Homeward Bound

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Aus der Reihe: Pine Cove #3
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Homeward Bound
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Deutsche Erstausgabe (ePub) Juli 2020

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2019 by HJ Welch

Published in the English language as

»Homeward Bound«

Published by Arrangement with HJ Welch

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

ISBN-13: 978-3-95823-834-3

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


Aus dem Englischen von Katie Kuhn

Liebe Lesende,

vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die Autorin des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Euer Cursed-Team

Klappentext:

Als Swift Coal entdeckt, dass er eine fünfjährige Tochter hat, von der er bisher nichts wusste, wird sein geordnetes Leben gründlich auf den Kopf gestellt. Mit der kleinen Imogen und ihrer launischen Katze hat er alle Hände voll zu tun und ist dementsprechend dankbar, als Micha Perkins ihm seine Hilfe anbietet.

Micha ist erst vor Kurzem notgedrungen nach Pine Cove zurückgekehrt, obwohl er sich in der Stadt nie wirklich zu Hause gefühlt hat. Aber für Swift hatte er schon immer eine heimliche Schwäche und dass er schließlich bei seinem Schwarm einzieht, um ihn besser unterstützen zu können, lässt alte Gefühle wieder aufflammen. Micha kann es kaum fassen, als Swift und er sich tatsächlich annähern, doch dann macht ihm seine Vergangenheit einen Strich durch die Rechnung und gefährdet alles, was er sich mit Swift und Imogen so mühsam aufgebaut hat…

Dramatis Personae

Mitglieder der Familie Perkins

Sunny ist mit Tyee verheiratet. Ihre Adoptivkinder sind:

Logan

Darcy

Hudson

Rhett

Micha

Logan ist mit Nell verheiratet. Ihre Kinder sind:

Saul

Rona

Carlee

Darcy ist mit Leon verheiratet. Ihre Kinder sind:

Pepper

Charles

Hudson ist zurzeit single.

Rhett ist mit Louella verheiratet. Ihre Adoptivkinder sind:

Mateo

Luis

Micha ist zurzeit single.

Mitglieder der Familie Coal

Deb ist mit Joe verheiratet. Ihre Kinder sind:

Swift

Robin

Jay

Ava

Kestrel

Swift hat eine Tochter mit Amy:

Imogen

Prolog

Vor zwei Monaten

Micha

Es lief nicht gut.

Micha Perkins hielt das Steuer von Dales verbeultem Kia Rio umklammert und schaute schon zum zehnten Mal in der letzten Minute aus dem Fenster. Dale hatte gesagt, er wollte nur kurz etwas aus einem der Läden am Ufer besorgen und bräuchte dazu Bries Hilfe und Micha als Fahrer.

Und er hatte Micha gesagt, dass er den Motor laufen lassen sollte.

Micha versuchte, Radio zu hören, aber die Musik ging ihm auf die Nerven. Es war schon ziemlich spät. Jedenfalls für diese Ecke von Seattle. Hatten um diese Uhrzeit überhaupt noch Läden auf? Und warum hatte Dale so lange gewartet, um seine Bestellung abzuholen?

Es war kein Geheimnis, dass Micha und Dale sich oft in die Haare bekamen, aber Dale hatte Micha eine Chance gegeben, als sich sonst niemand um ihn zu kümmern schien. Er hatte ihn aufgenommen und ihm ein Zuhause gegeben. Micha wusste, was er Dale schuldig war.

Warum also war er so nervös?

So lief es bei ihnen im Haus. Die meisten von ihnen waren schwul – Ausreißer und Streuner, die in die Stadt gekommen waren, um einen Neuanfang zu machen. Das Haus war ihre Familie und in einer Familie stand man füreinander ein.

Micha wusste das, auch wenn er ein ziemlich lausiger Sohn gewesen war. Mit dieser Familie wollte er es besser machen und dazu gehörte, dass er auf Dale hörte. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl im Magen. Er wusste, dass Dales Geschäfte nicht immer lupenrein waren. Mist.

Warum war er nur mitgekommen? Brie war alt genug, um selbst zu fahren. Er war sich ziemlich sicher, dass sie einen Führerschein hatte, zumindest einen auf Probe.

