Buch lesen: «Fliegen lassen»

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HANS-DIETRICH RECKHAUS

FLIEGEN LASSEN

Wie man radikal und konsequent neu wirtschaftet

INHALT

VORWORT

STUFE 1 IN BEWEGUNG SETZEN

STUFE 2 NEUE IDEE NICHT GLEICH DER ÖKONOMIE OPFERN

STUFE 3 STARKEN IMPULS SETZEN, DER DIE WEICHEN RICHTUNG ZUKUNFT STELLT

STUFE 4 ZEIT DER IGNORANZ NUTZEN. EXPERTE WERDEN

STUFE 5 MITSTREITER FINDEN. VORSPRUNG AUSBAUEN

STUFE 6 DIE IDEE ZU ENDE DENKEN. VORSPRUNG WEITER AUSBAUEN

STUFE 7 VERTRAUEN HABEN: DER ERSTE DURCHBRUCH KOMMT

STUFE 8 DINGE SICH ENTWICKELN LASSEN

STUFE 9 KEINE ANGST VOR NACHAHMERN HABEN

STUFE 10 ES GIBT KEIN ZURÜCK MEHR, NUR EIN KONSEQUENTES NACH VORN

STUFE 11 FLIEGEN LASSEN

POSTSCRIPTUM VON FRANK UND PATRIK RIKLIN

INSEKTEN SCHÜTZEN UND FÖRDERN

BÜCHER UND LINKS

ÜBER DEN AUTOR

VORWORT

»Wollen wir möglichst viel Geld verdienen und

damit etwas Sinnvolles leisten, Geld spenden,

Stiftung gründen? Oder wollen wir möglichst viel

Sinnvolles leisten und damit Geld verdienen?«

Insekten können einen ziemlich plagen. Wie Fruchtfliegen, die im Sommer unsere Obstteller erobern. Oder Mücken, die uns nachts nicht schlafen lassen. Insofern habe ich mir keine großen Gedanken gemacht, als ich 1995 den Betrieb meiner Eltern übernehmen durfte. Ein mittelständisches Unternehmen in Bielefeld, das Insektentötungsmittel für die Anwendung im Haus herstellt. Nicht gerade aufregend, aber doch gut und richtig.

Wie meine Branchenkollegen, die sich mitunter um viel größere Probleme kümmern – Kahlfraß von Wäldern und Ernten, Übertragung gefährlicher Krankheiten – haben auch wir immer neue Lösungen entwickelt, den »Ungeziefern« zu Leibe zu rücken. Möglichst effizient und preiswert. Gedanken über den Wert von Insekten: Fehlanzeige. Wissen über Insektenrückgänge: nicht vorhanden. Schließlich wurden damals nur die negativen Auswirkungen der Sechsbeiner in den Medien beschrieben. Studien zum Insektensterben schafften es erst Ende 2017 an die Oberfläche.

Wie gesagt, ich habe darin kein Problem gesehen, bis ich 2011 mit einer aus meiner Sicht innovativen Fliegenfalle zu den Schweizer Konzeptkünstlern Frank und Patrik Riklin ging. Eigentlich wollte ich nur eine originelle Idee, um mein neues, insektizidfreies Tötungsprodukt schneller in die Regale der großen Händler zu bekommen. Doch stattdessen sagten mir die beiden offen ins Gesicht: Deine Produkte sind einfach nur schlecht. Wie viel Wert hat eine Fliege für dich? Anstatt Insekten zu töten, musst du Insekten retten!

Diese drei Sätze haben meine Welt aus den Angeln gerissen. Wie gerne hätte ich versucht, die aufgestoßenen Türen wieder zu verschließen. Doch schließlich habe ich mich der unbequemen Realität gestellt und mein Geschäftsmodell aus einer neuen Perspektive betrachtet: Was mache ich eigentlich den ganzen Tag? Woher nehme ich das Recht, im großen Stil Insektentötungsprodukte herzustellen und Nutzer zu ermutigen, sie anzuwenden – ohne darüber aufzuklären, welcher immense Schaden dabei entsteht? Was läuft nicht nur bei mir falsch, sondern auch bei meinen Mitstreitern?

