»Wie gefällt dir der Junge?« fragte sie.
»Gut. Sehr gut«, sagte er hastig.
»Er heißt Willi. Wilhelm«, sagte sie.
»So heiße ich auch«, sagte er.
»Ja, ich weiß«, sagte sie.
Die Nacht war sehr dunkel. Über dem blattlosen Geäst der Stadtwaldbäume war der Himmel – ohne Sterne – mehr zu ahnen als zu sehen. Sie waren – erst getrennt nebeneinander durch die beleuchteten Straßen, dann eingehängt über die Chaussee, dann sich umfassend im verödeten Stadtwald –, so waren sie bis zu dieser Bank gekommen, um die junge Fichten standen. Der Wind war über ihnen, an den Seiten ferner, sie saßen dicht beieinander, warm.
Er sah ihr Gesicht wie einen hellen Schimmer, die Augenhöhlen ganz dunkel – und es leuchtete aus dieser samtigen Dunkelheit.
»Kinder müssen einen Vater haben«, sagte sie.
»Ich bin auch so lange allein gewesen«, sagte er und lehnte den Kopf gegen ihre Schulter. Es war weich.
Sie zog ihn näher, mit einer Hand gegen ihre Brust. »Und ich erst!« sagte sie. »Wie das mit dem Kind passierte, und alle sahen mich an, und plötzlich war ich ein Dreck, und Vater schlug mich immer, und Mutter heulte ewig bloß …«
Sie versank in Gedanken.
»Ich habe keinen Vater mehr«, sagte er.
»Ach, das wäre viel besser!« rief sie. »Dann könnte ich mir ein Zimmer mieten und für den Jungen arbeiten … Aber so …«
»Warum gehst du denn nicht weg?« fragte er. »Du bist doch mündig.«
»Aber das geht doch nicht«, widersprach sie eifrig. »Wo Vater hier Meister ist, und bis das passierte, war er Obermeister von der Glaserinnung. Wo mich hier alle kennen! Nein, nein, ich muss schon zu Haus bleiben, bis mich mal einer heiratet.«
Eine Weile Stille. Die Hand, die den Kopf an der warmen weichen Brust hält, ist lockerer geworden im Zugriff. Aber dann kommt die andere dazu, beide heben sie den Kopf, nun berühren sich die Lippen, und dieses Mal bleiben die des Mädchens nicht geschlossen. Halb geöffnet ist ihr Mund, die Lippen sind weich, es ist, als schwellten sie unter dem Kuss, als blühten sie auf.
Der Mund von Hilde löst sich einen Augenblick, sie stößt einen Laut aus; Befriedigung, Wasser nach langem Durst – und dann stürzt er gleichsam aus dem Nachthimmel auf den seinen herab, saugt, verlangt, wird immer voller, glühender, zärtlicher …
Nein, kein Wort, keine Anrede, kein Kosename. Zwei Verdurstende, die endlich, endlich trinken. Stilles, endloses Küssen – und dazwischen hinein hört Kufalt den Nachtwind im Walde, ein Ast schabt knarrend an einem anderen, das plötzliche Aufwirbeln von Herbstlaub, eine Autohupe, fern, fern …
Und während Kufalt atemlos trinkt, erfüllt eine grenzenlose Traurigkeit sein Herz: Vorbei, während ich küsse, schon vorbei … Im Anfang Ende. Und: Kinder müssen einen Vater haben … er heißt Willi … bis mich mal einer heiratet … vorbei, im Küssen schon vorbei …
Arme, düstere Erde, die mit der Erfüllung schon die Trauer bringt, Planet, kaum von Sonnenstrahlen durchwärmt, schon von Eiseskälten versteinert … kalte Glut, armer Kufalt …
Und – ach, wie sie sich küssen, nun haben sie schon umeinander die Arme geschlungen, sie atmen hastiger, das Hirn beginnt zu tanzen, das Herz flattert, vor den Augen glimmt es wie aus Asche entflammte Glut – und während sie sich immer verzehrender, begieriger, einwühlender küssen, geht durch Kufalts Kopf böses Denken: Wenn du schlau bist, vielleicht bin ich noch schlauer … wenn du mich fangen willst, vielleicht fange ich dich … Und seine eine Hand gleitet von der Schulter unter den Mantel, über die Bluse, an die Brust, umfasst sie. Und sein Bein bedrängt sie.
Mit einem Ruck reißt sie sich los, sie reißt ihren Leib von seinem los, wie man ein Eisen von einem Magnet losreißt.