Und er hätte die beiden nicht allein lassen sollen.

Micha knabberte wütend an seinem Daumennagel und schaute in den Rückspiegel. Es war nicht viel zu sehen, weil fast die Hälfte der Straßenlampen nicht funktionierte. Aber nichts deutete darauf hin, dass Dale und Brie demnächst in der kleinen Gasse zwischen den Lagerhäusern auftauchen würden, in denen er parkte.

Was wusste Micha schon? Nichts. Er musste daran denken, dass er froh sein konnte, ein Dach überm Kopf zu haben und die paar Kröten, die er in einer abgewirtschafteten Bar verdiente, nicht für die Miete draufgingen. Er musste an seine Position denken.

Was war schon dabei, dass Dale ein Kontrollfreak war? Wenigstens hielt er das Haus zusammen und stellte keine überflüssigen Fragen. War es da zu viel verlangt, dass man ihm ab und zu einen Gefallen tun musste? Bisher hatte er Micha allerdings noch nie zu einem so geheimnisvollen Geschäft mitgenommen.

Und was war mit Rich?

Micha schnalzte mit der Zunge und knabberte am nächsten Fingernagel. Rich war immer schwierig gewesen. Wohin auch immer er verschwunden war, dem Haus ging es ohne ihn besser. Aber Rich und Dale hatten oft nächtliche Expeditionen unternommen.

Micha konnte so dumm sein. Vermutlich hatten Dale und Rich nur gefickt und Micha war eifersüchtig. Er musste endlich einsehen, dass sie heute Nacht aus ganz banalen Gründen hier waren. Trotzdem… Er konnte das Gefühl nicht loswerden, dass es keine gute Idee war, Brie mit Dale allein zu lassen. Dale interessierte sich normalerweise nicht für Frauen, aber…

Mist. Was war denn das? Es war zu dunkel und er konnte nichts erkennen, also kurbelte er das Fenster etwas auf. Die laue Nachtluft des Augusts, die ins Auto eindrang, roch leicht nach Abgasen. Micha spitzte die Ohren.

Es war eine Alarmanlage.

Er setzte sich gerade auf und krallte sich am Lenkrad fest. Der Motor brummte leise. Alles war in Ordnung. Nachts gingen in der Stadt ständig Alarmanlagen los. Vielleicht war sie von dem Wind ausgelöst worden, der vom Meer her blies. Oder von einem Fuchs, der in den Abfalltonnen nach Fressbarem wühlte. Oder Jugendlichen mit ihren Spraydosen, die das falsche Fenster besprühten.

Außer… Kam da jemand gerannt?

Micha drehte sich in seinem Sitz um und schaute mit zusammengekniffenen Augen ins Dunkel. Sein Herz pochte. Mist. Das waren definitiv Dales und Bries dünne Beine, die da durch die Gasse auf ihn zugerannt kamen.

»Los!«, brüllte Dale.

Was? Meinte er etwa, dass Micha losfahren sollte? Die beiden waren nur sechs oder sieben Meter vom Auto entfernt. Der Motor lief und er konnte losfahren, sobald sie im Wagen saßen. Und was zum Teufel hielten sie in den Armen?

Und war das etwa eine Sirene?

Dale riss die Beifahrertür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. »Fahr los!«

»Aber…«, stammelte Micha. Brie war noch einige Schritte vom Auto entfernt.

»Fahr los, du verdammter Idiot!«, brüllte Dale ihm ins Ohr. Es dauerte einige Sekunden, bis Brie die Tür aufgerissen und ins Auto gesprungen war. Einige weiße Schachteln fielen auf den Rücksitz.

Micha gab Gas und Brie schlug die Tür zu, während sie durch die Gasse schossen.

»Dale? Was soll die Scheiße?«, schrie Micha. »Was geht hier ab?«

»Halt's Maul und bring uns hier raus!« Dale sah sich panisch um, schaute in die Spiegel und hinten aus dem Fenster, während Micha die Straße entlangraste. »Mein Gott, Perkins… Du hattest nur einen Job…«

»Ich fahre doch schon!«, schnauzte Micha ihn beleidigt an, weil Dale so tat, als wäre das alles seine Schuld. Er hatte alles getan, was Dale ihm aufgetragen hatte. Nur Brie hatte er nicht zurückgelassen. Das hätte er niemals getan. Wahrscheinlich war Dale nicht aufgefallen, dass sie noch nicht im Auto gesessen hatte.