Inzwischen hat meine Branche für so gut wie jedes Insektenproblem eine Lösung parat. Die Umsätze zeigen seit Jahrzehnten nach oben oder sind zumindest stabil. Doch anstatt sich zufriedenzugeben, versuchen alle krampfhaft weiterhin auf Wachstumskurs zu bleiben. Nur, wie schafft man das, wenn der Markt gesättigt ist und die Kunden nicht mehr Produkte brauchen? Man verführt. Redet Menschen Bedürfnisse ein, von denen sie nicht wussten, dass sie sie überhaupt haben. Indem man Produkte

Für UNVERZICHTBAR ERKLÄRT, Insekten sind schädlich und eklig, wir helfen Ihnen, Ihr Heim zu verteidigen, Ihre Familie zu schützen;

VERHERRLICHT, jetzt mit angenehmem Duft, besonders lang anhaltender Wirkung, extrabreitem Wirkspektrum und Powerspezialdüse, die bereits aus vier Metern Entfernung trifft;

BILLIGER ANBIETET, gerne auch im Doppel-Sparpaket.

Ein insektizidhaltiges Insektenspray mit 400 Milliliter Inhalt ist im deutschen Handel für 1,25 Euro inklusive 19 Prozent Mehrwertsteuer zu haben. Ein insektizidhaltiges Mottenpapier mit 20 Blatt gibt es für 95 Cent. Bei solchen Preisen überlegt der Kunde nicht lange. Er greift zu – für alle Fälle.

Wenn wir ehrlich sind, hat sich schon lange das Sinnverhältnis verschoben: vom sinnvollen Produktangebot hin zum Überkonsum. Das gilt nicht nur für meine Branche.

Städte kollabieren unter zu viel Verkehr – Automobilhersteller bewerben ihre immer größeren und schwereren Fahrzeuge mit glücklichen Familien und unberührter Natur.

Jedes Jahr landen allein in Deutschland 1,3 Millionen Tonnen an Kleidung nur in der Resteverwertung, Tendenz weiter steigend 1 – Fast-Fashion-Konzerne fluten ihre Shops alle paar Wochen mit neuer, billigst produzierter Trendware …

Wer hier auf den kritischen, aufgeklärten Kunden setzt, der durch sein Einkaufsverhalten den Markt in seine Schranken weisen wird, macht es sich zu einfach. Wir alle wissen: Kunden lassen sich verführen. Weil sie letztlich unseren Botschaften Glauben schenken wollen – und darauf vertrauen, dass schon alles seine Richtigkeit hat. Dass das Unternehmen verantwortungsvoll und vorausschauend handelt, kurz: seinen Job macht.

Dass dieses Vertrauen nicht komplett aufgebraucht ist, liegt daran, dass die Auswirkungen hier bei uns noch nicht in aller Konsequenz und Härte zu spü-

ren sind. Die wahren ökologischen und sozialen Kosten für unsere Produkte haben wir im großen Stil externalisiert. Doch der Wind dreht sich. Nicht nur Jugendliche sagen uns, dass wir für ihre Zukunft noch etwas übrig lassen sollen, sondern auch der gesunde Menschenverstand. Der aktuelle Ressourcenverbrauch unserer Gesellschaft liegt bei 2,5 Erden – wir haben nur eine.

Ich möchte nicht ins Horn jener stoßen, die seit Jahren das Zeitalter der Postwachstumsökonomie und des großen Verzichts ausrufen. Wir müssen nicht weniger wirtschaften und wachsen, sondern anders! Sinnlos aufgeblasene Märkte zurückdrängen und stattdessen neue nachhaltigkeitsorientierte Märkte aufbauen. Dafür benötigen wir unser ganzes unternehmerisches Geschick. Kopf, Herz und Hand. Und den Mut, Erfolg neu zu definieren und dabei Inhalt über Geld zu stellen, Sinn vor Kommerz.

In diesem Buch lasse ich die vergangenen zehn Jahre Revue passieren. Von der Entwicklung einer insektizidfreien Fliegenfalle über die Begegnung und die Zusammenarbeit mit den Künstlern Frank und Patrik Riklin und unserer gemeinsamen Aktion Fliegen retten in Deppendorf, bis hin zur Anlage insektenfreundlicher Kompensationsflächen, der Etablierung des Gütesiegels »Insect Respect« und der Präsentation einer weltweit einzigartigen Lebendfalle für Fliegen.

Meine Transformation vom Insektentöter zum Insektenretter ist noch nicht abgeschlossen. Ich befinde mich auf dem Weg. Ob es gelingen wird? Ich bin zuversichtlich, doch es gibt keine Sicherheit. Aber was ist schon sicher? Im Grunde nur, dass wir uns verrannt haben. Unendliches Wachstum in einer endlichen Welt sorgt nicht für mehr Wohlstand und Wohlergehen, sondern für Verarmung an Natur, Leben und Sinn.

