenn wir wollten …«
»Aber wollen wir? Können wir überhaupt wollen?«
»Nein, ich sage nicht, dass wir aufhören wollen. Ich will’s nicht, das weißt du! Aber ich will auch nicht, dass du sprichst, als hätten sie uns schon gefasst und als bliebe uns nur noch das Sterben. Ich will noch nicht sterben, Otto, ich möchte mit dir leben!«
»Wer will denn sterben?«, fragte er. »Alle wollen sie doch leben, alle, alle – auch das armseligste Würmlein schreit nach Leben. Auch ich will noch leben. Aber es ist vielleicht gut, Anna, schon im ruhigen Leben an ein schweres Sterben zu denken, sich darauf vorzubereiten. Dass man weiß, man wird anständig sterben können, ohne Gewimmer und Geschrei. Das fände ich ekelhaft …«
Eine Weile war es still.
Dann sagte Anna Quangel leise: »Du kannst dich auf mich verlassen, Otto. Ich werde dir schon keine Schande machen.«
1 August Franz Anton Hans Fritzsche war ein deutscher Journalist und bekleidete verschiedene Funktionen im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. <<<
In dem Jahr, das auf den »Selbstmord« des kleinen Enno Kluge gefolgt war, hatte der Kommissar Escherich ein verhältnismäßig ruhiges Leben führen können, nicht gar zu belästigt durch die Ungeduld seiner Vorgesetzten. Damals, als dieser Selbstmord gemeldet worden war, als ersichtlich wurde, dass der schmächtige Mann sich allen Verhören durch Gestapo und SS entzogen hatte, gab es natürlich bei Obergruppenführer Prall Gewitter über Gewitter. Aber das legte sich mit der Zeit, die Spur war endgültig kalt geworden, nun musste auf eine neue Spur gewartet werden.
Im Übrigen war dieser Klabautermann nicht mehr so wichtig. Die sture Monotonie, mit der er Karten immer gleichen Inhalts schrieb, die niemand las, niemand lesen wollte und die alle Leute in Verlegenheit oder Angst stürzten, ließ ihn nur lächerlich und dumm erscheinen. Wohl piekte Escherich noch brav seine Fähnchen in den Stadtplan von Berlin. Mit einiger Befriedigung sah er, dass sie nördlich vom Alexanderplatz immer dichter wurden – da musste der Vogel sein Nest haben! Und dann diese auffällige Ansammlung von fast zehn Fähnchen südlich vom Nollendorfplatz – auch dort musste der Klabautermann regelmäßig, wenn auch in großen Zeitabständen hinkommen. Das alles würde sich eines Tages schon noch befriedigend aufklären …
Du kommst uns schon! Du kommst uns immer näher, unvermeidlich!, kicherte der Kommissar und rieb sich die Hände.
Aber dann ging er wieder zu seinen anderen Arbeiten über. Es gab wichtigere und dringendere Fälle. Eine Art Wahnsinniger, ein überzeugter Nazi, wie er sich titulierte, war gerade sehr aktuell, er tat nichts, als alle Tage dem Minister Goebbels einen grob beleidigenden, oft pornografischen Brief zu schreiben. Zuerst hatten diese Briefe den Minister amüsiert, später irritiert, dann hatte er getobt und sein Opfer verlangt. Seine Eitelkeit war tödlich verletzt.
Nun, Kommissar Escherich hatte Glück gehabt, er hatte den Fall »Schweinigel«, wie er ihn getauft hatte, binnen heute und einem Vierteljahr erledigen können. Der Briefschreiber, der übrigens wirklich in der Partei war und sogar altes Parteimitglied, war zu Herrn Minister Goebbels gebracht worden, und damit konnte Escherich den Fall ad acta legen. Er wusste, er würde nie wieder etwas von »Schweinigeln« hören. Der Minister vergaß nie eine ihm angetane Kränkung.
Dann kamen andere Fälle – vor allem der jenes Mannes, der an prominente Leute Enzykliken des Papstes und Radioansprachen von Thomas Mann versandte, echte und gefälschte. Ein geschickter Bursche, dieser Mann – es war nicht ganz einfach gewesen, ihn zu kriegen. Aber schließlich hatte Escherich ihn doch für die Hinrichtungszelle in der Plötze reif machen können.
Und dieser kleine Prokurist, der plötzlich größenwahnsinnig geworden war, der sich zum Generaldirektor eines nicht existierenden Stahlwerks gemacht hatte und der vertrauliche Briefe nicht nur an andere Direktoren tatsächlich existierender Werke schrieb, sondern auch an den Führer, die über den alarmierenden Stand der deutschen Rüstungsindustrie Einzelheiten mitteilten, die oft nicht erfunden sein konnten. Nun, dieser Vogel war verhältnismäßig leicht zu fangen gewesen; der Kreis der Leute, die solche Informationen besaßen wie der Briefschreiber, war verhältnismäßig klein.