Sie kurvten um eine Ecke. Die Nachtluft blies durch das offene Seitenfenster ins Auto. Ja, das waren definitiv Sirenen, die Micha da hörte. Und sie wurden lauter.

»Dale, sind das die Bullen?«, rief Micha ungläubig. Er konnte im Rückspiegel Bries verängstigtes Gesicht sehen, das sich kreidebleich von den roten Haaren abhob, die sie zu einem strubbeligen Dutt zusammengebunden hatte. Für einen kurzen Augenblick wurde er wütend und vergaß seine Angst, sie in Gefahr gebracht zu haben. »Habt ihr etwas gestohlen?«

»Wenn du nicht aufs Gas trittst, spielt das alles keine Rolle mehr, du Idiot!« Dale packte die weißen Schachteln in einen Rucksack, den er unterm Beifahrersitz hervorzog.

 

Er trug Handschuhe.

Brie auch.

Mitten im Sommer…

Verdammte Scheiße! »Dale, sind das iPads?«

»Perkins… Aufpassen!«

Micha trat auf die Bremse, riss das Lenkrad herum und bog mit quietschenden Reifen in eine kleine Gasse ab. Nur weg von dem Polizeiauto, das mit blinkenden Lichtern und heulender Sirene immer näher kam.

Galle stieg in ihm auf. Was war hier los? Wie war es so weit gekommen? Es war alles so schnell gegangen. Er hatte im Auto gesessen und gewartet, und dann…

Micha kannte sich hier nicht gut aus. Die blinkenden Lichter waren wieder hinter ihnen und er wusste nicht, warum sie vor ihnen auf der Flucht waren. Nur… dass er es doch wusste. Er wollte es sich nur nicht eingestehen.

»Dale?«, meldete sich Brie ängstlich vom Rücksitz. Micha sah im Spiegel, wie sie nervös abwechselnd nach vorne auf die Straße und wieder nach hinten schaute, von wo sich das Polizeiauto näherte.

»Links abbiegen!«, bellte Dale.

Micha sah ihn verwirrt an. »Aber das ist eine Sackgasse…«

»Links!« Dale griff ins Lenkrad und fuhr sie beinahe gegen eine Hauswand. Micha schaffte es gerade noch, den Wagen auf der Straße zu halten. Nicht, dass es ihnen viel geholfen hätte. Sie fuhren auf ein weiteres Lagerhaus zu, aber die Gasse endete vor dem verschlossenen Hoftor aus Maschendraht.

»Dale, wir können nicht…«

Dale schnippte ihm hektisch mit den Fingern vorm Gesicht. »Ranfahren! Da!«

Dieses Mal zögerte Micha nicht. Er tat, was Dale ihm befohlen hatte. Er musste den Plan nicht recht kapiert haben. Kaum hielt er auf die kleine Nische zu, öffnete Dale die Tür und sprang aus dem Wagen. Er verschwand mit seinem Rucksack in der Nacht. Brie folgte ihm dicht auf den Fersen.

»Micha! Komm schon!«, schrie sie. Ihre zerfetzten Turnschuhe fanden auf dem Kiesboden kaum Halt. Ihr junges Gesicht war angstverzerrt im harten Licht der Innenbeleuchtung. Dann drehte sie sich um und war ebenfalls verschwunden, während Micha noch versuchte, seinen Sicherheitsgurt zu lösen.

Die Sirenen heulten durch die Nacht. Es waren jetzt zwei Polizeiwagen, die in die Sackgasse einbogen. Micha konnte rechts nicht mehr von links unterscheiden und lief einfach blindlings los. Adrenalin pumpte ihm durch die Adern.

Wo war Brie? War sie in Ordnung? Gott, sie war noch so jung… Er hätte vorsichtiger sein sollen. Der Boden war uneben. Micha kam in der Dunkelheit ins Stolpern und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Es kostete ihn kritische Sekunden.