Mein ganz besonderer Dank gilt den beiden Künstlern Frank und Patrik Riklin. Sie haben mir nicht nur die Augen geöffnet. Sie haben mir auch gezeigt, dass wirklich Neues nur dann entsteht, wenn man sich ganz und gar einlässt und einen Weg zu Ende geht, von A bis Z.

Insofern ist dieses Buch eine Ode an die Insekten, die so viel für uns Menschen und unseren Planeten leisten; an ein Unternehmertum, das Zahlen und Bilanzen hinter Ethik, Haltung und Aufrichtigkeit rückt; und an die Kunst, die uns den Wahnsinn, den wir uns jeden Tag leisten, als solchen erkennen lässt.

Anmerkung: In der folgenden Transformationsgeschichte haben wir die Namen einiger Protagonisten geändert.

1 Bundesverband Sekundärstoffe und Entsorgung (BSVE), 2019


STUFE 1

IN BEWEGUNG SETZEN

2010

Oktober Nach drei Jahren Entwicklungsarbeit halte ich etwas in Händen, das wirklich funktionieren könnte. Eine Fliegenfalle, der man auf den ersten Blick nicht ansieht, dass sie eine Fliegenfalle ist. Weil eine bunte Scheibe die Klebefläche verdeckt, an der die Tiere haften bleiben und verenden. Insekten sollen im Verborgenen sterben. Das wünschen sich unsere Kunden.

Begeistert zeige ich meinem Bruder Arne den Prototypen. Seit Anfang der 1990er-Jahre kümmern wir uns gemeinsam um das Unternehmen unserer Eltern. Mein Bruder als Allrounder in Produktion und Verwaltung, ich als Geschäftsführer. Der Hauptsitz ist mit 50 Mitarbeitenden in Bielefeld, der zweite Standort mit zehn Mitarbeitenden im schweizerischen Teufen, knapp zehn Kilometer von St. Gallen entfernt. Im Grunde läuft alles super. Seit Jahren geht es mit dem Umsatz bergauf. Neben unserer Hausmarke recozit, die wir exklusiv an kleine Fachhändler verkaufen, wächst unser zweites Standbein »Handelsmarken« besonders gut. Für große Handelshäuser stellen wir Fliegenfänger, Insektenspray, Mottenpapier und Ameisenköder her, die sie dann unter ihrem eigenen Namen verkaufen.

»Das neue Produkt besteht aus drei Komponenten«, sage ich zu Arne. »Hier die runde Fangscheibe aus festem Polystyrol mit einem rückseitigen Klebestreifen fürs Anbringen am Fenster. Die Scheibe ist nicht mehr transparent wie bei unseren Vorgängern, sondern gelb. Gelb lockt Fliegen besonders gut an. Außerdem hat die Scheibe in der Mitte ein Loch für einen Saugnapf, auf dem eine Abdeckscheibe steckt.«


SONNENLICHT LÄSST

DIE FALLE LEUCHTEN

Arne nimmt die Fliegenfalle in die Hand und sieht, dass die Innenseite der Abdeckscheibe, also die Seite zum Fenster, wie ein Spiegel silbern eingefärbt ist. So wird das Sonnenlicht reflektiert, die gelbe Fangscheibe fängt an zu leuchten und lockt dadurch noch schneller Fliegen an. »Wenn das funktioniert, Hans, dann ist das sensationell. Die Leute werden das kaufen! Lass uns die Wirksamkeit von Herrn Bucher in dem Schweizer Labor prüfen.«