Einen Augenblick stehen beide taumelnd. Sie fasst – er ahnt es sogar in der Nacht – nach ihren Haaren, wie sie es gestern auf dem Tanzboden tat.
»Nein«, hört er sie flüstern. »Nie, nie wieder.«
»Ich wollte ja nur …«, sagt er hastig.
»Wenn du das willst«, sagt sie, »dann können wir gleich gehen. Von einem Male habe ich genug.«
Sie schaudert. Sie fasst nach seinem Arm. »Komm. Es wird kalt. Gehen wir noch ein Stück.«
Sie gehen. Nein, übelgenommen hat sie es nicht, aber … Das wird man nie überwinden, denkt Kufalt. Sie hat wirklich genug. Sie hat Angst.
Und laut: »Du musst noch nicht nach Haus? Was sagt denn dein Vater?«
»Vater hat Kegelabend«, sagt sie.
Sie findet im Dunkeln jeden Weg. Der Stadtwald ist nicht klein, aber sie weiß jeden Weg. »Links müssen wir hinein, dort, wo es ganz schwarz aussieht. Dann kommen wir zum Rindenhäuschen.«
Wie oft muss sie hier, denkt Kufalt, mit dem anderen gegangen sein. Oder mit den anderen. Denn es gibt keinen Vater, keinen, der für das Kind zahlt. Und ich muss ausgerechnet kommen, wenn sie nicht mehr will. Immer habe ich Pech.
»Der kleine Dicke, mit dem du warst, im Rendsburger Hof – ist das dein Freund?«
»Der Bruhn? Ja«, sagt Kufalt, »das ist mein Freund.«
»Vor dem nimm dich man in acht, ich hab gehört, das soll ein Raubmörder sein.«
»Raubmörder …«, sagt Kufalt böse. »Was weißt du von Raubmörder? Ein feiner Junge ist das.«
»Aber im Kittchen hat er schon gesessen«, sagt sie. »Ich weiß das sicher.«
»Na, und wennschon«, versucht Kufalt. »Findest du das schlimm?«
»Das ist Geschmacksache«, erklärt sie. »Ich möchte keinen solchen. Auch keinen Arbeitslosen. Denke, vom Stempelgeld leben und den ganzen Tag den Mann im Haus! Solche könnte ich einen Haufen haben. Ich könnte immer noch eine Menge haben.«
»Ja«, sagt Kufalt.
Ihm ist, als wiche sie immer weiter von ihm zurück; es war so gut mit ihr, da sie noch schwiegen, jetzt, da sie reden, entfernen sie sich voneinander.
»Ja«, sagt er bloß.
»Wo arbeitest du?« fragt sie. »Bist du auf einem Büro, oder bist du Verkäufer?«
»Nein, auf der Zeitung«, sagt er.
»O fein!« ruft sie. »Da kriegst du sicher viel Kinobilletts. Können wir bald mal ins Kino?«
»Ich weiß nicht«, sagt er unschlüssig. »Ich muss erst mal sehen, wie es passt. Da sind noch mehr bei uns auf dem ›Stadt- und Landboten‹.«
»So, du bist auf dem ›Boten‹«, sagt sie etwas enttäuscht. »Ich dachte, du wärst auf dem ›Freund‹. Wir lesen immer den ›Freund‹. Der ›Freund‹ ist doch viel besser!«
»Wo ihr den ›Boten‹ gar nicht lest?«
»Doch, lesen tun wir ihn schon. Aber wir sind eben an den ›Freund‹ gewöhnt. – Vielleicht ist auch der ›Bote‹ besser geworden«, sagt sie einlenkend. »Ich weiß es ja nicht, wir sehen den ›Boten‹ immer nur flüchtig. – Komm, da ist das Rindenhäuschen. Drin ist es vielleicht wärmer.«
»Nein«, sagt er. »Ich möchte jetzt nach Haus.«
»O Gott, nun bist du böse!« ruft sie bestürzt. »Weil ich das vom ›Boten‹ gesagt habe? Ich will nie wieder was gegen den ›Boten‹ sagen, bestimmt nicht!«
»Nein, ich bin müde. Ich will jetzt nach Haus«, sagt er.
Sie stehen einander gegenüber. Auf der Lichtung, die der schmale Rindentempel ziert, ist es etwas heller. Er sieht ihr Gesicht, die Hände heben sich bittend auf die Höhe der Brust.