»Stehen bleiben! Polizei!«

Er drehte sich um und wurde durch das Licht einer Taschenlampe geblendet, die ihm direkt ins Gesicht schien. Er konnte gerade noch erkennen, dass der Polizist eine Pistole auf ihn gerichtet hatte.

Eine ungekannte Angst schoss ihm durch den Leib. Seine Beine waren wie gelähmt. Er hielt sich schützend die Arme vor den Kopf. »Ich bin unbewaffnet!«, rief er. »Ich schwöre, ich bin unbewaffnet!«

Immer mehr Lichter tanzten vor seinen Augen und blendeten ihn. Er hörte Schritte und Stimmen, aber seine Füße waren wie festgewurzelt. Dann wurde er von groben Händen gepackt, die ihn umdrehten und an den Drahtzaun schoben.

Die Arme wurden ihm nach hinten gezogen. Sein Kopf wurde seitlich an den Zaun gedrückt und er konnte kaum atmen. Tränen brannten ihm in den Augen. Micha blinzelte sie weg.

»Du hast das Recht zu schweigen«, rezitierte der anonyme Polizist. Micha unterdrückte ein Schluchzen. Nein, nein, nein. Das war nicht sein Leben!

Was war nur passiert?

Dann sah er sie. Sie kauerte auf der anderen Seite des Zauns hinter einem Laster. Brie. Micha wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war, aber sie hatte es geschafft. Sie war weit genug weg und es war so dunkel, dass die Bullen sie nicht gesehen hatten. Aber Micha hatte sie gesehen. Und dann sah er auch Dale, der hinter ihr kauerte und ihr eine Hand auf die Schulter legte.

Micha wollte Bries Leben nicht auch noch ruinieren. Er sah sie direkt an. Brie sah aus, als wäre sie am liebsten zu ihm gerannt.

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sie würde ihm von den Lippen ablesen können, was er gesagt hatte. Er hoffte, es würde sie zurückhalten. Dale zog sie an der Schulter nach hinten und sie verschwanden im Schatten der Dunkelheit.

»Sorry, mein Junge«, sagte der Bulle, offensichtlich als Antwort auf sein Nein. »Hast du deine Rechte verstanden oder nicht?«

Oh, Micha hatte verstanden. Er hatte sehr viel verstanden.

Er hatte gerade innerhalb von zehn Minuten sein ganzes Leben versaut. Die Frage war nur, ob es jemanden interessierte.

Kapitel 1

Swift

»Hier muss ein Fehler vorliegen.«

Mrs. Bowman vom Child Protection Service – dem Kinder- und Jugendamt – warf einen mitfühlenden Blick über ihren Brillenrand auf die andere Seite des Schreibtisches. Der Tisch war beladen mit Papierstapeln, Aktenordnern, schmutzigen Kaffeetassen, einem verstaubten, aber gut gewässerten Pfennigbaum und gerahmten Fotos, die alle in ihre Richtung standen. Mrs. Bowman war Mitte fünfzig und etwas rundlich. Der Schal um ihren Hals war mit einem Schwalbenmuster bedruckt.

Swift lenkte sich mit diesen Details ab. Die Fahrt quer durch den Staat nach Olympia hatte zwei Stunden gedauert, war aber immer noch zu kurz gewesen, um zu fassen, was sie ihm am Telefon erzählt hatte. Jetzt war die Tatsache nicht mehr zu übersehen.

Und sie befand sich im Nachbarzimmer.

Sie – das war Swifts Tochter.

Er legte die Hand vor den Mund und stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie. Seine Mom rieb ihm über den Rücken. Es war lange her, seit er sie das letzte Mal um Beistand gebeten hatte, aber er hätte es nicht allein geschafft und war ihr außerordentlich dankbar dafür, ihn begleitet zu haben. Doch selbst ihr fehlten die Worte und sie sah unschlüssig zwischen ihm und Mrs. Bowman hin und her. Mrs. Bowman lächelte müde und schob eine Packung Papiertaschentücher zwischen zwei Aktenstapeln hindurch auf ihn zu.