Ja, Kommissar Escherich hatte einige bedeutsame Erfolge gehabt; in den Kollegenkreisen munkelte man schon, er werde bald außer der Reihe aufrücken. Es war ein ganz erfreuliches Jahr gewesen, dieser Zeitraum seit dem Selbstmord des kleinen Kluge; der Kommissar Escherich war zufrieden.
Aber dann kam eine Zeit, da standen die Vorgesetzten Escherichs plötzlich wieder vor dem Stadtplan Klabautermann still. Sie ließen sich die Fähnchen erklären, sie nickten nachdenklich, wenn auf ihre Massierung nördlich des Alexanderplatzes hingewiesen wurde, sie nickten noch nachdenklicher, wenn Escherich auf diesen interessanten Vortrupp südlich des Nollendorfplatzes verwies, und dann sagten sie: »Und was haben Sie nun für Spuren, Herr Escherich? Was für Pläne haben Sie ausgeheckt, diesen Klabautermann zu fangen? Seit dem Einmarsch in Russland ist der Bursche ja mächtig aktiv geworden! In der letzten Woche waren es ja wohl fünf Briefe und Postkarten?«
»Ja«, sagte der Kommissar. »Und in dieser Woche sind es auch schon wieder drei!«
»Also wie steht die Sache, Escherich? Bedenken Sie, wie lange der Mann jetzt schon schreibt, das kann doch unmöglich so weitergehen! Wir haben hier kein statistisches Amt zur Registrierung von hochverräterischen Karten, Sie sind ein Fahndungsbeamter, mein Lieber! Also, was haben Sie für Spuren?«
So bedrängt, beklagte sich der Kommissar bitter über die Dummheit der zwei Frauen, die den Mann gesehen und nicht angehalten hatten, die ihn gesehen hatten und nicht mal beschreiben konnten.
»Ja, ja, alles schön und gut, mein Lieber. Aber wir reden hier nicht von Zeugendummheit, wir reden von den Spuren, die Ihr kluges Köpfchen gefunden hat!«
Worauf der Kommissar die Herren wieder an die Karte führte und ihnen flüsternd zeigte, wie überall nördlich vom Alex Fahnen steckten, nur ein bestimmter, nicht sehr großer Bezirk blieb völlig frei von Fahnen.
»Und in diesem Bezirk steckt mein Klabautermann. Da legt er keine Karte ab, weil er zu bekannt ist, weil er immer befürchten muss, dass ihn ein Nachbar sieht. Es sind nur ein paar Straßen, alles kleine Leute, die da wohnen. Da sitzt er.«
»Und warum lassen Sie ihn da sitzen? Warum haben Sie nicht längst Haussuchung angeordnet in den paar Straßen? Sie müssen ihn da doch schnappen, Escherich! Wir verstehen Sie nicht, sonst sind Sie doch wirklich ganz brauchbar, aber in diesem Falle machen Sie eine Dummheit nach der anderen. Wir haben uns mal die Akten angesehen. Da ist diese Geschichte mit dem Kluge, den Sie trotz seines Geständnisses haben laufenlassen! Und dann kümmern Sie sich nicht mehr um ihn und lassen den Burschen glatt Selbstmord verüben, grade dann, wenn wir ihn am nötigsten gebrauchen! Dummheiten über Dummheiten, Escherich!«
Der Kommissar Escherich, nervös seinen Schnurrbart drehend, gestattet sich, darauf hinzuweisen, dass der Kluge entschieden mit dem Kartenschreiber nicht das Geringste zu tun hatte. Die Postkarten waren vor wie nach seinem Tode unverändert gekommen.
»Ich halte sein Geständnis, dass ihm ein Unbekannter die Karte zum Ablegen gegeben hat, für unbedingt glaubhaft.«
»Na, wenn Sie’s nur dafür halten! Wir halten es für notwendig, dass Sie nun endlich etwas tun! Ist uns ganz egal, was, aber jetzt wollen wir Erfolge sehn! Machen Sie also erst mal Haussuchung in den paar Straßen. Werden ja sehn, was dabei rauskommt. Irgendwas kommt immer raus, überall stinkt’s!«
Wiederum gibt der Kommissar Escherich in aller Demut zu bedenken, dass, wenn auch nur ein paar Straßen in Frage kommen, immerhin fast tausend Wohnungen durchsucht werden müssen.