»O Willi«, sagt sie und nennt ihn zum ersten Mal beim Vornamen. »Sei mir doch nicht bös. Bitte, komm.«
»Ich bin gar nicht bös«, sagt er, und seine Stimme klingt sehr verärgert. »Aber ich bin wirklich müde und muss schnell ins Bett. Ich habe morgen viel zu tun.«
Ihre Hände sinken herunter, sie schweigt einen Augenblick.
»Also geh«, sagt sie dann tonlos. »Geh.«
Er wendet sich zögernd, er murmelt ein »Gute Nacht«.
»Gute Nacht«, sagt auch sie leise.
Und dann: »Gib mir noch einen Kuss, Willi, bitte.«
Er dreht sich um nach ihr. Er geht einen Schritt auf sie zu.
Und plötzlich umfasst er sie. O Gott, es ist ja die Frau, die Frau, die Frau, nach der ich seit Jahren mich gesehnt, es ist das vermisste Glück, die ewig ausgebliebene Erfüllung … Frau, Weib, Brust … es ist das Glück, es ist das Glück, es ist das große, große Glück … Müde zurück ins Zimmer, ins einsame Bett …
Und er fällt hinab auf sie mit dem Sturm aller seiner Küsse. Er betäubt sie mit dem Sturzbach seiner Berührungen, er ist hier, da, dort. Er stammelt Worte dazwischen, abgerissene, sinnlose Worte. »O du, dass ich dich wiederhabe … ach, du bist mein … wie ich dich liebhabe …!«
Sie taumeln. Das Rindenhäuschen kommt näher, eine Tür knarrt. Es ist sehr dunkel darin und eine modrige Kälte, voll des Geruchs von faulendem Holz …
Es ist stiller. Das hastige Atmen ist ruhiger geworden und ruhig. Hilde weint leise vor sich hin. Er liegt mit dem Kopf auf ihrem Schoß, sie streichelt sein Haar, aber ein anderes Haar ist es wohl, an das sie denkt: seidigeres, helleres, jüngeres.
In seinem Bettchen, anderthalb Kilometer ab, schläft der kleine Willi. Sie kann zu ihm, aber wird sie bei ihm bleiben können? Nie, nie wieder, hat sie gesagt, und so ist es auch jetzt noch.
»Weine doch nicht mehr«, bittet er. »Es ist bestimmt nichts passiert.«
Sie weint.
Und dann flüstert sie: »Hast du mich denn wenigstens ein bisschen gerne, Willi? Sage es doch, bitte!«
Er hat es gesagt und hat gedacht: Sagen kann man viel. Und sie hat es geglaubt oder hat es nicht geglaubt. Und dann haben sie sich getrennt. Im Licht einer Laterne, ihr Gesicht war verweint.
Sagen kann man viel.
Aber nun liegt er allein in seinem Bett; siehst du, es ist gut, allein in seinem Bett zu liegen zwischen den kühlen glatten Laken, ohne fremde Wärme. Er liegt allein im Bett, das Zimmer ist nicht ganz dunkel, eine Straßenlampe wirft Licht gegen die Wand, dahin sieht er.
Sagen kann man viel. Und: Sie hat mich reinlegen wollen, nun habe ich sie reingelegt.
Er macht die Augen zu, jetzt ist es dunkel. Aber in der endlosen Tiefe der Dunkelheit erscheint ein kleines helles Bild: Hildegard von gestern Nacht am Bett des Kindes. Sie hat sich darübergebeugt – und auch heute Nacht im Rindenhaus hat sie eine Bewegung gehabt … Nein, sie ist nicht nur Abwehr, nicht nur Verzweiflung und Weinen gewesen, sie war auch bei ihm, einen kurzen Moment hat sie ihn in ihre Arme genommen, ihn, ihn, Willi Kufalt, auch sie hat ihn gewollt – einen kurzen Moment.
Eine schnelle Sekunde voll Zärtlichkeit, ein hastigerer, seligerer Atem, ein Seufzer vom Glück …
Ich muss sie wiedersehen, und ich muss anders zu ihr sein. Viel netter. Sie hat es doch nicht schlimm gemeint. Und das Kind? Grade wegen des Kindes! Sie hat recht, Kinder müssen einen Vater haben (wie es da schlief, so verwuselt und zusammengekrochen!), und sie hat grade recht, wenn sie versucht, einen Vater zu kriegen. Warum soll ich sie nicht heiraten? Vielleicht wird es wirklich was mit der Zeitung, vielleicht verdiene ich richtig Geld … Und wenn wir später einmal verheiratet sind, erzähle ich ihr, dass ich vorbestraft bin … Alles kann noch gut werden …
Und er lächelt ein wenig. Er denkt an ihre Bewegung, als sie ihn im Glück fester in die Arme zog. Wann war ihm das geschehen?