»Mr. Coal«, sagte sie freundlich. »Niemand zweifelt daran, dass Sie über diese Sache nichts wussten. Ms. Dillard hat uns bestätigt, Sie nie über Imogens Existenz informiert zu haben. Aber Sie sind auf der Geburtsurkunde als Vater eingetragen. Möchten Sie einen Vaterschaftstest veranlassen?«

Swift lehnte sich zurück. Der alte Stuhl knarrte verdächtig. Swift rieb sich blinzelnd übers Gesicht und sah seine Mutter an. »Ich meine… Ja. Das hört sich vernünftig an. Schon aus rechtlichen Gründen. Das Datum stimmt und passt zu der Zeit, als wir zusammen waren. Sie hat dann mit mir Schluss gemacht und die Stadt verlassen. Ich habe nie wieder von ihr gehört. Sie hat mich auf Facebook blockiert und…«

Er verstummte. Seine Kehle war wie zugeschnürt und seine Augen feucht. Er rieb sie trocken, während er über die richtigen Worte nachdachte.

»Ich hätte ihr geholfen«, sagte er schließlich und runzelte die Stirn. »Ich hätte Unterhalt bezahlt. Ich weiß, aus unserer Beziehung ist nichts geworden, aber ich schwöre, dass ich alles für sie getan hätte, wenn ich gewusst hätte, dass…«

Mrs. Bowman hob die Hand.

»Das weiß sie, mein Liebling«, sagte seine Mom und drückte seine Hand. »Du hättest Amy nicht im Stich gelassen.«

»Ich erlebe hier fast täglich Menschen, die als Eltern nicht geeignet sind, Mrs. Coal«, sagte Mrs. Bowman. »Ihr Sohn ist eine erfrischende Abwechslung. Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Coal. Von mir haben Sie keine Probleme zu erwarten. Aber die Lebensumstände von Ms. Dillard haben sich maßgeblich verändert und das hat Auswirkungen auf die kleine Imogen.«

Swift biss sich auf die Lippen und warf einen Blick auf die Tür, die von Mrs. Bowmans Büro in das kleine Nebenzimmer führte. Sie hatte gesagt, dass Imogen dort auf ihn wartete und von einer ihrer Mitarbeiterinnen beaufsichtigt wurde. Durch die Milchglasscheibe der Tür waren leise fröhliche Stimmen zu hören.

Swift kam sich vor, als wäre er in einem fremden Körper aufgewacht. Er war vor der Arbeit zum Joggen gewesen – wie üblich –, hatte geduscht, sich einen Proteindrink genehmigt und sein Mittagessen in eine Plastikbox gepackt. Als er gerade zur Tür ging und die Wohnung verlassen wollte, hatte das Telefon geklingelt.

Und jetzt war er hier.

Er fuhr mit dem Finger über die Tischkante und studierte die Maserung des Holzes, um Mrs. Bowmans nüchternem Blick auszuweichen. »Aber es geht Amy doch gut, oder? Sie kommt wieder in Ordnung?«

Mrs. Bowman seufzte. »Betrunken Auto zu fahren ist ein schwerwiegendes Delikt. Das Gericht hat sie zu dreißig Tagen Entzug verurteilt. Meiner professionellen Einschätzung nach ist sie allerdings nicht in der Lage, das Sorgerecht für Imogen angemessen auszuüben. Wenn Sie sich also nicht in der Lage sehen, die Verantwortung für das Kind zu übernehmen, und da Ms. Dillard keine nahen Verwandten hat, die sich um Imogen kümmern könnten, müssten wir die Kleine in ein Heim oder eine Pflegefamilie…«

»Nein!«, rief Swift so laut, dass er beinahe über sich selbst erschrak.