A
Wer sich mit Insekten beschäftigt, merkt schnell: Es gibt unglaublich viele ARTEN – die eine Million, die wissenschaftlich beschrieben ist, macht nicht einmal die Hälfte aus, vielleicht sogar nur ein Zehntel. Keine andere Tiergruppe kommt auf eine so gigantische Zahl.Wie es den Tieren geht, hängt von vielen Faktoren ab: Wo leben sie, wie entwickeln sich Temperaturen und Feuchtigkeit vor Ort, finden sie genug zu fressen und Plätze zum Vermehren, und was machen ihre natürlichen Feinde?Klimawandel und Internationalisierung des Waren- und Personenverkehrs sorgen dafür, dass in manchen Regionen die Zahl bestimmter Insekten zunimmt. Gleichzeitig werden die Sechsbeiner immer stärker bekämpft und aus ihren natürlichen Lebensräumen verdrängt. Wiesen werden versiegelt für immer neue Häuser, Straßen und Einkaufszentren. Zudem werden Wälder abgeholzt, Moore trockengelegt und Felder monokulturell bepflanzt – wenn überhaupt finden Insekten dort nur saisonal Futter.Zahlreiche Studien belegen, dass die Gesamtzahl der Insekten stark rückläufig ist. Allein in Westeuropa haben wir in den vergangenen 50 Jahren die Hälfte der Biomasse an Insekten verloren. Rund 40 Prozent der Insektenarten sind gefährdet und fünf Prozent bereits ausgestorben.Vermutlich ist die Lage aber noch ernster. Mehrere Studien konnten zeigen, dass Insekten nicht sofort sterben, es dauert mitunter Jahre, bis Arten schwinden und irgendwann ganz verschwunden sind. Insofern bilden die heutigen Zahlen nur die Vergangenheit ab – die Auswirkungen unseres gegenwärtigen Handelns ist bis dato unbekannt.


Dezember Kurz vor Weihnachten liegen die Testergebnisse vor: Volltreffer. Unser Produkt fängt die Fliegen schneller als die beiden großen Markenprodukte. Jetzt brauchen wir nur noch die richtige Vermarktung. Wieder treffe ich mich mit Arne, um die nächsten Schritte zu besprechen.

»Als Erstes solltest du das Produkt patentieren lassen«, sagt mein Bruder und stellt fest: »Die Fliegenfalle wäre das erste Patent in unserer Firmengeschichte.«

»Und dann?«

»Vielleicht als Handelsmarke für unseren Kunden Aldi? Der Discounter würde uns schnell große Mengen abnehmen können.«

»In Bezug auf einen kurzfristigen Erfolg hast du recht. Aber schon nach kurzer Zeit geht es wieder nur um den Preis und wir verdienen kein Geld. Wenn aber das Produkt so gut ist, wie wir es erwarten, dann kann es uns eine ganz neue Tür öffnen. Ich meine, eine neue, eigene Marke: insektizidfrei und zeitgemäß.«


STUFE 2

NEUE IDEE NICHT GLEICH DER ÖKONOMIE OPFERN

2011

Februar Unsere Freundin Agathe Nisple ist Kulturvermittlerin. Über sie haben meine Frau Julianne und ich schon vor einigen Jahren Frank und Patrik Riklin kennengelernt. Die beiden Schweizer Konzeptkünstler haben bereits 2008 eine unterirdische Zivilschutzanlage in ein Null Stern Hotel verwandelt: Als Antithese zum Größen- und Luxuswahn kokettieren sie mit dem Sternesystem der Hotellerie, der Slogan: »Null Stern – the only star is you«. Hört sich spannend an. Gemeinsam mit unseren drei Kindern besuchen wir die Kunstinstallation in der Nähe von St. Gallen.

Als wir ankommen, stehen die eineiigen Zwillinge vor der Bunkeranlage und warten auf uns. Herzliche Begrüßung. Tour durch die Zimmer. »Eine Gemeinde gab uns den Auftrag, ihre ungebrauchte Bunkeranlage nutzbar zu machen«, erklärt Frank. »Das Ziel war, mit einfachsten Mitteln eine attraktive Übernachtungsmöglichkeit zu schaffen. Wir erhielten ein Honorar für die Idee und ein kleines Budget für die Realisierung. Schaut euch um: Betten, Nachttische, Lampen – alle Gegenstände stammen von den Dachböden der Einwohner.«

Patrik schaltet einen kleinen Monitor ein, um uns einen anderthalbminütigen Beitrag über ihre Kunstaktion zu zeigen. Verrückt. Nach nur wenigen Wochen gibt es Medienberichte in über 160 Ländern, darunter sogar ein längerer Bericht in den US-amerikanischen Fernsehnachrichten von CNN. Dazu die Nominierung für einen weltweiten Hotelpreis und Reservierungen für die nächsten drei Jahre!