»Es wird die Bevölkerung gewaltig beunruhigen. Die Leute sind schon ohnedies reichlich nervös durch die zunehmenden Fliegerangriffe, und wenn wir ihnen nun erst Grund zum Meckern geben! Aber weiter: Was kann man sich von einer Haussuchung versprechen? Was sollen wir denn eigentlich finden? Der Mann braucht für seine verbrecherische Tätigkeit nur einen Federhalter (hat jeder Haushalt), ein Tintenfläschchen (dito), ein paar Postkarten (dito, dito). Ich wüsste nicht, was für Anhaltspunkte ich meinen Leuten für diese Haussuchungen geben sollte, wonach sie eigentlich zu suchen haben. Höchstens etwas Negatives: der Kartenschreiber besitzt bestimmt keinen Radioapparat. Noch nie habe ich auf all diesen Karten einen Hinweis darauf gefunden, dass er seine Nachrichten aus dem Radio bezogen hätte. Oft ist er einfach schlecht informiert. Nein, ich weiß nicht, worauf ich diese Haussuchung ansetzen soll.«
»Aber liebster, bester Escherich – wir verstehen Sie wirklich nicht mehr! Immer haben Sie nur Bedenklichkeiten, aber nicht einen positiven Vorschlag wissen Sie zu machen! Wir müssen den Mann doch fassen, und das bald!«
»Wir werden ihn auch fassen«, sagte der Kommissar lächelnd, »aber freilich, bald? Das kann ich nicht versprechen. Immerhin glaube ich nicht, dass er noch weitere zwei Jahre seine Postkarten schreiben wird.«
Sie stöhnten.
»Und warum nicht? Weil die Zeit gegen ihn arbeitet. Sehen Sie sich die Fähnchen an, noch hundert mehr, und wir werden ein gewaltiges Stück klarer sehn. Er ist ein verdammt zäher, kaltblütiger Bursche, mein Klabautermann, aber er hat auch einen Schweinedusel gehabt. Mit der Kaltblütigkeit allein ist es nämlich nicht getan, man muss auch ein bisschen Glück haben, und das hat er bisher in fast unbegreiflicherweise gehabt. Aber das ist genau wie beim Kartenspielen, meine Herren, eine Weile können die Karten für den einen Spieler günstig fallen, aber dann ist es auch plötzlich alle. Plötzlich steht das Spiel gegen den Klabautermann, und wir haben die Trümpfe in der Hand!«
»Alles sehr schön und interessant, Escherich! Feinste Kriminalistentheorie, wir verstehen schon. Aber wir sind nicht so sehr für Theorie, und wir hören aus Ihren Worten nur heraus, dass wir eventuell noch zwei weitere Jahre zu warten haben, bis Sie sich zum Handeln entschließen werden. Da machen wir nicht mit, sondern wir schlagen Ihnen vor, Sie durchdenken den ganzen Fall noch einmal gründlich und machen uns, sagen wir in einer Woche, Ihre Vorschläge. Dann werden wir ja sehen, ob Sie zur Erledigung dieses Falles geeignet sind oder nicht. Heil Hitler, Escherich!«
Der Obergruppenführer Prall aber, der bisher wegen Anwesenheit noch höherer Vorgesetzter die Klappe hatte halten müssen, kam noch einmal in Escherichs Zimmer gestürzt: »Sie Kamel! Sie Idiot! Denken Sie, ich lasse meine Abteilung noch weiter durch einen Trottel, wie Sie es sind, schänden? Eine Woche haben Sie noch Zeit!« Er schüttelte grimmig die Fäuste. »Der Himmel gnade Ihnen, wenn Ihnen auch in dieser Woche nichts einfällt! Ich fahre Schlitten mit Ihnen!« Und so weiter und so weiter. Kommissar Escherich hörte das schon gar nicht mehr.
In der ihm verbliebenen einwöchigen Gnadenfrist beschäftigte sich Kommissar Escherich derart mit dem Fall Klabautermann, dass er sich gar nicht mit ihm beschäftigte. Einmal hatte er sich durch seine Vorgesetzten aus der für richtig erkannten Abwartetaktik herausdrängen lassen, und gleich war alles auf ein falsches Gleis geraten, drum hatte dieser Enno Kluge daran glauben müssen.
Nicht, dass dieser Kluge seinem Gewissen viel zugesetzt hätte. Ein wertloser, jämmerlicher Plärrer, das war ganz unwichtig, ob der lebte oder nicht. Aber der Kommissar Escherich hatte viel Scherereien wegen dieses kleinen Biests gehabt, es hatte einige Mühe gekostet, den einmal geöffneten Mund wieder zu schließen. Ja, in jener Nacht, an die er nicht gerne dachte, war der Kommissar sehr aufgeregt gewesen – und wenn der lange, farblose, graue Mann etwas hasste, so war es Aufgeregtsein.