Er lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück und rang um Fassung. »Nein«, wiederholte er, dieses Mal leiser. Dann überlegte er kurz. »Ich gebe zu, es war ein höllischer Schock. Aber es ist alles in Ordnung. Ich werde mich daran gewöhnen. Ich will auf keinen Fall, dass sich Imogen unerwünscht fühlt. Ich… ich dachte nur, wenn ich eines Tages Vater werde, hätte ich wenigstens neun Monate Zeit, um mich darauf vorzubereiten. Jedenfalls länger als drei Stunden.«

Mrs. Bowman nickte seufzend. »Das kann ich gut verstehen. Brauchen Sie noch etwas mehr Zeit, bevor Sie die Kleine sehen wollen, Mr. Coal?«

Swift drehte sich zu seiner Mom um. Sie sah seinen Blick auf sich gerichtet, strahlte ihn an und nickte begeistert. »Alles okay, mein Mäuschen«, sagte sie gezwungen fröhlich. So hatte sie ihn nicht mehr genannt, seit er auf die Oberschule gewechselt war. »Du schaffst das schon. Ist doch ein Klacks für dich.«

Swift wusste, dass ihr sehr wohl klar war, dass es alles andere als ein Klacks war, ein Kind großzuziehen. Aber ihre Zuversicht nahm ihm die Angst. Teilweise.

Er würde für dieses kleine Wesen verantwortlich sein! Ein kleiner Mensch, der zur Hälfte aus seinen Genen bestand! Es war das Gewaltigste, was ihm in seinen zweiunddreißig Jahren passiert war, daran bestand kein Zweifel. Was, wenn er es vermasselte? In seinem Job konnte nichts Schwerwiegendes passieren – ein doppelt gebuchter Termin oder jemand verletzte sich an einem der Geräte. Solche Dinge konnten mit einem Telefonanruf oder einem Eisbeutel wieder geregelt werden.

Aber die Verantwortung für ein Kind würde ein Leben lang anhalten. Sie endete nicht automatisch, wenn es achtzehn wurde. Er sah es an seinen Eltern – er würde nie aufhören, sich um die Kleine zu sorgen und das Beste für sie zu wollen. Und selbst wenn Amy ihre Sucht besiegte und das Sorgerecht zurückbekam, würde Swift es mit ihr teilen wollen. Kinder brauchten einen Vater, wenn es irgendwie möglich war. Er würde Imogen nicht im Stich lassen. Niemals. Egal, wie sehr er sich davor fürchtete, so unverhofft Vater zu werden.

Also fing er am besten gleich damit an. Er atmete schnaufend aus und setzte sein bestes Lächeln auf.

»Richtig. Ein Klacks. Das arme Ding hat wahrscheinlich einige harte Tage hinter sich. Wir wollen sie nicht länger im Ungewissen lassen.«

Er nickte Mrs. Bowman zu, die ihn einen Moment nachdenklich musterte. Es war ihre Aufgabe, an erster Stelle in Imogens Interesse zu entscheiden, daher nahm Swift es ihr nicht übel, dass sie sich etwas Zeit ließ. Er selbst war ein praktisch denkender Mensch. Er stürzte sich meistens direkt in eine neue Aufgabe und lernte, sie zu bewältigen. Und Vater zu sein, konnte man erst lernen, wenn man Vater war.

Mrs. Bowman stimmte ihm offensichtlich zu. Sie nickte lächelnd und fuhr sich mit einer Hand glättend über ihren Schal und die Bluse. Dann stand sie auf, ging durchs Büro zu der Verbindungstür und klopfte leise. »Miss Dillard? Möchten Sie uns Gesellschaft leisten?«

Von der anderen Seite war ein Rascheln zu hören. Einige Sekunden später öffnete eine junge Frau die Tür und ein kleines Mädchen steckte den Kopf ins Zimmer.

Swift stockte der Atem. Ohne es zu wollen, fasste er sich an die Brust. Das war sie. Seine Tochter.

Sie blinzelte mit großen Augen und kam dann mit zögernden Schritten ins Zimmer. Ihre hellblonden Haare waren zu einem strubbeligen Zopf geflochten, der ihr bis zur Taille reichte. Sie hatte fast dieselbe Haarfarbe wie Swift. Er spürte einen Stich in der Brust.

 

Wow. Das war wirklich sein kleines Mädchen.