AUS NICHTS

NEUES SCHAFFEN

Zu Hause reden wir viel über das erstaunliche Hotelerlebnis, schauen uns im Internet Filme über die Aktion an. Ein Satz der beiden bleibt hängen: »Kunst ist die Freiheit, aus nichts etwas Neues zu schaffen«. Ich muss an meine Fliegenscheibe denken. Wäre eine Kunstaktion von den beiden nicht auch für unser Produkt genau das Richtige? Mit einfachsten Mitteln und wenig Geld haben sie eine enorme Reichweite erzielt. Ich frage Julianne, als Kunsthistorikerin hat sie viel mehr Ahnung als ich. Ihre Antwort: »Auch wenn sich die Zusammenarbeit mit den Riklins für dein Produkt nicht so richtig auszahlen sollte, sie ist sicherlich für dich persönlich ein Gewinn! Die beiden werden dich auf neue Gedanken bringen!«

Mai Frank und Patrik öffnen mir die einfache, weiße Holztür des Atelier für Sonderaufgaben, wie sie ihr Unternehmen nennen. Es befindet sich auf der dritten Etage eines alten Lagerhauses aus gelben und roten Backsteinen im Zentrum von St. Gallen. Der circa 100 Quadratmeter große Raum scheint mit seinen nackten weißen, über drei Meter hohen Wänden, den verstaubten Heizkörpern, den großen Holzfenstern und dem alten blau gestrichenen Holzboden in den industriellen 1930er-Jahren stehen geblieben zu sein. Überall Gegenstände aus vergangenen Kunstaktionen: Plakate, Fotos, Kleberollen, Stative. Eine alte orangefarbene Kinobestuhlung, ein schwarzes Ledersofa sowie eine mit künstlichem Kuhfell bezogene Chaiselongue bieten Sitzmöglichkeiten. Gleichzeitig finden sich in diesem abstrakten Chaos auch penibel kontrollierte Orte. Zwei mehrere Meter lange Regale aus dünnem Blech sind vollständig mit einheitlichen, akkurat beschrifteten Aktenordnern bestückt. Zwei aufgeräumte Schreibtische stehen sich mit größtmöglichem Abstand gegenüber.

Zuerst plaudern wir über diverse Dinge, dann will ich den beiden endlich sagen, warum ich eigentlich hier bin. Noch haben sie nämlich keine Ahnung.

»Beim Null Stern Hotel habt ihr doch den Auftrag von einer Gemeinde bekommen. Ich meine, die haben euch beauftragt, mit diesem Bunker eine Kunstaktion durchzuführen. Könnt ihr für mich nicht auch eine Kunstaktion machen?«


B
Was sind Biozide?Stoffe, die Algen, Pilze, Bakterien und Tiere anlocken oder abschrecken, unschädlich machen oder gar zerstören.Wie viele Wirkstoffe sind in der Europäischen Union zugelassen?Derzeit gibt es 160 Wirkstoffe, die auf der sogenannten Unionsliste stehen und damit in Biozidprodukten vorkommen dürfen (Stand: 03/2020). Hinzu kommen zahlreiche Altstoffe, die noch auf dem Markt sind und derzeit geprüft werden. Die Wirkstoffe sind unterteilt in drei Produktgruppen und 22 Produktarten: von Desinfektionsmittel für die menschliche Hygiene über Holzschutzmittel bis hin zu Einbalsamierung und Taxidermie von Mensch- und Tierkörpern. Insektizide bilden eine eigene Pro-duktart mit derzeit 45 zugelassenen Wirkstoffen, die in der Regel das Nervensystem von Insekten zerstören oder ihr Exoskelett schädigen. Mittel, die Insekten und Tiere anlocken (Lockstoffe) beziehungsweise fernhalten (Repellentien) bilden ebenfalls eine eigene Produktart.


»Das kommt auf den Kontext an. Wofür sollen wir eine Aktion machen?«, fragt Patrik.

»Ihr wisst, ich mache viel schlechte Chemie, aber unser neues Produkt ist insektizidfrei und wirklich gut. Ich habe euch den Prototypen mitgebracht.«

Zusammen mit unserer Werbeagentur haben wir in den letzten Monaten intensiv am Namen und an der Aufmachung unserer neuen Falle gearbeitet, sodass ich nun ein fertiges Produkt präsentieren kann. Behutsam stelle ich eine farbig gestaltete, 14 mal 14 Zentimeter große Faltschachtel auf den Tisch. Im oberen Teil befindet sich der rote Markenschriftzug FLIPPI. Er trägt ein halbrundes, rotes Dach mit weißen Punkten, unter dem mit schwarzen Buchstaben steht: »Der einzigartige Fliegenschirm.«

»Flippi steht für Fliegenpilz«, sage ich. »Der sympathische Pilz, der auch giftig ist. Wahrscheinlich ein zu spielerischer Name für ein Insektenbekämpfungsprodukt. Aber wir müssen auffallen. Und wir brauchen eine Geschichte. Mit dem Pilz, das hat schon was.«

Ich gehe zum Fenster und zeige mit Flippi in der Hand, wie unser Produkt funktioniert.