Nein, er war nicht ganz schlecht, Reste waren noch da von früher, er kam aus einer Umwelt der Eigensucht, rücksichtslosen Selbstbehauptens, von Schmutz … Aber nur ein wenig Zärtlichkeit, ein wenig Vertrauen und Liebe, und es regte sich unter dem Geröll, nicht alles war verschüttet …
»Liebe Hilde«, flüstert er. »Liebste Hilde.«
Es stimmt noch nicht ganz, aber beinahe konnte es schon stimmen. –
Am nächsten Morgen dann stört er im Goldwarengeschäft von Linsing kurz nach acht Uhr morgens beim Reinemachen: Er kauft eine goldene Damenarmbanduhr für siebenundsechzig Mark.
Punkt neun Uhr betritt Kufalt die Redaktion des »Stadt- und Landboten«. Er trägt seinen besten Anzug – den blauen mit den weißen Nadelstreifen –, einen noch sehr anständigen schwarzen Ulster, einen schwarzen steifen Hut. In der Hand hat er eine braune Aktentasche, und in der Aktentasche liegt ein Paketchen, Inhalt goldene Damenuhr: Man kann nie wissen, wem man unterwegs begegnet.
Hinter der Barre im Expeditionsraum sitzt der große knochige Mann mit dem Pferdegesicht, dem gegenüber ein Fräulein an seiner Maschine.
»Kufalt«, stellt sich Kufalt vor.
»Das weiß ich nun«, knurrt der andere los. »Davon habe ich die Nase schon voll.« Und als Kufalt etwas bestürzt dareinblickt, setzt er wesentlich milder zu: »Was denken Sie, was ich für einen Stunk Ihretwegen mit dem Dietrich gehabt habe!«
»Aber ich hab das doch nicht gewollt«, protestiert Kufalt. »Herr Freese hat’s gesagt, und ich weiß überhaupt nicht, wieso.«
Kraft sieht ihn mit einem langen Blick an.
»Kommen Sie mit«, sagt er dann. »Ich will Ihnen Bescheid sagen.«
Kufalt wird in ein kleines Loch geführt, in eine Art Rumpelkammer mit Eimern, Besen, Regalen voll vergilbten Zeitungsstößen. Auf dem Tisch steht eine zerbrochene Petroleumlampe, in der Ecke ein verknautschtes, verludertes Sofa, in der anderen Ecke Flaschen, leere Flaschen, sogar Sektflaschen sind darunter.
»Na, Sie müssen sehen, dass Sie das hier gelegentlich zurechtkriegen. Hier können Sie arbeiten.« Mit einem Blick auf Sofa und Flaschen: »Das war früher das Paschazimmer, als der Olle« – Blick nach dem Nebenraum –, »als der Olle noch mochte.«
Kufalt schaudert bei dem Gedanken an das grau-versoffene Alkoholgespenst und Frauen.
»Hier haben Sie Listen«, sagt der Herr Kraft. »Da stehen alle Handwerksmeister drauf. Sie müssen sich nur noch die einzelnen Berufe geordnet rausziehen. Nehmen Sie immer eine Innung alleine vor, erst mal die Fleischer oder Bäcker, und dann immer weiter, systematisch jeden Beruf durch. Mitarbeiter unseres Blattes ist nämlich der Syndikus sämtlicher Handwerkerinnungen. Jede Woche schreibt er einen langen Riemen über Handwerkerfragen. Damit müssen Sie bohren: Wir unterstützen euch, also müsst ihr uns auch unterstützen. Den ersten Abonnementsbeitrag kassieren Sie gleich gegen Quittung aus diesem Block. Das ist Ihr Werberlohn. Abends melden Sie mir die Neuabonnenten, damit die schon am nächsten Morgen ihre Zeitung bekommen. So …«
Kraft geht gegen die Tür. Dann sagt er gelangweilt: »Es wird aber doch nichts mit Ihnen, wenn Sie den Dietrich auch rausgebissen haben.«
Und schiebt ab, ehe Kufalt noch antworten konnte.
Der macht sich den Tisch frei, reißt von dem Sofa – nach Umhersuchen – die Schmierdecke, wischt den Tisch ab und beginnt sein Tagewerk. Er stellt die Meister nach Berufskategorien zusammen, die Versuchung ist groß, mit den Glasern anzufangen, aber er widersteht und beginnt mit den Malern.