Sie schaute sich im Zimmer um und schob die Brille hoch, die ihr auf der Nase saß. Es war eine rosa Brille, über und über mit glitzernden Steinen besetzt. »Hallo«, sagte das Mädchen zu Mrs. Bowman und spielte mit den Fingern. »Jemand hat meinen Namen gesagt.«

Mrs. Bowman lächelte ihr freundlich zu und zeigte auf Swift, während ihre Kollegin in das Nebenzimmer zurückging, die Tür aber nicht ganz hinter sich schloss. Imogen sah von Mrs. Bowman zu Swift und seiner Mom, die beide noch auf ihren Stühlen saßen. Swift, der ein sehr großer Mann war, saß mucksmäuschenstill, weil er sie mit seiner Erscheinung nicht verängstigen wollte.

»Ja, Imogen. Das ist dein Daddy. Möchtest du ihn begrüßen?«

Daddy. Heiliges Kanonenrohr. Swift rang um Fassung und schluckte verkrampft, weil er schon wieder einen Kloß in der Kehle hatte. Er war gleichzeitig aufgeregt und verunsichert. Wie mochte sich erst Imogen fühlen?

»Hi, Imogen.« Er winkte und kam sich dabei unsagbar dämlich vor.

Hoffentlich fiel ihr Urteil nicht allzu hart aus.

Unglücklicherweise schien das aber der Fall zu sein, denn sie verzog das Gesicht und schob sich wieder die Brille hoch. »Ich habe keinen Daddy«, verkündete sie und wandte sich wieder an Mrs. Bowman. »Mommy sagt, manche Kinder haben keine Daddys und das ist okay so. Emmet und Nicola haben auch keine Daddys und Juan hat keinen Daddy und keine Mommy, weil er bei seiner Abuela lebt.«

Swifts Magen zog sich zusammen. Er wusste, es war nicht seine Schuld, aber aus irgendeinem Grund schien Amy nicht gewollt zu haben, dass er am Leben seiner Tochter teilnahm. Und doch war er jetzt hier und es half nicht, die Zeit mit sinnlosen Schuldgefühlen zu vergeuden. Sie mussten nach vorne schauen und tun, was für Imogen das Beste war.

»Du hast recht«, sagte Mrs. Bowman ernst. »Manche Kinder haben keinen Daddy. Aber du hast einen. Es war nur eine Überraschung! Dein Daddy hat heute von dir gehört und ist den ganzen weiten Weg zu uns gefahren, weil er sich freut, dich kennenzulernen.«

Imogen runzelte immer noch die Stirn. »Eine Überraschung?«, fragte sie ungläubig. Swift machte ihr keine Vorwürfe. Es war nicht einfach, eine so komplizierte Information zu verdauen.

Er nickte lächelnd. »Deine Mommy hat dich ganz allein großgezogen und das war richtig prima. Aber jetzt bist du groß und sie sagt, dass ich auch helfen kann! Ist das nicht toll?« Er krümmte sich innerlich.

Toll? Konnte man das zu einem Kind überhaupt sagen? Oder war das lahm?

Imogen neigte den Kopf zur Seite und wedelte mit ihrem langen Zopf. »Aber bist du auch ein guter Daddy?«

Swifts Mom entfuhr ein Lachen. Schnell schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Sie ist ein kleines Feuerwerk«, sagte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte.

Swift warf einen kurzen Blick auf Mrs. Bowman, die ihm zunickte. Es war, als wollte sie ihm Mut zusprechen: Du schaffst das!

Er beugte sich vor, legte die Hände zusammen und hoffte, einen freundlichen Eindruck zu machen. »Ich will der beste Daddy sein, der ich sein kann. Meinst du, das wäre dir recht?«

Imogen zog die Nase kraus. Sofort kam ihre rosa Brille wieder ins Rutschen. »Na gut«, sagte sie vorsichtig. »Aber wann kommt Mommy wieder heim?«

Swift hatte in dem langen Telefongespräch eine Kurzfassung der Geschichte gehört. Danach war er sofort ins Auto gesprungen, hatte seine Mom abgeholt und sich so schnell wie möglich auf den Weg nach Olympia gemacht. Amy hatte sich offensichtlich alle Mühe gegeben, für Imogen da zu sein. Deshalb waren die Behörden nicht schon früher eingeschritten. Doch dann schien ihr Alkoholismus die Oberhand gewonnen zu haben und ließ sich nicht mehr verbergen. Imogen war gut gekleidet und nicht unterernährt, doch die Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter gelebt hatte, war klein, schmutzig und ohne jeden Komfort.