»Fliegen werden von Licht und Wärme angezogen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Fliegen ans Fenster kommen. Und dann bleiben sie auf der Scheibe kleben. Flippi fängt die Insekten aber schneller als alle anderen Produkte auf dem Markt. Und der Clou ist die rot-weiße Abdeckung hier, damit man die toten Fliegen nicht sieht. Alles völlig neuartig und bereits zum Patent angemeldet.«

Ich mache eine Pause, um den beiden die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen. Keine Reaktion!


WIE BEKOMME ICH MEIN

NEUES PRODUKT VERKAUFT?

»Das Produkt ist super, aber die Frage ist: Wie bekomme ich es in die Regale der großen Händler? Als kleines Unternehmen habe ich kein Geld für Werbung. Und da dachte ich an die Kunst, an euch! Kurz: eine Art Null Stern Hotel für die Fliegenscheibe. Ihr werdet schon auf eine tolle Idee kommen, die die Medien aufgreifen. Damit werden wir bekannt, und die Menschen wollen die Fliegenscheibe haben!«

Was ist los mit den beiden? Normalerweise sprudeln sie vor Ideen. Jetzt herrscht eisiges Schweigen.

»Der beste Zeitpunkt für die Kunstaktion wäre der Mai nächsten Jahres. Dann fängt die Fliegensaison richtig an und die Produkte stehen in den Regalen. Budget habe ich auch schon: Mehr als 100 000 Schweizer Franken darf die Realisierung der Idee nicht kosten. Aber das ist ja auch schon viel Geld. Und natürlich euer Honorar für die Idee. Hier habe ich alles auf einer Seite für euch zusammengefasst«, sage ich und übergebe den Künstlern ein Briefing.

Die beiden schauen sich regungslos die Packung an. Nach einigen Augenblicken sagt Frank:

»Wir müssen darüber nachdenken. Lass uns ein paar Tage Zeit, wir melden uns.«

Juni Ich treffe mich mit den beiden Künstlern in ihrem Atelier. Drei Wochen nach meinem letzten Besuch haben sie mir ein ausführliches Vertragsangebot unterbreitet: Projekt Flippi, Idee und Konzeption zur Erleichterung des Markteintrittes. Der Preis schien mir gerechtfertigt, und ich habe die Avantgardisten beauftragt. Nun bin ich auf ihre Gedanken gespannt.


DEIN PRODUKT IST

EINFACH NUR SCHLECHT

»Wir haben lange über Flippi nachgedacht«, beginnt Frank. »Aber schließlich haben wir festgestellt, dass das Produkt einfach nur schlecht ist. Flippi tötet Fliegen! Aus ethischen Gründen können wir Produkte, die töten, nicht unterstützen. Es tut uns leid. Das Honorar musst du natürlich nicht zahlen.«

Was soll ich darauf sagen? Noch immer sehe ich die Objekte aus den vergangenen Kunstaktionen, die Plakate, Fotos, Kleberollen und Stative. Aber ich begegne ihnen mit einer geistigen Leere. Ich kann nicht denken. Nichts fühlen.

»Moment! Nicht so schnell!«, sage ich, um Zeit zu gewinnen.

»Das Fliegenbekämpfungsprodukt ist uns von Anfang an unsympathisch gewesen. Wir wollten dir erst auch kein Angebot unterbreiten«, erklärt Patrik. »Der Auftrag hat uns richtig gequält. Warum müssen die Leute unbedingt so viele Insekten töten? Insekten sind nützliche Tiere. Uns als Künstler interessiert das zwiespältige Verhältnis zwischen Mensch und Insekt. Hans, wie viel Wert hat eine Fliege für Dich als Insektentöter?«

Ich vernehme Patriks Worte nur im Unterbewusstsein. Die beiden Künstler treffen mich spürbar. Sie haben ja recht! Töten ist nicht gut, nicht richtig. Da ich überhaupt nicht reagiere, fährt Frank fort:

»Bei der Auseinandersetzung mit Flippi ist uns eine Produktidee gekommen. Statt zu töten, kann man die Fliegen doch wieder in die Natur entlassen. Uns schwebt eine Art Katzenklappe für Fliegen vor.«