Nein, er wird nicht mit Bäckern oder Fleischern anfangen, er hat sich überlegt, da muss man in einen Laden gehen, und er hat sich erinnert: Wenn er früher mal in einen Laden kam und da stand gerade ein Reisender, wie der mitten im Satz abschnappte und mit einem höflich-ernsten Lächeln zurücktreten musste, dem Kunden freie Bahn zu lassen. Die Maler sind schon schwierig genug für den Anfang.
Er hat sie beisammen, und nun sucht er sich auf dem Stadtplan, wo sie alle wohnen, entwirft eine Tour – der Weg geht hin und her durch die ganze Stadt –, wie wird er die Stadt kennenlernen in den nächsten Wochen!
Er ist noch bei dieser Arbeit, als sich die Tür auftut und der Herr Chefredakteur Freese hereinkommt: grau, zerknittert, mit roten, blinzelnden Augen. Er trägt ein paar Zeitungsblätter in der Hand. »Da«, krächzt er. Er räuspert sich, mehrmals, viele Male. »Von unserm Syndikus. Bockmist! Aber dass Sie wenigstens das kennen, was Sie empfehlen.«
»Ja«, sagt Kufalt gehorsam und greift nach den Blättern.
»Schön«, sagt der andere. Er sieht Kufalt an, o welch böses bitteres Gesicht, welch fischiger kalter Blick!
»Jung«, murmelt er. »Zu jung«, murmelt er. Und plötzlich wie ernstlich besorgt: »Glauben Sie, Sie werden es schaffen?«
»Was schaffen?«
»Abonnenten, jeden Tag sechs.«
»Ich weiß es ja noch nicht, hab’s noch nie gemacht.«
»Weiß es nicht, hat’s noch nie gemacht, schafft es nicht, und die anderen werden größer und größer …« Er steht da, der alte Freese, mit hängendem Kopf, seine dicken blauen Lippen zittern unter dem Walrossschnurrbart.
Dann besinnt er sich. »Wo sind übrigens die zwanzig Mark von dem Dietrich?« fragt er. »Sie haben mir das Geld doch mitgebracht?«
»Ich habe keine zwanzig Mark mehr«, erklärt Kufalt.
Der Freese sieht ihn lange an. Ein Funke Spott erwacht in seinem Auge. »Traut mir keine zwanzig Mark mehr zu und geht für mich werben … Wie sie sich abstrampeln! Wie sie strampeln!« flüstert er entzückt.
Der Funke erlischt. Ein böser, galliger Mann bleibt. »Die Decke gehört aufs Sofa, verstehen Sie, junger Mann«, sagt er grob. »Das ist ’ne wichtige Decke, verstehen Sie, von der kann ich träumen, he!«
Er kreischt das He unnatürlich laut heraus, als schrie ein Vogel, dann schrammt er die Tür zu. Und Kufalt macht sich an einen Artikel über die Folgen des Nachtbackverbots für den mittelständischen Bäcker. Dann irrt er in den Roman ab.
Es ist elf Uhr geworden, und nun ist es soweit: Kufalt hat keinen Grund mehr, länger zu zögern. Er nimmt seine Aktentasche, sagt zu Herrn Kraft ganz geschäftsmäßig: »Also, ich geh jetzt auf die Tour«, und marschiert los.
Die ursprüngliche Tour fing eigentlich zehn Häuser vom »Stadt- und Landboten« an, beim Malermeister Retzlaff; aber das hat Kufalt eben im letzten Augenblick noch umgestoßen: Seinen ersten Besuch wird er bei Malermeister Benzin machen, in der Ulmenstraße, ziemlich an der Peripherie der Stadt. Hinausgeschoben ist Schonzeit, und auf dem Wege kann er außerdem noch seine Rede memorieren.
Unterwegs kann er seine Rede nicht mehr memorieren, denn Herr Dietrich stößt zu ihm. Drei Häuser vom »Boten« tritt er an Kufalt heran und sagt: »Guten Tag, Herr Kufalt.«
»Guten Tag, Herr Dietrich«, sagt Kufalt, lüftet den Hut und marschiert weiter. Dietrich marschiert mit. Dietrich sieht heute nicht so gesund rotbraun aus wie am gestrigen Mittag. Dietrich ist fleckig und übernächtig, die Spitze seiner langen Nase ist ganz weiß.