Mrs. Bowman hatte entschieden, dass es an der Zeit war, für Imogen ein neues Zuhause zu suchen. Jedenfalls so lange, bis Amy aus dem Entzug zurückkam.

»Mommy musste für eine Weile verreisen«, erklärte Swift und gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen. »Möchtest du so lange zu Daddy kommen und bei ihm leben?« Das gute Gefühl, sich zum ersten Mal Daddy zu nennen, hielt nicht lange an.

Imogens Unterlippe zitterte. »Ich will zu meiner Mommy.«

Swift überlegte nicht lange. Er stand auf, kniete sich vor ihr auf den Boden und breitete die Arme aus. »Ich weiß, mein Schätzchen. Sie kommt in ein paar Wochen zurück. Ich verspreche dir, dass ich bis dahin ein guter Daddy sein werde.«

Imogen schniefte und ihre Brille rutschte gefährlich nach unten. Ganz vorsichtig, als wäre sie ein scheues Tier, streckte Swift die Hand aus und schob ihr die Brille wieder vor die Augen.

Imogen warf sich schluchzend in seine Arme. »Versprochen?«, fragte sie hicksend.

Er streichelte ihr über die Haare und biss sich auf die Lippen, weil er sich plötzlich überwältigt fühlte. Aber es würde alles gut werden. Er konnte das. »Pfadfinderehrenwort«, versprach er. Hoffentlich kannten Kinder heutzutage dieses Wort noch.

Glücklicherweise schien sie ihn zu verstehen und nickte. »Okay.«

Er stand auf, hob sie hoch und setzte sie auf seinen Schoß. »Schau nur«, sagte er fröhlich und zeigte auf seine Mom. »Das ist deine neue Oma. Und wie sie dich verwöhnen wird! Willst du sie begrüßen?«

Imogen schniefte wieder und musterte Swifts Mom. »Hi, Oma«, sagte sie leise.

Swifts Mom sprang auf die Füße und schlug die Hände zusammen. Tränen standen ihr in den Augen. Sie wollte Imogen nicht erschrecken, doch es fiel ihr offensichtlich schwer, das Kind nicht in die Arme zu ziehen und an sich zu drücken. »Mein erstes Enkelkind«, flüsterte sie überwältigt. »Und was bist du doch für ein liebes Mädchen. Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Imogen.«

Imogen rieb sich die Nase und nickte. »Okay«, sagte sie wieder. Hoffentlich würde sich ihr Misstrauen mit der Zeit legen. Wenigstens lief sie nicht schreiend davon. Für eine Fünfjährige war das alles nicht leicht zu verkraften, aber Imogen reagierte sehr gefasst.

»Also gut«, sagte Mrs. Bowman erleichtert und setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch. »Dann müssen wir jetzt noch einige Formalitäten erledigen, Mr. Coal. Anschließend können sie sich wieder auf den Weg machen.«

»Hat Imogen Gepäck?«, erkundigte sich Swifts Mom. »Kleidung oder Spielsachen?«

»Oh. Das ist eine gute Frage«, sagte Swift. Er hätte selbst daran denken sollen.

Mrs. Bowman nickte. »Ja, richtig. Jenny? Kannst du Miss Dillards Gepäck bringen?« Jenny musste die Mitarbeiterin sein, die sich um Imogen gekümmert hatte. Eine Minute später kam sie durch die Tür ins Büro. In einer Hand hatte sie einen abgewetzten rosa Koffer. Er hatte einen kleinen Schlüsselanhänger mit einer Meerjungfrau.

In der anderen Hand hatte sie eine Transportbox mit einer Katze.

»Oh«, sagte Mrs. Bowman schuldbewusst. »Da ist noch eine Sache, über die wir hätten reden sollen.«

Imogen strahlte übers ganze Gesicht, drehte sich in Swifts Armen nach Jenny um und streckte die Arme nach ihr aus. »Butter! Komm zu mir, mein Baby!«

Swift zog die Augenbrauen hoch und sah Mrs. Bowman an. Sie seufzte nur.

»Besorgen Sie sich einen Vorrat an Pflastern«, sagte sie.