C
•Wie viel CO2 sparen Sie ein?•Haben Sie keine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach?•Auch keine wärmegedämmten Fenster?Es stimmt. Mein Unternehmen hat das alles nicht. Und die Antwort auf die Frage »Warum« ist eigentlich ganz einfach:So lange unsere Produkte einen solch negativen Impact auf die Natur und unser aller Leben haben, werden wir uns vor allem darauf fokussieren, unsere Produkte zu ökologisieren, zu kompensieren, zu reduzieren oder gleich ganz vom Markt zu nehmen.Nur sinnvolle Angebote führen zu einer wirklich ausgeglichenen ökologischen Bilanz. (R)


Patrik rollt ein großes Blatt aus, das eine millimetergenaue Darstellung ihrer Idee zeigt: ein Fenster, in das eine Art Lebendfalle eingebaut ist. Die Fliegen werden durch meinen Lockschirm angezogen und in einem dahinterliegenden kleinen Kasten aus Holz oder Metall gefangen. Dieser wird dann anschließend durchs Fenster nach draußen geschoben.

»Wow! Sagenhaft. Sensationell. Gekauft«, sage ich. »Aber für meine Absatzkanäle viel zu teuer! Das ist etwas für die Fensterbranche.«

Ich brauche dringend eine Pause. Ich stehe auf, gehe ein wenig durch die riklinsche Ideenschmiede und bitte Frank um einen Kaffee.

Nach wenigen Minuten, in denen wir kaum sprechen, sitzen wir uns wieder am acht Meter langen, schmalen Holztisch gegenüber.

»Euer Fensterprodukt ist super. Respekt. Das wäre etwas für die Zukunft, wenn wir mit Fensterherstellern zusammenarbeiten würden. Aber habt ihr nicht vielleicht doch eine Idee für Flippi?«

»Wenn du unbedingt eine Kunstaktion haben möchtest«, sagt Frank, »dann empfehlen wir dir, die Welt umzudrehen: Du als Insektizidhersteller rettest Fliegen!«

»Bitte? Was meinst du?«, frage ich.

»In Zusammenarbeit mit einem Handelsunternehmen veranstalten wir in dessen Verkaufsfilialen einen Wettbewerb, bei dem die Kunden uns lebende Fliegen bringen und damit die Tiere retten. Als Belohnung für die Teilnehmenden gibt es einen Flug in die Sonne nach Spanien. Natürlich mit einer Fliege, versteht sich. Die Fliege bekommt ihr eigenes Ticket und damit ihren eigenen Sitzplatz. Denn nur wenn das Insekt genauso wie ein Mensch behandelt wird, entsteht eine neue Art der Beziehung, etwas Besonderes. Das Ganze nennen wir: Flippi – die größte Fliegenrettungsaktion der Welt.«

Patrik hält ein eigens kreiertes Plakat hoch, das eine Lufthansa-Düsenmaschine zusammen mit dem Slogan zeigt:

Rette 3 Fliegen und du fliegst mit einer Fliege für 1 Woche an den Strand! FlippiAirLine – ein ausgeflippter Reisewettbewerb zwischen Mensch und Insekt.

»Wir könnten die Menschen mit der Frage konfrontieren: Wie viel Wert hat eigentlich eine Fliege? Mit der Aktion machen wir auf den ökologischen Nutzen von Insekten aufmerksam – und du wirst bekannt, weil die Polarisierung mit dir als Retter für die Medien interessant ist.«

Vier Augen schauen mich an. Ich kann meine Gedanken und Gefühle nicht verstehen und erst recht nicht kontrollieren. Mein Kopf nickt. Ihre Arbeit ist großartige Konzeptkunst. Und sie würde von mir nicht nur in Auftrag gegeben. Ich würde in dem Werk sogar eine entscheidende Rolle spielen.

Zehn Sekunden später lande ich zurück in der Realität. Meine Stimme klingt hart. Aber auch irgendwie bedrückt. »Ich verstehe eure Arbeit und bin beeindruckt. Ihr habt es tatsächlich geschafft, eine Kunstidee für Flippi zu entwickeln. Aber es ist verrückt, Fliegen zu retten, die Idee richtet sich direkt gegen meine Produkte.«

»Wir haben geahnt, dass du die Rettungsaktion nicht veranstalten möchtest und haben völliges Verständnis für dich«, sagt Frank und weist trotzdem noch einmal auf die evident notwendige Umkehr hin, Fliegen zu retten anstatt sie zu töten. Ich fühle mich als spießbürgerlicher Spielverderber und verabschiede mich.