»Ihr blaues Wunder werden Sie erleben«, sagt Dietrich, »beim Abonnentenwerben.«
Kufalt antwortet nicht und geht weiter. Es ist dumm, der Mann hat ihm nichts getan, nein, der Mann hat ihm noch zwanzig Mark geborgt, aber eine Wut hat er doch auf ihn.
»Ich würde nicht mit so ’ner Aktentasche gehen«, sagt Herr Dietrich missbilligend. »Das sieht immer so nach Reisendem aus. Den Quittungsblock stecken Sie einfach in die Manteltasche, und jeder Dienstbolzen lässt Sie glückstrahlend als neuen Kunden ein.«
»Danke schön«, sagt Kufalt höflich und geht weiter. Aber dann kann er seine Neugier doch nicht bezähmen und fragt: »Wieso hat der Freese Sie eigentlich rausgeschmissen? Wegen der fünfundzwanzig Prozent, die Sie von mir abhaben wollten?«
»Wissen Sie was«, schlägt Dietrich vor, »ich gebe Ihnen alle Tipps, namentlich für die Inseratenwerbung, und dafür geben Sie mir doch die fünfundzwanzig Prozent. Wegen der Abrechnung vertraue ich Ihnen vollkommen.«
»Ohne Kaution?« fragt Kufalt.
»Ohne Kaution«, bestätigt Dietrich.
»Ich brauch keine Tipps«, erklärt Kufalt.
»Auch schön«, sagt Dietrich gleichmütig. »Man weiß nie, manchmal sind die Menschen noch dusseliger, als man denkt. Dem Freese tränk ich es aber ein. Ich gehe jetzt auf den ›Freund‹.«
»Hier geht es aber nicht zum ›Freund‹«, sagt Kufalt.
»Wissen Sie was, Herr Kufalt«, sagt Dietrich. »Sie brauchen mir meine zwanzig Mark noch nicht wiederzugeben. Ich habe Ihnen gesagt: Wir arbeiten zusammen, und wir arbeiten noch zusammen. Aber dem Freese geben Sie die auch nicht, verstanden? Sagen Sie dem Freese ruhig, Sie haben die mir gegeben.«
Pause.
»Der kauft sich nämlich doch bloß Kognak dafür.«
Pause.
Dietrich lacht, aber etwas kümmerlich. »Ich kauf mir allerdings auch bloß Kognak dafür.« Er lächelt beglückt. »Hier ist Der Tannenbaum von meinem Freunde Schmidt. Wollen wir uns Mut antrinken, ich für den ›Freund‹, Sie für den ersten Kunden?«
»Ich trinke nicht …«
»Ach nee, ach ja, Sie trinken nicht am Vormittag«, sagt der andere hastig. »Weiß ich, goldene Grundsätze, aber ich geh rein …«
Er bleibt stehen, sieht nach dem Fenster der Kneipe. »Sagen Sie, haben Sie das auch, wenn Sie zu viel gesoffen haben, dass Sie es am nächsten Tage gar nicht abwarten können, dass Sie wieder saufen? Davon wird der Magen so gelinde …« Er lächelt. Dann trübe: »Aber es hält nicht vor, immer rascher wird er wieder böse …« Abbrechend: »Also, ich hebe einen. Oder kippe.« Nachdenkend: »Mal sehen, ob das Bier schon gelaufen ist bei meinem Freunde Schmidt. Sonst kippe ich.«
Er streckt die Hand aus. »Dann: Hals- und Beinbruch.«
»Danke, danke«, sagt Kufalt und schüttelt die Hand. Der Zorn ist weg, er ist sogar ein bisschen gerührt. »Wenn Sie heute mal gar nicht tränken, Herr Dietrich …?«
»Wissen Sie was«, sagt Herr Dietrich, »wenn sie mich da auch rausgefunkt haben, den ollen ›Boten‹ muss ich doch weiterlesen. Schreiben Sie ’ne Quittung aus: Dietrich, Wollenweberstraße 37 III.«
Kufalt fasst zögernd Block und Bleistift.
»Ach, Geld?« lacht Dietrich. »Geld! Natürlich kriegen Sie Ihre Mark fünfundzwanzig. Hier …« Er fischt in den Taschen. »Eine Mark fünfundzwanzig. Stimmt gerade.«
Kufalt schreibt. »Ich danke auch schön«, sagt er und gibt die Quittung an Herrn Dietrich.
»Keine Ursache«, sagt der. »Keine Ursache. Wir arbeiten noch zusammen, ich habe es Ihnen gesagt.«
Und er verschwindet in der Kneipe, den Quittungszettel hat er sich unters Hutband gesteckt.