Auf der Autofahrt nach Hause denke über Fliegenretten nach. Frank und Patrik haben mich tief getroffen, sehr tief. Und die beiden müssen in den letzten Wochen in einem Dilemma gewesen sein. Auf der einen Seite suchten sie nach einer gefälligen und leicht zugänglichen Idee, die von mir als konservativem Geschäftsmann umgesetzt werden kann. Auf der anderen Seite wollten sie sich als Künstler nicht beeinflussen lassen. Es durfte nicht darum gehen, was ein Unternehmer als schön und stimmig empfindet. Die beiden blieben sich selbst treu. Und nahmen in Kauf, dass ich ihren Vorschlag nicht realisieren würde.

Aber ist ihre Idee nicht genau das, was ich will? Will ich nicht endlich etwas Sinnvolles, das noch keiner vorher gedacht und gemacht hat? Fängt die Kunst nicht exakt dort an, wo das Wohlgefühl aufhört? Habe ich nicht von den Künstlern genau das erwartet, wozu andere keinen Mut haben? Kunst und Wirtschaft sind eben nicht zwei Welten, die sich nie begegnen dürfen. Nein, Kunst kann Wirtschaft Türen öffnen zu Veränderungsprozessen, die die Unternehmen selbst gar nicht denken, geschweige denn umsetzen können. Bis hierher.


FLIEGE INS FLUGZEUG SETZEN.

ABSURD.

Es folgt eine lange Diskussion mit meiner Frau, eine schlaflose Nacht, ein unruhiger Tag im Büro und noch eine Auseinandersetzung mit meiner Frau. Sie teilt meine Meinung. Vermutlich würde kein Mensch verstehen, dass ausgerechnet ich Fliegen retten will. Und dann noch eine Fliege ins Flugzeug setzen! Absurd! Trotzdem geht es in meinem Kopf hin und her.

Denk an die Finanzen! Die Medien werden bestimmt aufgrund der ungewohnten Polarisierung mit mir als Fliegenretter bundesweit berichten. Unser Produkt wird bekannt und daher mit großem Interesse vom Handel und später vom Konsumenten gekauft werden. Die notwendige Investition von 100 000 Franken ist ein Schnäppchen.

Denk an die Mitarbeiter! Was werden sie zu der Rettungsaktion sagen? Und was werden Kunden, Lieferanten, Banken, Behörden, Nachbarn über uns denken? Wie deuten mein Bruder und seine Familie und meine Eltern die Aktion? Ist es ein Widerspruch: Hersteller von Insektenbekämpfungsprodukten zu sein und Fliegen zu retten? Stelle ich damit nicht mein Geschäft komplett infrage?

Denk an die Insekten! Wie viele Fliegen, Mücken, Motten und Ameisen habe ich inzwischen auf dem Gewissen! Nicht ich persönlich, aber meine Produkte töten. Das ist ethisch nicht korrekt. Woher nehme ich mir das Recht dazu? Ich muss zurückgeben! Gerade ich, dessen seriell hergestellte Produkte massenweise Insekten bekämpfen, muss mich endlich für Insekten einsetzen! Wenigstens einmal?

Fliegenretten fühlt sich auf einmal so verdammt gut und richtig an.

Nach einer zweiten schlaflosen Nacht rufe ich am Morgen im Atelier an und sage nur zwei Worte:

»Wir realisieren!«

Frank und Patrik sind sprachlos.

August Ich besuche die Schweizer Oase für Sonderaufgaben, um die ersten Schritte der Aktion »Fliegen retten« zu besprechen. Patrik begrüßt mich fast schon kameradschaftlich. Als Erstes will er wissen, wie meine Mitarbeitenden auf die Idee der Rettungsaktion reagiert haben.

»Katastrophe! Ich habe eine Stunde lang alles gegeben! Eine Superpräsentation vor allen Verwaltungsmitarbeitenden, dem neuen Flippiverkäufer Herrn Paul und vor meinem Bruder. Keiner hat nur ein Wort rausbekommen. Alle finden die Idee verrückt. Leider auch mein Bruder. Er hat mir später gesagt, dass er ja vieles mitmache. Aber das gehe ihm zu weit. Und Herr Paul hat jetzt ein Problem! Als wir ihn einstellten, war eure Idee ja noch gar nicht existent. Nun macht er sich Gedanken, ob er nicht im falschen Film gelandet sei. Wir haben noch eine Menge Überzeugungsarbeit zu leisten.« »Solche Reaktionen sind wir gewohnt. Das ist ganz natürlich«, sagt Patrik gelassen und fängt an, über die Aktion zu reden.

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